Deutsche Elf
Großer Sportsmann
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| Dienstag, 11. April 2006Roland Zorn (FAZ) achtet Oliver Kahns Entscheidung, bei der WM dabei zu sein: „In Ausnahmesituationen offenbaren sich Menschen. Oliver Kahn hat eine Ausnahmesituation verarbeiten müssen. Er hat die Aufgabe mit der Bravour eines gereiften Profis, eines ersten Dieners der Nationalmannschaft und eines sensiblen Menschen gelöst und steht nach den Stunden tiefer Enttäuschung und Verunsicherung schon jetzt als ein Gewinner der Weltmeisterschaft fest. Daß er auch als die neue Nummer 2 im deutschen Tor seinen Teil zum Gelingen des deutschen Unternehmens WM beitragen will, sich selbst und seine Befindlichkeit in den Hintergrund gerückt sehen möchte und zu einem positiven Auftreten der Nationalmannschaft seinen Beitrag leisten wird, ist mehr als nur ein großes Versprechen. Es zeigt sich darin auch die Einsicht eines großen Sportsmanns, persönliche Niederlagen nicht wichtiger zu nehmen als den möglichen Erfolg eines ganzen Teams. Es war der Tag, an dem Deutschland den Menschen Kahn besser kennen- und verstehen lernte. (…) Schade nur, daß sich Jürgen Klinsmann nicht mit der Vehemenz für einen Verbleib Kahns ausgesprochen hat, die jenseits aller taktischen Überlegungen angebracht gewesen wäre.“
Klinsmann ist den kritischen Geist nicht losgeworden
Stefan Osterhaus (NZZ) befaßt sich mit der Rolle Kahns bei der WM: „Es war der vielleicht eindrucksvollste Auftritt eines Spitzensportlers jenseits der Brandreden vom Format Völler, Klinsmann und Trapattoni. (…) Gleichzeitig durchkreuzte Kahn eventuelle Planspiele des Trainerstabes, wonach es für ihn undenkbar wäre, sich als Nummer 2 einzureihen. Klinsmann ist den kritischen Geist nicht losgeworden. Jetzt sitzt Kahn Lehmann mit Gönnermiene im Nacken und kann, wie er selbst bekundete, ohne Druck als wichtiger Mann fürs Nationalteam ins Turnier gehen, während die Presse Lehmann mit Röntgenaugen taxieren wird. Kahn wahrte somit die Möglichkeit, für einen weiteren Superlativ zu sorgen: Er dürfte an der WM zum meistbestaunten Ersatzspieler aller Zeiten werden.“
Ruck
Klaus Hoeltzenbein (SZ) reibt sich die Augen: „Mal ehrlich, wer hätte gedacht, dass die Erweckungsrede zur Weltmeisterschaft, die Ruckrede, von Oliver Kahn gehalten wird? Man hatte gedacht, Klinsmann sei der erste Ruckler seit Roman Herzog, er sei derjenige, der im Innovationsfieber keinen Stein auf dem anderen lässt. Und nun sagt Kahn: Schluss mit dem Gejammer im uneinig Fußball-Land! Schluss mit der Priorität für Eigeninteressen! Raus mit dem ‚zähen Kaugummi‘ – Ende der Debatte. Kahn hat, nimmt man ihn beim Wort, akzeptiert, was er, wie viele fürchten, nie akzeptieren würde: Er wird klaglos ertragen wollen, dass Rivale Lehmann im Tor steht, er wird versuchen, keine grimmige Miene zum neuen Spiel zu machen. Hält er das durch, wird man am Ende sagen können, er ist ein guter, sportlicher Verlierer in dieser variantenreichen Dramaturgie. Womöglich sollten alle aber zunächst Kahns Ruck-Idee folgen und versuchen, diese höllenschwere WM ein wenig leichter zu nehmen. (…) Ausgerechnet Kahn, von dem es hieß, er sage an den schlechten Tagen nicht Guten Tag und Guten Morgen.“ Helmut Schümann (Tsp) träumt eine Fußballutopie: „Lehmann hat kürzlich mal gesagt, dass er gerne Kahn London zeigen werde, wenn der sich plötzlich mal auf einen Sprung ansagt. Er hat auch hinzugefügt, dass er damit eher nicht rechne. Aber, wer weiß, vielleicht klingelt ja drüben auf der Insel das Telefon, und dann marschieren zwei gelöste und mit sich im Einklang befindliche Herren im mittleren Alter durch den Hyde-Park. Das könnte dann der Anfang einer wunderbaren Freundschaft sein. Und dies wäre dann die nächste Sensation.“
Geschickter Schachzug
Thomas Kilchenstein (FR) beargwöhnt Kahns Edelmut: „Was ist, wenn die Entscheidung aus reinem Kalkül gefallen ist? Allein seine pure Präsenz könnte erheblichen Sprengstoff bergen. Man mag sich gar nicht erst vorstellen, was die Kahn-freundlichen Medien für Sperrfeuer geben werden, sollte Lehmann Patzer unterlaufen. Kahn hat Klinsmann arg in die Bredouille gestürzt. Von Kalifornien aus zollte er Kahn zwar ein Riesenkompliment. Aber Klinsmann weiß auch, dass er nun den schwarzen Peter zugeschoben bekam. Will er wirklich einen Reservisten Kahn im Team haben? Einen, der vor Ehrgeiz schier zerfressen ist, einen, der stets polarisiert und garantiert keine Gelegenheit verpassen wird zu zeigen, dass er doch der bessere Torwart ist. Bislang ist Kahn nicht unbedingt als hilfsbereiter Mannschaftssportler aufgefallen. Doch kann es sich Klinsmann jetzt noch erlauben, Kahn mit den Argumenten von der Mannschaft fernzuhalten, dieser sei zu egoistisch und nicht teamfähig? Einfacher ist die Situation für Klinsmann nicht geworden. Kahn ist ein geschickter Schachzug gelungen. Jetzt ist er der Herausforderer. Er hat sogar mal gegrinst.“
Vergeltung?
Axel Kintzinger (FTD) mutmaßt: „Das könnte sich auszahlen. Kahn hatte über seine publizistischen Unterstützer bereits vor der Klinsmann-Entscheidung jammern lassen, dass ihm durch die unklare Situation millionenschwere Werbeverträge entgingen. Als beleidigte Leberwurst, der wegen Lehmanns Bevorzugung streikt, hätte sich sein Wert kaum gesteigert. (…) Es ist kein Geheimnis, dass der FC Bayern im Verbund mit der Bild-Zeitung nichts lieber sähe, als wenn Klinsmanns Amtszeit mit dieser WM enden würde – je früher, desto besser. Kahn könnte als Mitglied des Kaders mit gezielten Indiskretionen Stimmung machen gegen den Bundestrainer. Ohnehin wird ihm ein Kolumnistenjob bei dem Boulevardblatt für die WM nachgesagt. Kahn könnte Vergeltung üben für seine Degradierung, und Bild bewiese erstmals seit Jahren wieder die Fähigkeit, erfolgreich eine Kampagne zu fahren.“
SZ: Der unbekannte Kahn
SZ-Interview mit Uli Stein: „Vielleicht hat Kahns Entscheidung auch mit Werbeverträgen zu tun“
Mary Shelley’s Oliver Kahn
Der Fiver, der Fußball-Newsletter des Guardian, kommentiert das Zitat des Tages: „I‘ve come to the conclusion that it’s important for the national team for me to be there, despite my disappointment. The team, including Jens Lehmann, will have my full support. This can’t be about personal vanity“ – through gritted teeth, Mary Shelley’s Oliver Kahn agrees to go to the World Cup after all.“