indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Fangfehler

Oliver Fritsch | Samstag, 8. April 2006 Kommentare deaktiviert für Fangfehler

Vorab die Meldung des Tages: Die ARD sendet keinen Brennpunkt über Jürgen Klinsmanns Torwartantwort. Aber es ist das freistoss-Thema: Oliver Kahn, die Medienmacht und seine tatsächliche sportliche Leistung – daher eine persönliche Notiz. Auch wenn ich mich wiederhole, Kahn war selten so gut wie sein Ruf. Selbst der „Titan“ der WM 2002 ist ein Märchen, ein Märchen der Bild-Zeitung, an dessen Zauber selbst die nüchternsten Schreiber glaubten. Es heißt ja immer, Kahn hätte die deutsche Mannschaft alleine ins Endspiel gebracht; sein Fehler im Finale sei tragischerweise sein einziger gewesen. Das stimmt nicht. Ich hab leider keine Bildrechte, sonst hätte ich schon längst ein Video veröffentlicht. Wer aber die Möglichkeit hat, der schaue sich noch mal die erste Halbzeit gegen Kamerun an: zwei grobe Fehler. Oder das Viertelfinale gegen die USA: Nach einigen tollen Paraden ließ Kahn einen sehr leichten Ball durch die Hände gleiten, Torsten Frings stoppte ihn auf der Linie mit der Hand, was der Schiedsrichter übersah. Es waren drei schlimme, aufgepaßt, Fangfehler! „Anscheinend hat Kahn Probleme, den neuen, kleinen Ball festzuhalten“ – meine Standardsorge und gleichzeitig -prognose des Turniers. Das Ding gegen Ronaldo hat mich nicht überrascht. Ich hätte allerdings gerne unrecht behalten, zumal ich mich selten in meinem Leben so alleine fühlte wie mit meiner Kahn-Kritik.

Daher war ich ein wenig erleichtert, einige Wochen später von Christian Eichler in der FAZ zu lesen: „Kahn kann ja nichts für seine Überhöhung, er profitiert von seinem Stil. Wie anderswo im Berufsleben gibt es auch im Tor die anderen Typen, die ein Problem abwenden, bevor es andere merken, die den entscheidenden Schritt machen, bevor alle hinschauen, und bei denen der sichtbare Teil der Rettungsaktion dann ganz einfach aussieht. Kahn kann auch das, doch vorrangig ist er ein Vertreter der anderen Torwartschule, der spektakulären, deren Taten oft wie das Halten des Unhaltbaren aussehen.“ Das ist natürlich alles andere als ein Kompliment – weder für den Torhüter noch für die Experten, gilt doch ein sachlicher Torwartstil, also Kahns Gegensatz, als die hohe Kunst. Überhaupt habe ich den Eindruck, daß sich deutsche Sportjournalisten, besonders im Fernsehen, sehr schwer tun, das Torwartspiel zu analysieren.

Tabu

Mehr Vergangenheit: Kann ein Weltklasse-Torhüter nicht auch den zweiten Treffer Ronaldos, einen Schieber mit dem Innenrist aus 16 Metern, verhindern? Hat es je eine schlechtere Torhüterleistung gegeben als beim 1:5 gegen England? Zu seiner Ehrenrettung, Kahn war übrigens sehr selbstkritisch nach diesem Spiel. All die großen Fehler seit der WM – die meisten in wichtigen Partien: gegen Roberto Carlos (Real), gegen Ibrahimowitsch (Juventus), gegen Kevin Kuranyi (VfB), gegen Ivan Klasnic (Werder Bremen), gegen Steven Cherundolo (USA), gegen Guy Demel (HSV), gegen Albert Streit (Köln) und all die mißlungenen Versuche und die vielen Verweigerungen, Flanken zu pflücken, etwa das 1:2 Nigel de Jongs (HSV) im März. Kahn scheint manchmal an seinem Tor festgebunden.

Warum überhaupt diese alten Geschichten? Das ist kein Nachtreten, sondern Grundlage meiner Medienkritik. Recht verstanden: Kahn hat 2002 ein sehr gutes Turnier gespielt, teilweise überragend, er hat Kraft und Selbstbewußtsein auf die Elf ausgestrahlt. Doch seine Erhöhung durch die Medien hatte mindestens drei negative Folgen: Erstens führte es dazu, daß er selbst an seine Unangefochtenheit glaubte. Zweitens war es eine Herabsetzung der Mannschaftskollegen. Ist es Zufall, daß die damaligen Leistungsträger Michael Ballack, Bernd Schneider, Oliver Neuville, Torsten Frings nicht bei Bayern München spielten? Drittens entstand das Tabu, Kahn in Frage zu stellen. Ein Bayern-Fan und guter Freund hat mir mal ernsthaft „Unsachlichkeit“ vorgeworfen, weil ich es in einer Diskussion gewagt habe, Kahn als „guten“ Torhüter zu bezeichnen – und nicht als Torwartgott oder was er für angebracht hält.

