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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Drei deutsche Sorgen: Fußball, Amerika, Wetter

Oliver Fritsch | Mittwoch, 22. März 2006 Kommentare deaktiviert für Drei deutsche Sorgen: Fußball, Amerika, Wetter

Die Sport Bild hat Jürgen Klinsmann letzte Woche vorgehalten, das Ausland würde über den deutschen Fußball schon lachen. Stimmt! Nur: über wen und was denn, bitte schön? Über die Torwartfrage, Fitness-Training oder den Sportpsychologen? Nein, es ist die Hysterie über Klinsmanns Wohnsitz und seine Methoden, das einige internationale Zeitungen den Kopf schütteln macht: etwa den Economist, vielleicht das wichtigste Magazin der Welt; die FAZ zitiert heute daraus.

Diese Woche amüsiert sich die New York Times, das liberale Weltgewissen, köstlich, aber auch befremdet, über die Verbohrtheit des deutschen Fußball-Establishments: „Deutschland, Gastgeber der WM, gerät in Panik und fürchtet, sein Trainer sei ein ‚Baywatch‘-Blonder, der sich mehr um seinen Teint kümmert als darum, ein großes Fußballturnier zu gewinnen. Seit Jürgen Klinsmann Trainer der deutschen Nationalmannschaft geworden ist, verbringt er die Hälfte seiner Zeit mit seiner amerikanischen Frau und zwei jungen Kindern in Südkalifornien. Dieses transkontinentale Pendeln hat in den Deutschen drei ihrer beliebtesten Sorgen erweckt: Fußball, Amerika, Wetter. (…) Die Reformen des Weltbürgers Klinsmann, der vier Sprachen spricht, haben den Deutschen Fußball-Bund durcheinandergerüttelt, eine engstirnige und konservative Organisation, die Wechsel fordere und gleichzeitig fürchte, sagt Oliver Bierhoff. Deutschland sei gespalten zwischen denen, die Klinsmann verehren und denen, die Angst vor einer Amerikanisierung des deutschen Fußballs bekämen, fügt Andrei Markovits an, Professor für Germanistik an der Universität Michigan und Buchautor über Klinsmann und europäischen Antiamerikanismus. ‚Es ist ein Zusammenstoß zwischen Alt und Neu in Deutschland‘, sagt Markovits am Telefon. ‚Es gibt eine Kluft zwischen dem linksliberalen, städtischen Milieu, das Klinsmann mag, und den ‚echten‘ Kerlen, die sich in der Kneipe besaufen und ihn für eine Art Intellektuellen halten – mit amerikanischen Methoden und amerikanischer Frau.‘

Let’s go for it

Die USA werden in Deutschland noch immer als Fußballemporkömmling betrachtet. In den Augen von einigen Funktionären, Journalisten und Politikern könne das, was Klinsmann in der Neuen Welt gelernt hat, eine Altweltfußballmacht wie Deutschland nicht helfen. ‚Ich denke, den Deutschen mangelt es an Respekt für unseren Fußball‘, sagt US-Coach Bruce Arena und verweist auf das knappe 0:1 der USA gegen die Deutschen im WM-Viertelfinale 2002. Bei den traditionellen Fußballnationen spüre er generell Neid und Mißgunst gegen die stärker werdenden Teams aus Nordamerika, Afrika und Asien. Deutschlands Wetterwahn – und es ist sehr lange kalt in diesem Winter – könne die Unzufriedenheit mit Klinsmann verstärkt haben, vermutet Peter Zygowski vom Goethe-Institut San Francisco am Telefon. ‚Sie sind vollkommen besessen von Sonne und Strand, und was sie über Klinsmann in Kalifornien hören, läßt sie an Ferien und Faulenzen denken.‘ Doch Klinsmann liebt einfach nur das ungestörte Privatleben in den USA, das seinen Söhnen eine Entwicklung außerhalb seines großen Schattens ermöglicht. Außerdem reize ihn die ‚let’s go for it‘-Haltung der Amerikaner.

