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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Trübe Aussichten

Oliver Fritsch | Mittwoch, 1. März 2006 Kommentare deaktiviert für Trübe Aussichten

Michael Horeni (FAZ) bedauert, daß Deutschlands Sieg im Turiner Medaillenspiegel als Stimmungsimpuls für die Fußballnation verpuffe: „Dieses Ergebnis, das in einigen Blättern Europas als deutsches Aufbruchsignal über den Sport hinaus gedeutet wird, hat jedoch in Deutschland nicht gereicht, um riesige Schlagzeilen zu produzieren oder Wellen der Begeisterung durchs Land zu schicken. Der deutsche Skeptizismus, der in Turin keinen Platz fand, hat dafür ein weit lohnenderes Ziel ausgemacht: den Zustand der Nationalmannschaft einhundert Tage vor dem WM-Eröffnungsspiel. Der allgemeine Befund ist eindeutig: Krise. Die Aussichten: trübe. (…) Große Zuversicht stellt sich vor dem anspruchsvollsten Testspiel im WM-Jahr auch keineswegs von selbst ein. Ob in Abwehr, Mittelfeld oder Angriff – überall wimmelt es von Wackelkandidaten, die in ihrem Klub entweder auf der Ersatzbank sitzen, noch weit von der WM-Form entfernt sind oder sich nach Verletzungen erst wieder an ihre Form und Fitness heranarbeiten müssen.“

FR: Deutschland spielt heute Fußball, und selten zuvor war die Ungewissheit so groß

Ringermanier

Markus Völker (taz) hält Christian Wörns‘ Spiel für gestrig: „Wörns ist ein Spieler, den das Team nicht braucht. Manch einer hielt die Berufung der Altnationalen Wörns und Hamann in den Kader für den größten Fehler, den Klinsmann in seiner Amtszeit begangen habe. Ganz so verwerflich war der Test der beiden sicher nicht. Widersprüchlich wirkte er dennoch, da Klinsmann konsequent verjüngen wollte. Wörns hat nun seine Chance gehabt – und sie vor allem gegen die Niederlande gründlich verpatzt. Gegen Arjen Robben wirkte er überfordert, langsam, wenig wendig, im Spiel nach vorn unschlüssig. Er mag ein paar Kniffe drauf haben, den gegnerischen Stürmer in Ringermanier bearbeiten können, in der Viererkette, wie Klinsmann sie interpretiert, sind hünenhafte, raumorientierte Abwehrrecken gefragt. Manndecker, die dem Stürmer bis ins Mittelfeld nachlaufen, passen nicht in dieses System.“

Indirekte Position

Michael Horeni (FAZ) schildert den Zwiespalt Christoph Metzelders: „Er befindet sich sogar in akuter Gefahr, mit einem unbedachten Wort zwischen die Fronten zu geraten. Denn auf der einen Seite stehen ‚meine Mannschaftskollegen und guten Freunde‘ Wörns und Kehl sowie die gesamte Führung von Borussia Dortmund – auf der anderen die Nationalmannschaft mit ihrem Anführer Klinsmann. Seine zweite Heimat. Und gegen Familienmitglieder muß niemand aussagen. Das steht sogar im Gesetz. Metzelder spricht also über sich. Er sendet ‚Ich‘-Botschaften, wie Kommunikationsexperten es nennen würden. (…) Je länger Metzelder über seine Einstellung spricht, über sein Verständnis einer professionellen Haltung, desto klarer bezieht er damit auch indirekt Position gegen den ihm nur in Dortmund, nicht aber international vorgesetzten Wörns. Bei allem ‚Egoismus‘ denke er auch immer an das Wohl der Mannschaft. Hart an sich arbeiten und immer an die Mannschaft denken – diese Einstellung kommt Klinsmanns Team-Philosophie schon ziemlich nahe. Und das System, das der Bundestrainer mit der Viererkette spielen läßt, ebenso.“ Deutsche Abwehr? Matti Lieske (BLZ) denkt laut: „Aller Voraussicht nach werden sich Per Mertesacker und Robert Huth als Innenverteidiger im Wirbel des italienischen Dreiersturms wiederfinden. Sollte die Sache schief gehen, ist guter Rat teuer. Metzelder, Sinkiewicz? Außer Form! Friedrich? Als Berliner hochgradig platzverweisgefährdet! Wörns? Implodiert! Gallas und Carvalho? Für eine Einbürgerung zu spät. Ismaël? Abgeblitzt! Bleibt eigentlich nur noch, nun ja, Jens Nowotny! Im Zweifelsfall klagt er sich ein.“

FR: Das im Vergleich zu Dortmund weniger mann- und mehr raumorientierte Deckungsverhalten der Nationalmannschaft komme Metzelders Spielweise entgegen
Interview mit Metzelder (geführt vom Player, veröffentlich auf Spiegel Online): „Ich sitze zwischen den Stühlen“