Lehmann-Lobby?

Tabus sind immer schlecht, und es mußte ein mutiger Trainer wie Klinsmann kommen, diesem Tabu zu mißtrauen. Nun werfen ihm einige Journalisten schlechten Stil und Geklüngel vor. Klinsmanns und Lehmanns gemeinsamer Anwalt und die Freundschaft Bierhoffs zu Lehmann hätten die Entscheidung beeinflußt. Vielleicht ist was dran, sehr stichhaltig klingt das nicht. Es stimmt ja, der Manager der Nationalmannschaft hat als Experte im Fernsehen nichts zu suchen, das ist uns am Mittwoch bei SAT1 vor Augen geführt worden. Aber soll das jetzt die Lehmann-Lobby sein? Und bitte auch Franz Beckenbauer mit gleicher Elle messen! Dieses „Expertentum“ im Fernsehen schadet dem Journalismus und dem deutschen Fußball.

Daß ein deutscher Bundestrainer darüber stolpern könnte, den besseren Torhüter aufzustellen und nicht den mit den stärkeren Freunden, sollte uns innehalten lassen. An diesem bedenklichen Zustand tragen auch viele Journalisten eine Teilschuld; diejenigen, die Klinsmann jetzt Kalkül in der Wahl des Zeitpunkts vorhalten; diejenigen, die 2002 nicht richtig hingekuckt und ein Tabu zugelassen haben.

Schonung

Noch tiefere Vergangenheit: All die Roten Karten, die Kahn in seiner Karriere hätte kriegen müssen – Stichworte: Brdaric, Klose, Möller, Herrlich, Chapuisat, diese unerträglichen Dominanzgesten. Dank seines Trikots ist er immer verschont geblieben. Ja, die Schiedsrichter waren am Aufstieg Kahns kräftig beteiligt. Von wegen, Deutschland hatte keinen Schiedsrichterskandal in der Bundesliga. Vor ein paar Jahren hat Borussia Dortmund in Bayern gespielt, und Giovane Elber hat Lehmann, damals im Tor des BVB, mit aller Kraft gegen den Kopf getreten – mit Absicht. Elber sah nur Gelb, Lehmann wurde im selben Spiel wegen Lappalien mit Gelb-Rot des Feldes verwiesen. Eine bittere Ungerechtigkeit und nur der Höhepunkt!

Lehmann im WM-Tor und nicht Kahn, sportlich, daran zweifelt kaum ein Bayern-Fan, die richtige Entscheidung. Und, auch wenn Klinsmanns Stil meinetwegen fraglich ist – ich kann seit gestern freier atmen. Nicht wegen irgendwelcher Sympathien für einen Menschen oder einen Verein; das zählt nicht. In der deutschen Elf gilt das Kriterium, daß die Besten spielen. Der Trainer stellt die Mannschaft auf, nicht Franz Beckenbauer und die Bild-Zeitung.

Auch muß ich vor meiner Tür kehren: Im vergangenen Herbst hab ich in den 11 Freunden meine Kolumne mit den Worten eingeleitet: „Oliver Kahn wird 2006 deswegen im Tor stehen, weil er die besseren und mächtigeren Fürsprecher hat als seine Kontrahenten.“ Da hab ich mich zu weit aus dem Fenster gelehnt.

Die Pressestimmen

Ein mutiger Schritt

Peter Riesbeck (BLZ) kommentiert Klinsmanns Torwartwahl: „Der Titan ist gestürzt. Aber er fällt nicht allein. Mit Kahns Fall verschieben sich die Machtverhältnisse im deutschen Fußball. Viele versuchten Kahns Sturz zu stoppen: Franz Beckenbauer, der Weltmeister als Spieler, der Weltmeister als Trainer und der Weltmeister-nach-Deutschland-Holer – kurz der Weltkaisermeister des Sports. Der FC Bayern München und seine Granden Uli Hoeneß und Karl-Heinz-Rummenigge, ohne die im deutschen Profi-Fußball nichts geht. Der mächtige Sponsorenpool des deutschen Fußballs; jene Bierbrauer, Telefonfirmen, Trikothersteller und Autobauer, die allesamt ihre teuren Werbespots mit Kahn als Nummer 1 eingespielt hatten und die ihre Clips nun einstampfen können. Und natürlich die Bild-Zeitung, die über ihre Stimmungsmache Karrieren befördert oder Trainer exekutiert, und die einst während der WM 2002 die Zeile erfand: ‚Kahnsinn‘. Der Kahnsinn hat nun ein Ende. Ein mutiger Schritt. Aber so viel Umsturz wird Klinsmann nicht überleben. Nicht einmal für den Fall, dass er das deutsche Team zum Titel führen sollte. Nicht nur der Fußball, auch das Land verweigert sich dem notwendigen Neuen. Klinsmann bleibt immer noch Huntington Beach. Das Land aber wartet treppaufwärts weiter auf Reformen.“