Klinsmanns Management provoziert: Er verbringt die Hälfte jedes Monats in Kalifornien und kommuniziert mit seinen Spielern über E-Mail und Telefon, ihre Spiele sieht er im Sattelitenfernsehen. Er würde ja das gleiche tun, wenn er in Berlin oder Rom leben würde, entgegnet er. Aber für Fußballfunktionäre seien E-Mail und Powerpoint amerikanischer Schickschnack, sagt Bierhoff, Klinsmanns ’second in charge‘. Und weiter: ‚Jeder seiner Vorschläge wird verdächtigt und beäugt.‘ Neulich wollten gar einige Politiker aus der zweiten Reihe Klinsmann zum Rapport bestellen und ihn tadeln. Markovits schmunzelt: ‚Das ist so, als würden wir Larry Brown vor den Kongreß zitieren, weil er aus Athen nur Bronze mit nach Hause gebracht hat. Absurd.‘ Das deutsche Team habe nicht die Fähigkeit Brasiliens oder Argentiniens, auch nicht die taktische Kultiviertheit wie die Italiener, räumt Klinsmann ein. Aber das Team sei in der Lage, sich vom großen Heimvorteil beflügeln zu lassen. ‚Die Wahrheit liegt auf dem Platz‘, sagt er. Wenn Deutschland die WM gewinnen sollte, wird Klinsmann erneut zur nationalen Ikone. Wenn es schiefläuft, prophezeit Markovits, werde Klinsmann in seinem Heimatland zu einer persona non grata: ‚Vielleicht dürfte er seine Verwandten besuchen, aber er müßte mit Schmähung rechnen. Ich würde mich ernsthaft um seine Unversehrtheit sorgen, wenn er im Viertelfinale ausscheidet.‘“

Das Wetter, in der Tat, scheint manchmal der gewichtigste Vorwurf zu sein, den die Bild-Zeitung und einige DFB-Greise Klinsmann machen. Neulich ist ihm ein Bild-Reporter, Focus-TV hat’s gesendet, in Kalifornien hinterhergeschlichen und wollte wohl Strand- und Surffotos oder so von ihm machen, hat ihn aber nur bei einem Behördengang „erwischt“. Welch eine langweilige Fotostrecke!

Mehr kann Klinsmann nicht tun

Sportmediziner Professor Heinz Liesen im Interview mit Annette Jacobs (stern.de)
stern.de: Was halten Sie von Klinsmanns Trainingsmethoden?
Liesen: Als Bundestrainer sieht er die Spieler in der Regel zwei bis drei Tage vor einem Länderspiel. Den Rest der Zeit sind sie im Vereinstraining. Da kann er ihnen das Fußballspielen nicht neu beibringen. Seit Jahren weiß man, wie wichtig Stabilisationstraining für die Fitness von Fußballspielern ist. Diese Trainingsform begründet sich auf Erkenntnissen aus der Hirnforschung. Sie schult gleichzeitig die Muskulatur und die Sinnesorgane. Jürgen wendet diese Form als Ergänzung zum üblichen Konditionstraining an. Er verlangt, dass bestimmte Übungen von den Nationalspielern auch zu Hause gemacht werden. Er bringt aus den USA Fitnesstrainer mit, die solche Übungen den Spielern so beibringen, dass sie Spaß machen. In anderen Sportarten ist das mittlerweile Gang und Gäbe. Mehr kann er nicht tun.
stern.de: Sie kennen Matthias Sammer sehr gut. Dadurch, dass Sie viele Jahre die Hockey-Nationalmannschaft betreuten, haben Sie auch engen Kontakt zu Bernhard Peters, der neben Sammer als DFB-Sportdirektor im Gespräch war. Ist Sammer die bessere Wahl?
Liesen: Es war sicher eine gute Entscheidung, Matthias Sammer zum Sportdirektor zu machen. Wir haben fünf Jahre lang sehr eng zusammen gearbeitet. Ich habe den BVB medizinisch betreut, als er dort Cheftrainer war und ihn nach Stuttgart begleitet. Er ist ein akribischer Arbeiter, ehrgeizig, zukunftsorientiert mit einem großen Herzen für den Nachwuchs. Matthias weiß, welche Fehler in der Nachwuchsförderung gemacht wurden und werden. Er hat noch das DDR-Nachwuchsförderungssystem erlebt und sieht bei seinem 11-jährigen Sohn die Probleme der Talentförderung. Er ist gegenüber kompetenten Partnern und neuen Erkenntnissen offen. Auch Matthias wird sich Anregungen aus anderen Sportarten holen. Sicher war die Situation um seine Benennung nicht sehr glücklich. Es gab einige Abstimmungsprobleme. Er war auch Wunschkandidat von Jürgen Klinsmann, Jogi Löw und Oliver Bierhoff, konnte sich aber lange nicht entscheiden, ob er erneut Trainer eines Bundesligavereins werden will oder ob er die Position des Sportdirektors beim DFB annehmen sollte.
stern.de: Hätten Sie auch Bernhard Peters den Job zugetraut?
Liesen: Für ihn wäre es nicht einfach gewesen, sich beim DFB zurecht zu finden. Das geht nur mit einem starken Jürgen Klinsmann und vielen Leuten, die hinter ihm stehen. Aber manches, was er im Hockey seit über 20 Jahren macht, ist das, was dem Fußball gut täte.
stern.de: Wie steht denn das DFB-Präsidium zu ihren neuen Ansätzen?
Liesen: Nicht alle verstehen, wovon wir sprechen und worum es uns geht. Aber das ist, denke ich, ein Generationenproblem oder auch nur ein Informationsdefizit. Wir werden aber zunehmend von Mitarbeitern des DFB wahrgenommen und akzeptiert. DFB-Präsident Zwanziger hält viel von unseren Ansätzen.
stern.de: Können Sie denn die Kritik an Klinsmann in den Medien nachvollziehen?
Liesen: Nur zum Teil. Einiges geschieht aus Unkenntnis. Aber es ist nicht gut, dass in den Medien schon vorher alles schlecht geredet wird.