SZ: Während sich die Deutschen aufs Länderspiel vorbereiten, scheint Michael Ballacks Wechsel nach London bevorzustehen

Verkörperung der feinen fußballerischen Elite

Dirk Schümer (FAZ) beschreibt Stil und Garderobe des italienischen Trainers und vergleicht ihn mit dem deutschen: „Marcello Lippi ist als Typ das ziemliche Gegenteil von seinem Kollegen Jürgen Klinsmann. Während der kalifornische Schwabe als ungestümer Reformer den Betrieb aufrüttelt und immer wieder aneckt, wirkt der grauhaarige Lippi wie ein ‚Elder Statesman‘ des Fußballs: stets perfekt gekleidet, ruhig und gelassen, zuweilen mit einem Zigarillo zwischen den Lippen, verkörpert der Toskaner die feine fußballerische Elite, seit er mit Juventus Turin in den neunziger Jahren nationale und europäische Titel sammelte. Um diese schöne Tradition fortzuführen und dabei nicht mit den eitlen und mächtigen Vereinsfunktionären in Konflikt zu geraten, hat man Lippi fürs Nationalteam verpflichtet. Vor dem wegweisenden Testspiel hat er denn auch gar nicht erst versucht, einen Hockeytrainer anzuheuern, sondern seinen verdienten Veteranen Ciro Ferrara, ebenfalls von Juventus Turin, als ‚technischen Berater‘ für die harten Tage in Deutschland verpflichtet. (…) Die deutschen Spieler werden Bekanntschaft mit einer neuen Spielergeneration machen. Ein Stürmer wie Luca Toni wurde darum zum Star, weil er in Florenz nicht so viel internationale Konkurrenz vorgesetzt bekam und regelmäßig Treffer erzielte. Ähnliches gilt für hoffnungsvolle Kräfte im Defensivbereich wie Cristian Zaccardo und Fabio Grosso (beide Palermo) oder Daniele De Rossi (AS Rom) – wobei aber ungewiß ist, ob sie sich in der Formation der WM-Spiele letztlich gegen die mächtige Lobby der reichen Mailänder und Turiner Vereine durchsetzen werden. Lippi hat sich erst gestern die Einmischung von Managern, Beratern und Medien noch einmal mit deutlichen Worten verbeten. Bei soviel Konkurrenzkampf seiner Ragazzi kann es der ‚commissario tecnico‘ auch mitnichten gutheißen, daß sich Klinsmann – einst Stürmerstar bei Inter Mailand – unlängst despektierlich über den unattraktiven italienischen Defensivfußball geäußert hat. Klinsmann habe aus der Distanz doch überhaupt keine Ahnung – dieses Dementi wirkte für Marcello Lippis noble Verhältnisse schon fast wie ein Wutausbruch.“

Verwundert und überrascht

Gregor Derichs (StZ) fügt an: „Mit Verwunderung blicken die Italiener nach Deutschland. Dass ein Spieler einen Nationaltrainer in derart scharfer Form attackiert, ist in Italien praktisch unvorstellbar. Denn Fußballtrainer genießen eine hohe Autorität und sind hoch geachtete Persönlichkeiten im Land. Besonders Marcello Lippi gilt als ausgesprochen starke Charakterfigur, der von seinen Spielern geschätzt wird. Allerdings reagierten die Italiener bereits im Sommer 2004 überrascht darauf, dass der DFB in Klinsmann einem Trainernovizen die Geschicke der Nationalelf anvertraute. In Italien trägt man dieses Amt erfahrenen Fußballlehrern an, die bei großen Vereinen mit Erfolgen ihr Können im Umgang mit den Profis unter Beweis gestellt haben.“

Wer italienischen Fußball unter Catenaccio einordnet, sollte sich Gedanken über seine fachliche Qualifikation machen