Stilfrage

Klaus Hoeltzenbein (SZ) wirft Klinsmann schlechten Stil vor: „Bliebe da nicht der Verdacht, dass der Thronsturz des Oliver Kahn lange eingefädelt wurde, dass die Erosion des Titanen einem ausgeklügelten Plan folgte, der mit der Wegnahme der Kapitänsbinde begann und bei dem am Ende lange nur die Idee zur Lösung fehlte. Also der Tag, um Vollzug zu verkünden. Und da hat das Team Klinsmann, aus seiner eigenen Perspektive, einen diabolisch guten Zeitpunkt erwischt: jene Woche, in der Jens Lehmann überzeugte, und in der Kahns Arbeitgeber laut eine sofortige Entscheidung forderte. Das ist fast genial, sauber ist es kaum, koordiniert ist es offenbar nicht. Das Team Klinsmann ist auf einem Solotrip. Ob nun die fehlgeschlagene Installation des Hockey-Trainers Peters, Klinsmanns Fernbleiben beim Treffen aller WM-Trainer oder die Vorladung des Torwarts Kahn per kühler SMS – mit den Stilfragen scheint diese Expedition die größten Probleme zu haben. Als er beim DFB antrat, sagte Klinsmann, man müsse den ganzen Laden auseinander nehmen. Jetzt hat man eine Vorstellung davon, was gemeint sein könnte.“

Instinktlos

Auch Roland Zorn (FAZ) rügt das Wann: „Die Entscheidung ist verständlich, der Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe ist es nicht. Daß Klinsmann sich einen Tag vor dem Gipfeltreffen zwischen Werder Bremen und dem FC Bayern München dazu entschlossen hat, Jens Lehmann zum Nationaltorwart zu befördern und den langjährigen Platzhirschen Oliver Kahn zum zweiten Mann zu degradieren, kann nicht anders als instinktlos bewertet werden. Als wäre er nicht selbst ein sensibler Spitzensportler gewesen, befrachtete Klinsmann den in letzter Zeit erkennbar seelisch belasteten und körperlich leidenden Münchner mit einer weiteren Bürde. Ein solches Procedere gehört sich nicht, wenn auch im Profifußball noch so etwas wie die Gesetzmäßigkeiten des Fair-play gelten sollen. Klinsmanns Vorgehen wird – dazu gehört keine Phantasie – noch die entsprechend wuchtige Reaktion der Bayern zur Folge haben. (…) Sein Agieren wirkt wie das eines Getriebenen. Letztlich ist Klinsmann von seinem Weg abgewichen. Souveränität sieht anders aus als das Handeln dieses Trainer-Neulings, der in letzter Zeit ein paar Fehler zuviel beging.“

Passt

Stefan Hermanns (Tsp) rechnet mit der Rache der Kanalarbeiter: „Klinsmanns Feinde vom Boulevard werden nun ein paar Tage lang die alten Verschwörungstheorien bemühen: Dass Klinsmann ein Killer sei; dass er Kahn, die bis dato unumstrittene Nummer 1, mit dem Konkurrenzkampf absichtlich demontiert und wissentlich in eine sportliche Krise getrieben habe; dass auch persönliche Gründe eine Rolle gespielt hätten, weil nämlich Lehmann einst – wie Klinsmann – vom Schweizer Anwalt André Gross beraten wurde und Oliver Bierhoff seit Jahren schon ein guter Freund des Torhüters ist. Klinsmann hat in der Tat seit seinem Amtsantritt eine latente Vorliebe für Jens Lehmann erkennen lassen. Doch die hat wenig mit persönlicher Sympathie zu tun – so viel Fachverstand sollte man selbst dem Berufsanfänger Klinsmann zugestehen. Lehmann passt mit seiner Interpretation des Torwartspiels besser in die Philosophie des Bundestrainers. (…) Oliver Kahn hat eine Art innere Emigration gewählt, um seine Sonderstellung zu dokumentieren. Ein Kenner der Mannschaft hat einmal gesagt: Wenn die Spieler offen abstimmen müssten, wer bei der WM im Tor stehen solle, würden sie sich für Kahn entscheiden. Bei einer geheimen Wahl fiele das Votum wohl für Jens Lehmann aus.“