Bruce Arena (SpOn): „Es ist schade, dass Klinsmanns Posten auf dem Spiel stehen soll. Ich verstehe nicht, was an modernen Methoden verkehrt sein kann. Wenn sein Job wirklich in Gefahr ist, finde ich das dumm und traurig. Ich kenne Jürgen aus persönlichen und beruflichen Situationen und habe einen riesigen Respekt vor dem, was er als Spieler geleistet hat und auch vor seiner Arbeit als Trainer. (…) Ihr alle, die Fans, die Medien, ihr legt ein viel zu großes Gewicht auf diese Vorbereitungsspiele.“

FAZ: Arena über Klinsmann: „Er ist ein brillanter Mensch, ein guter Mensch, er bringt eine andere Perspektive mit“
FR-Interview mit dem Team-Psychologen Hans-Dieter Hermann
FR: USA, der nett erzogene, noch schlafende Fußballriese
faz.net (Video): Spannung vor WM-Test
NZZ: Neues zur Thrombosegefahr im Flugzeug

Unterholz aus Mann- und Raumdeckung

Ein Taktikvorschlag von Christoph Biermann (SZ): „In der deutschen Defensive pfeift es zugig durch alle Ritzen. In Florenz konnte man alle Probleme sehen, die eine Viererkette an schlechten Tagen haben kann. Dass Klinsmann im Spiel agieren will, ist sehr erfreulich. Aber Fußballtrainer haben keine ästhetischen Konzepte oder taktischen Idealformationen zu verteidigen; zunächst müssen sie Spiele gewinnen. Niemand weiß das besser als Otto Rehhagel. Er ließ Traianos Dellas bei der EM 2004 eine Art Libero spielen. Rehhagel interessierte sich nicht für Ballbesitz und Initiative. Seine Mannschaft lockte ihre Gegner in ein Unterholz aus Mann- und Raumdeckung und dem Koloss Dellas als letzten Mann. Dann konterten die Griechen oder warteten auf Eckbälle und Freistöße. Schön war das nicht, aber Griechenland wurde Europameister. Klinsmann sollte sich nicht auf die Suche machen nach einem deutschen Dellas, aber wäre es nicht doch möglich, den Willen zur Initiative mit mehr Sicherheit in der Abwehr zu verknüpfen? Wie wäre es etwa mit der Umstellung der Abwehr auf einen Dreierblock, was auch der neuesten Mode in der Bundesliga entspräche? Am Wochenende traten sechs von achtzehn Mannschaften so an. Drei statt vier Verteidiger aufzubieten, bedeutet in den meisten Fällen, letztlich einen defensiv ausgerichteten Mann mehr auf dem Platz zu haben. Zwar stehen hinten nur drei Spieler, doch jene auf den Außenpositionen im Mittelfeld agieren deutlich defensiver, als wenn ein Verteidiger hinter ihnen spielen würde.“

Was muß ein Abwehrspieler tun, wenn ein Gegner im Mittelfeld unbedrängt den Ball spielen kann? Nach hinten laufen, den Steilpaß verhindern – das lernt man doch in jedem Sacchi-Video. Joachim Löw hat in der FR vom Montag den Fehler beim zweiten Tor der Italiener, das uns am meisten schockiert hat, benannt und uns beruhigt. „Deisler spielt im Mittelfeld einen Fehlpass. Das darf er zu diesem Zeitpunkt nicht machen, wir lagen ja schon 0:1 zurück. Aber jetzt ist ein italienischer Spieler am Ball, mit freiem Blick zu unserem Tor, kein Gegenspieler weit und breit. Das muss ein Signal für alle vier Abwehrspieler sein, sich sofort nach hinten fallen zu lassen. Wir aber sind auf einer Linie kurz hinter der Mittellinie stehen geblieben. Wenn der Gegner einen wunderschönen Pass spielen kann ohne Bedrängnis, dann muss ich als Abwehrspieler zurückweichen. Das sind elementare Dinge.“

