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Deutsche Elf

Bärendienst

Oliver Fritsch | Donnerstag, 9. März 2006 Kommentare deaktiviert für Bärendienst

Jens Lehmann hätte gute Chancen, schreibt Helmut Schümann (Tsp), „wenn Klinsmann nach Deutschland gekommen wäre zu dieser komischen Trainer-Zusammenkunft. Getagt wurde da ja eher nicht, mehr getafelt. Aber nun ist er nicht gekommen, hat damit Beckenbauer zur Hyperventilation getrieben und einen Sturm entfacht. Ob er sich jetzt noch frei entscheiden kann, wen er am 9. Juni in den deutschen Kasten stellt? Wohl kaum. Beckenbauer und seine Helfershelfer von der Bild haben sich längst auf Kahn festgelegt, dem gehört auch die Gunst der Mächtigen des FC Bayern München. Man kann sich vorstellen, was hier los sein wird, wenn Klinsmann auf Lehmann setzt, womöglich kommt noch jemand auf die Idee, den Papst um Fürbitte und Beistand anzuflehen. Klinsmann weiß das, auch in Kalifornien, eine freie Entscheidung hat er nun nicht mehr. Weswegen er sich und dem deutschen Fußball mit seinem Fernbleiben tatsächlich einen Bärendienst erwiesen hat.“

Gestörtes Verhältnis zu einigen Medienvertretern

Roland Eitel, Klinsmanns Berater, verteidigt ihn im Interview mit Spiegel Online: „Allgemein nimmt Klinsmann die sportliche Kritik an. Was den Workshop angeht, sah Klinsmanns Plan keine persönliche Teilnahme vor. Das hat auch nichts mit verletztem Stolz zu tun. Es gibt eine Aufgabenteilung, auch wenn diese für viele gewöhnungsbedürftig ist. Entscheidend ist, dass Klinsmann die Aufgaben erfüllt, die er für wichtig hält, und das sind in vorderster Linie sportliche Dinge. Die Wohnsitzdebatte ist unverständlich, er lebt schließlich nicht nur in Kalifornien, sondern hat auch eine Wohnung in Stuttgart. Das erwähnt niemand in der ganzen Debatte. Natürlich sieht das Konzept vor, dass Klinsmann immer häufiger in Deutschland ist, je näher die WM rückt. Es gibt aber keinen Grund vom Plan abzuweichen. Wenn er jetzt dauerhaft hier her zieht, wird doch gleich geschrieben, er habe seine Linie verloren. (…) Klinsmann will sich nicht von Terminen zermürben lassen, die nichts mit der sportlichen Vorbereitung der Mannschaft zu tun haben. Aimé Jaquet wollte es als Nationaltrainer Frankreichs bei der EM 1996 allen recht machen und hatte ein super Image. Das Team ist im Halbfinale ausgeschieden. Zwei Jahre später konzentrierte er sich ausschließlich auf den Fußball, hatte ein katastrophales Image – aber das Team wurde Weltmeister. (…) Es gibt sicher ein gestörtes Verhältnis zu einigen Medienvertretern. Das hat sich so über Jahre entwickelt. Da geht es vor allem um unsachliche Kritik. Nochmal: Kritik an der sportlichen Leistung ist in Ordnung. Aber einige Journalisten verfolgen ihn auf Schritt und Tritt, berichten über das Essen in der ersten Klasse auf dem Flug nach Kalifornien oder spekulieren über die Flugkosten. “

Symptomatisch

Reinhard Mohr (SpOn) fordert Erdung und Besinnung auf alte deutsche Werte: „Ausgerechnet dem kalifornischen Großkommunikator Klinsmann, mit modernsten wissenschaftlichen Kenntnissen ausgerüstet, gelingt es nicht, seine Absichten zu vermitteln und jene Begeisterung zu erzeugen, die nicht auf reiner Einbildung und manischer Selbstsuggestion beruht, sondern auf prüfbaren Tatsachen. Aber damit scheint Klinsmann symptomatisch für jenes Land zu sein, dem er so oft entflieht. Ein Land ohne wirkliche Leidenschaft, ohne Fußballfieber und echten WM-Groove. Das wahre Drama hierzulande sind 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag im Öffentlichen Dienst. Da schrillen die Ver.di-Trillerpfeifen. Andererseits können ein paar fehlende Feuerlöscher im WM-Stadion schon echte Depression auslösen. Die Stiftung Warentest – das ist Deutschland. Stattdessen aber wäre eine weitere alte deutsche Tugend gefragt, die freilich stets im Kampfe lag mit romantisch verklärter Sehnsucht und irrationaler Selbstverblendung: Ein engagierter Realismus. Gerne auch: Gesunder Realismus, gepaart mit einem kräftigen Schuss Optimismus. Das heißt: Genau hinschauen, überlegen, Fehlerquellen suchen und, wo möglich, beheben. Dann aber hoffen und kämpfen. Am Ende vielleicht sogar: Feiern. Deutschland muss weiß Gott nicht Fußballweltmeister werden. Aber es muss sich aus dem Schlepptau lähmender egomanischer Glaubensbekenntnisse lösen. So viel Mut müsste eigentlich aufzubringen sein. Auch das übrigens ein alter deutscher Wert.“

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