Überhöhung

Jörg Hanau (FR/Seite 3) blickt zurück auf den Ausgangspunkt des Niedergangs: „King Kahn war nach der Weltmeisterschaft nicht mehr derselbe. Selbst gute Freunde attestierten dem Superstar im deutschen Tor einen nicht zu übersehenden Realitätsverlust. Die mediale Überhöhung wirkte auf die Psyche dieses Mannes, der den Aufstieg von der Leit- zur Kultfigur nicht ohne Folgen überstand. Der Superman im deutschen Tor verlor nicht nur mental die Bodenhaftung, sein Hunger nach Leben trieb den ehedem vorbildlichen Profi in eine gelegentlich bizarr anmutende Metamorphose. Aus dem Börsenfreak, der im Fernsehen Ende der 90er Jahre über Geldanlagen dozierte, als handele es sich dabei um ein Elfmeterschießen, war über Nacht ein Lebemann geworden. Einer, der glaubte, alles nachholen zu müssen, was ihm in seinen sportlich so überaus erfolgreichen Jahren zuvor versagt geblieben war. Er zwängte seinen muskulösen Körper in flippige Klamotten, wechselte den Frisör und die Frauen. Kahn eroberte das Nachtleben, verließ seine schwangere Frau für eine 21 Jahre alte Disco-Bekanntschaft, die es an seiner Seite in das Showbiz schaffte. Die Wertigkeiten im Leben des besten deutschen Torwarts begannen sich merklich zu verschieben. Das neue Sein passte nicht zum Bild eines sportlichen Überfliegers. Sei es, weil man Kahn zu mitternächtlicher Stunde in der Münchner Nobeldisco P1 gesichtet hatte. Oder aber eine Spritztour in seinem roten Ferrari 380 Modena Spider auf der Inntal-Autobahn unternahm, die mit dem Entzug des Führerscheins endete. An Kahns Selbstbewusstsein änderte das freilich nichts. Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffte merklich auseinander.“

Tragik

Holger Gertz (SZ/Seite 3) würdigt Kahn: „Vielleicht gibt es zwei Oliver Kahns. Den einen, den man kennt aus dem Stadion – und der bei den gegnerischen Fans verhasst ist wie kein zweiter Fußballer. Den arrogant schauenden Torwart, der die Stürmer an den Haaren zieht, ihnen in den Hals beißt, ihnen den Finger in die Nase zu schieben droht. Einen Wahnsinnigen, vom Ehrgeiz zerfressen. Jahrelang haben ihm die Fans Bananen in den Strafraum geworfen und Gorilla-Geräusche gemacht, wenn er erschien. Er hat die Bananen jahrelang aus dem Strafraum geworfen, wie ein Arbeiter am Obstmarkt, der morgens verfaulte Früchte in den Mülleimer befördert. Er hat gesagt, dass er den Druck braucht, er hat davon gesprochen, gern ‚im Adrenalin zu baden‘, und manchmal klang es, als bürdete er sich damit zu viel auf. Der andere Oliver Kahn gehört eindeutig zu den intelligenteren Fußballern, der psychologische Bücher mit ins Trainingslager nimmt und sich artikulieren kann wie der Manager eines großen Unternehmens. (…) Jetzt als Journalist zu fordern, er solle die Niederlage sportlich nehmen, klingt zu einfach. Es ist zwar nur der Wechsel eines Torwarts, die große Wirkung des Themas hängt auch zusammen mit dem hoffnungslos überhitzten Business. Aber, auch ohne alles zu wichtig zu nehmen und das Ganze wie einen Nachruf klingen zu lassen: Es ist eine tragische Entwicklung für einen Mann, der doch ein bisschen mehr ist als ein Fußball-Nationalspieler. Oliver Kahn wird weitermachen, am Samstag spielen die Bayern in Bremen, beim Rivalen, und es wird interessant sein zu sehen, ob die Bremer ihn auspfeifen wie immer. Oder ob sie ihn begrüßen wie einen, der gerade erfahren hat, dass ein Titan in Wahrheit nur ein Mensch ist.“

SZ: Reaktionen
SZ: Der Weg zur Nummer 2

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