Die besten sind nicht nominiert

Torwartfrage – Stefan Osterhaus (NZZ) stört sich daran, daß nur die Lauten gehört und gesehen werden; die Leisen und Guten hört und sieht man nicht: „Deutschland unterhält zu seinen Keepern eine ganz besondere Beziehung: Spätestens seit einer entschiedenen Intervention des Weltmeisters Toni Turek im Final von 1954 ist die Eins die sakrale Nummer. Noch immer gilt der Gemeinplatz, Deutschlands Keeper seien die besten der Welt. Und wie alle Legenden enthält auch diese einen Kern Wahrheit. Die Bundesliga versteht sich in Fang-Fragen als Familienbetrieb, in dem die nächste Generation schon zur Erbfolge bereitsteht, wenn die alte noch vollends auf der Höhe ist. In Lehmann und Kahn beanspruchen zwei nicht mehr ganz junge Männer das Prädikat Weltklasse. Sie tragen ihren Konkurrenzkampf mit derartig galliger Verbitterung aus, dass Jürgen Klinsmann einen der beiden in Quarantäne setzt, wenn ein Länderspiel ansteht. Womöglich wird Klinsmann dämmern, dass er die Gelegenheit verpasst hat, im Streit der Keeper für Ruhe zu sorgen. Beiden hätte er während der WM Ferien gönnen können, denn es herrscht nach wie vor kein Mangel an passablen Keepern im Land der Fänger. Die besten sind nicht nominiert: Frank Rost und Robert Enke, der zudem die in Turnieren keinesfalls unerwünschte Eigenschaft eines Penalty-Killers mitbringt. (…) Die stummen Klassemänner bestätigen die These, wonach in Deutschland ausgerechnet die nichts gelten, die ihren Job sachlich erledigen. Zwar gibt es Schlimmeres, doch es ist das Schicksal der sicheren sachlichen Keeper, dass ihre Fähigkeiten dem Publikum verborgen bleiben, dass die spektakuläre Parade wider einen Distanzschuss mehr gilt als ein abgefangener Konter, der todsicher gesessen hätte.“

Auf diesem Niveau wird Torwartspiel zur Geschmackssache

Christoph Kneer (SZ) hält die Torwartfrage für offen: „Vielleicht müssen sie beim Duden langsam darüber nachdenken, ob sie das Wort ‚Druck‘ nicht durch ‚Kahn‘ ersetzen. Wenn sie schon dabei sind, könnten sie sich vielleicht auch das Wort ‚Dinge‘ sparen, sie folgen in Kahns Rangliste knapp geschlagen auf Platz zwei. Die Dinge klingen besonders schön bei Kahn, er sagt sie immer mit einem hellen badischen ‚i‘. Der Dienstag ist wieder ein großartiger Tag gewesen für Kahn-Fans, zu denen zweifellos auch Kahn gehört. Der Druck der Dinge ist wieder allgegenwärtig jetzt, und besonders groß war dieser Druck, als jemand wissen wollte, ob er, Kahn, schon mal darüber nachgedacht habe, dass das Spiel sein letztes Länderspiel sein könnte. Kahn hat kurz gestutzt, weil die Frage ja wirklich überraschend klingt, aber er hat dann schon verstanden: ‚Nee, das sind überhaupt nicht meine Gedanken.‘ (…) Leicht haben es die beiden Keeper ihren Trainern nicht gemacht. Auf diesem Niveau wird Torwartspiel zur Geschmackssache, und es gibt nicht wenige, die Klinsmann und Löw einen latenten Hang zum moderneren Torwartspiel des Jens Lehmann unterstellen. Im Kern geht es um folgende zwei Fragen: Setzen die Trainer auf den mitspielenden Torwart Lehmann oder vertrauen sie dem Motivationsguru und WM-Experten Kahn, der immer einen praktischen Tunnel zum Aufblasen mit sich führt? Und können sie es wagen, den Herausforderer Lehmann zu nehmen, womit man wohl die Bayern-Lobby und Beckenbauers Bild-Zeitung gegen sich aufbrächte?“

FR: Alphatier Oliver Kahn ist wild entschlossen, die WM als Nummer 1 zu erleben
FAZ: entscheidende Runde im Psychoduell Kahn gegen Lehmann

Zum Kabinendienst wird heute die Welt eingeteilt – weil sie ein Sprachbild schief aufhängt: „Das Kreuzfeuer der Kritik ist ein wenig leiser geworden“, heißt es dort über die Stimmung vor dem Spiel gegen die USA. Wir glauben: Das schlägt dem Faß den Boden ins Gesicht, aber auch über diese Wunde wird noch Gras wachsen.

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