Lippi im Interview mit Birgit Schönau (SZ)
SZ: An welches Spiel der beiden Länder erinnern Sie sich besonders?
Lippi: Wenn es für uns Italiener überhaupt ein Match gibt, dass sich in unserem Gedächtnis festgebrannt hat, dann ist das Italien-Deutschland 4:3 in Mexiko 1970. Eine Legende unseres Fußballs. Inzwischen sind nach Italia-Germania-quattro-a-tre sogar Fernsehsendungen benannt, es gibt aber auch Theaterstücke, und es gab einen Kinofilm.
SZ: Es ist interessant, dass Sie spontan an Mexiko 1970 erinnern und nicht an Spanien 1982, das WM-Finale, in dem Italien seinen bislang letzten Titel gewann.
Lippi: Naja, Italien hat 1982 ja nicht gegen Deutschland den Titel gewonnen. Weltmeister wurden wir gegen Brasilien und Argentinien. Nachdem wir uns gegen diese Gegner durchgesetzt hatten, waren wir nicht mehr aufzuhalten. Ja, im Finale spielten wir gegen Deutschland. Aber das war nicht mehr so wichtig.
SZ: Welcher ist heute der größte Unterschied zwischen der deutschen und der italienischen Nationalmannschaft
Lippi: Es gibt da keinen großen Unterschied mehr.
SZ: Die Deutschen lieben Italien, aber den italienischen Fußball mögen sie überhaupt nicht. Sie verbinden ihn immer noch mit Catenaccio, dem gefürchteten Abwehrbollwerk. Sind Sie einverstanden?
Lippi: Wer italienischen Fußball heute noch unter Catenaccio einordnet, sollte sich ernsthaft Gedanken über seine fachliche Qualifikation machen. In den vergangenen zehn Jahren haben italienische Mannschaften wie der AC Mailand und Juventus Turin die europäische Bühne dominiert und auch einen großen Teil der Nationalmannschaft gestellt, die ganz bestimmt keinen Defensiv- und Konterfußball alter Schule gespielt haben. Wenn der Ruf des italienischen Fußballs nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa gelitten hat, hängt das mit anderen Schwächen zusammen.
SZ: Welche meinen Sie?
Lippi: Ach, ich meine die Ungezogenheit, die wir manchmal immer noch auf den Platz bringen. Das schlechte Benehmen der Fußballer gegenüber den Schiedsrichtern, ihre übertriebene Fallsucht. So etwas hat uns einen schlechten Ruf beschert, auch wenn wir nicht die einzigen sind. Aber ich arbeite daran, dass sich das ändert. Ich versuche, meinem Team klar zu machen, dass wir uns exemplarisch benehmen müssen. Nicht nur für unser Ansehen im Ausland, sondern auch für meine Bilanz. Wenn man bei einem internationalen Turnier nur sieben Einsätze hat, kann man nicht darauf bauen, dass der Schiedsrichter ein Auge zukneift wie zu Hause in Italien und damit womöglich eine Sperre riskieren. (…)
SZ: Finden Sie nicht, dass das Gewicht des Fußballs in der Politik Ihres Landes ebenso übertrieben ist wie die Einmischung der Politik in den Fußball?
Lippi: Es ist übertrieben bei uns, weil wir dazu neigen, in allen Bereichen die Emotionen zu übertreiben. Das ist ja auch nichts Neues. Als 1948 Gino Bartali die Tour de France gewann, bedankte sich sogar der Papst bei ihm, weil der Enthusiasmus der Italiener über Bartalis Sieg angeblich den Volksaufstand verhindert hatte, der nach einem Attentat auf den kommunistischen Führer Togliatti unweigerlich losgebrochen wäre.
SZ: Der Kommunist Togliatti war ein Fan von Juventus. Sie selbst arbeiteten als Juve-Trainer für die Fiat-Dynastie Agnelli, also das Symbol des italienischen Kapitalismus. Dabei haben Sie aus ihren sozialistischen Überzeugungen nie einen Hehl gemacht.
Lippi: Das stimmt. Ich bin ja immer Sozialist gewesen und bin es heute noch.
SZ: Wie meinen Sie das? Es gibt inzwischen zwei oder drei sozialistische Parteien, die einen paktieren mit Berlusconi, die anderen mit der Opposition…
Lippi: Die meine ich alle nicht. Wenn Sie ein Wörterbuch der italienischen Sprache zur Hand nehmen und unter ’socialismo‘ nachschlagen – was da steht, diese Ideen, das ist es. Damit identifiziere ich mich sehr. Das sind die Lebensideale, die ich immer verfolgt habe. Und das waren auch die Ideale meines Vaters.
SZ: Ihr erster Verein hatte einen vielsagenden Namen…
Lippi: Stella Rossa Viareggio (Roter Stern), genau. Also mein Vater war gegen die Mächtigen. Er und seine Freunde schimpften in der Kaffeebar auf die Padroni, die Herren Italiens. Und deshalb hasste er natürlich auch Juventus, denn dieser Verein gehörte damals wie heute den Agnelli. Fantastische Menschen übrigens, Gianni und Umberto Agnelli. Von einer unglaublichen Einfachheit, Demut und Grandezza. Bitte schreiben Sie das, es ist mir ein Anliegen. Und jetzt zurück zu meinem Vater. Als ich den Vertrag mit Juve unterschrieben hatte, war er leider schon gestorben. Ich ging aber zu seinem Grab, ich wollte ihm das erzählen. Ich habe ihm gesagt: Papà, es tut mir Leid, aber ich arbeite jetzt für Juve. Ich bin überzeugt, dass du trotzdem zufrieden mit mir wärst. Wenn du noch leben würdest, könntest du deine Meinung ändern.

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