Am Grünen Tisch
Einfach gestrickte Interpretation
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| Donnerstag, 9. Februar 2006Die Strafe gegen die Türkei wird von vielen Autoren als milde oder adäquat eingestuft. Kritisiert werden die Reaktionen eines Großteils der türkischen Öffentlichkeit – hier wollen sich Täter zu Opfern machen. Die Diskussion fällt auf den Resonanzboden des Karikatur-Streits. Im Sinne Hans-Joachim Leyenbergs (FAZ) bedeute das Urteil „heiliges Wasser auf die Gebetsmühlen konservativ-nationaler Kreise, die im Verdikt eine weitere Demütigung türkischer Interessen sehen. Bei dieser einfach gestrickten Interpretation bleibt kein Raum mehr für das Verursacherprinzip, keine Erinnerung an das Klima der Bedrohung und Einschüchterung, das der Schweizer Fußball-Delegation mit dem Betreten türkischen Bodens zu schaffen machte. Natürlich war vom Bosporus kein Beifall für den Urteilsspruch zu erwarten. Aber der heftige, zum Teil politisch motivierte Aufschrei ist ein abschreckendes Beispiel für Überreaktion. Im Augenblick geben die Selbstgerechten den Ton an und schüren damit das, was man gemeinhin als Volkszorn bezeichnet. Der Spruch von Zürich gereicht Brunnenvergiftern als Beleg für den ‚Kampf der Kulturen‘, den die Fifa mit ihren Mitteln anzettele. Da werden absichtsvoll zwei Felder miteinander vermengt, die nichts miteinander zu tun haben. Aber das Prinzip zeigt, wie man seit den Mohammed-Karikaturen weiß, Wirkung.“ Oskar Beck (StZ) ärgert sich über die Aussage und die Haltung des türkischen Sportministers: „Mehmet Ali Sahin geht populistisch vor. Und das, obwohl die Türken unerwartet glimpflich davongekommen sind. Kein Punktabzug, kein jahrelanger Ausschluss, nur ein blaues Auge. Doch statt froh darüber zu sein, wittert der Minister hinter den Fifa-Strafen ‚politische Hintergedanken‘ – geschmacklich fragwürdiger als dieses Verschwörungsgetue war im Fußball nichts mehr, seit vor Jahren im Nou Camp ein blutiger Schweinskopf den damaligen Real-Star Luis Figo beim Ausführen eines Eckballs nur knapp verfehlt hat. Jedenfalls bleibt, falls in Istanbul womöglich demnächst die ersten Schweizer Fahnen brennen, dann nur noch der Gang zum Weltsicherheitsrat der Fifa – damit nach Alpay und Emre auch der türkische Sportminister für sechs Spiele gesperrt wird. Außerdem wäre erschwerend zu überlegen, ob er seine Reden künftig vor leeren Tribünen halten muss – und zwar mindestens 500 Kilometer entfernt von jeder türkischen Fernsehkamera.“
Christian Zaschke (SZ) rügt die sehr harte Strafe gegen den Schweizer Benjamin Huggel als symbolische Sündenbockjustiz: „Dass die Strafe für die Türken hart ausfallen würde, war klar. Die Frage war, was mit den Schweizern passieren würde. Klar war auch, dass auf türkischer Seite die Empörung umso größer ausfallen würde, je milder die Schweizer bestraft werden würden. Nun wurde also der Platzsperre für die Türkei und den individuellen Strafen für einige Spieler die Sperre von Benjamin Huggel entgegengestellt. Die Strafe für die Türkei ist tatsächlich hart, scheint angesichts der Vorfälle aber angemessen. Huggel, gesperrt für sechs Punktspiele, verpasst hingegen nicht nur die WM 2006, sondern aller Voraussicht nach auch die EM 2008 in der Schweiz, da die Schweiz als Gastgeber ja keine Punktspiele zur Qualifikation austragen muss. Das erscheint unverhältnismäßig hart; es sieht so aus, dass ein Einzelner leidet, damit auf beiden Seiten eine Unzufriedenheit herrscht, die, auf diese Weise hergestellt, kein gutes Zeichen ist.“
taz: In Istanbul kochen die Emotionen hoch, gemäßigt reagieren die Schweizer
SZ: Soldaten sollen Spielstätte schützen – das Verteidigungsministerium plant, bei der WM 2000 Soldaten einzusetzen, Spezialeinheiten sollen die Spielorte vor Angriffen mit biologischen oder chemischen Kampfstoffen schützen