WM 2006
Steigerungslauf
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| Donnerstag, 9. März 2006Felix Reidhaar (NZZ) läßt die Luft raus aus dem deutschen WM-Ballon: „Deutschland ist in Erwartung eines stürmischen Sommers. Seit Mitte 2000 braucht man zu dieser Prognose keine prophetische Gabe. Als unser nördliches Nachbarland in Zürich etwas überraschend den Zuschlag zur WM-Durchführung 2006 erhielt, geriet der Stand der Erregtheit in den Komparativ; daraus ist bis dato ein Steigerungslauf geworden, der sich an verschiedenen Beispielen ablesen lässt – am besten in der deutschen Publizistik. Kaum ein noch so kleiner Verlag, der nicht auf den fahrenden Fussball-Zug aufzuspringen versucht. Der Büchermarkt wird geradezu überschwemmt von Fussballthemen. Selbst renommierte überregionale Zeitungen hatten schon vor Jahresfrist anlässlich des Vorbereitungsturniers Konföderationen-Cup einen World Cup im Kleinformat zelebriert. Ein Wunder ist das nicht. Der Fussball ganz allgemein und der Profibetrieb im Speziellen boomen oberhalb des Rheins in einer Weise, die einem nüchternen Schweizer schon aus einer Art Missgunst heraus bissig-spöttische Bemerkungen abringen muss. Die hohe Identifikation mit dieser Ersatzreligion wird an den Besucherzahlen der Bundesliga verdeutlicht. Kein anderes europäisches Land, nicht einmal England, verzeichnet so gut gefüllte, mehrheitlich ausverkaufte Stadien. Die Zugkraft allein gibt nicht erschöpfend Auskunft über die Qualität. Sie gilt im internationalen Kontext als eher medioker und uninteressant, was die vergleichsweise bescheidene Nachfrage nach Bundesliga-Fernsehrechten im Ausland veranschaulicht. Weil das Niveau im deutschen Spitzenfussball also nicht über jeden Zweifel erhaben ist und Erfolge wie die Finalqualifikation an der letzten WM eher auf antizyklischer Entwicklung beruhen, sind vom Nationalteam unter dem schwarzen Adler nicht a priori Bocksprünge zu fordern.“