Am Grünen Tisch
WM mit Fifa-Behinderung
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| Mittwoch, 26. April 2006Sehr lesenswert! Thomas Kistner (SZ) leitet das belastete Verhältnis zwischen dem Fifa-Präsidenten Joseph Blatter und Deutschland her: „Vorm WM-Anpfiff bahnt sich eine Zerreißprobe an. Beckenbauer und Blatter sind einander so zugetan wie Platzhirsche mit verkeilten Geweihen, es geht um alles: Wer kriegt ihn denn, den schönsten Platz an der Sonne? Der Sepp, der sogar die Allianz Arena umbauen ließ, damit sein Thron beim Eröffnungsspiel nach Cäsaren-Art auf Höhe der Mittellinie steht, oder Kaiser Franz, der zwar weniger bedeutende Ämter hat, aber deutlich höhere Sympathiewerte bei den Massen? Es dauerte Jahre, bis Beckenbauer Blatters Machtspiele durchschaute. Der hatte ihm einst sogar die Thronfolge in Aussicht gestellt; so sichert man sich Wohlverhalten. Nach seiner Wiederwahl 2002 ließ Blatter dann flott den Wahlmodus ändern: Anstatt wie bisher am Vorabend einer WM, wird nun im Jahr darauf gewählt. Das verhindert, dass im Juni in München ein neuer Fifa-Boss gekürt werden könnte – zum Beispiel ein Schwergewicht namens Beckenbauer, das sich in seiner Heimatstadt, aufgewertet durch die Rolle des WM-Gastgebers, zum Kandidaten aufschwingt. Dass Beckenbauer reges Interesse am Fifa-Hochamt hegte, sprach sich zum Europaverband Uefa herum, dessen Präsident, der Schwede Lennart Johansson, ihm 2005 ebenfalls die Nachfolge anbot. Beckenbauer flirtete auch mit diesem Amt, nun aber hat er offenbar genug von den Funktionären. Als Verbandschef müsste er ja auch seine einträglichen Werbegeschäfte aufgeben. Blatter aber witterte nicht nur in Beckenbauer einen gefährlichen Rivalen. An den Deutschen reibt sich der Schweizer besonders gern, die haben ihm schon viel Ärger beschert. Nicht nur wegen Leo Kirch, dem er einst die WM-Vemarktungsrechte für 2002/2006 zuschusterte und der dann mit seinem Bankrott 2002 auch die Fifa ins Trudeln brachte. Dazu kommt persönliches. Für die WM 1998, als Fifa-Pate Joao Havelange endlich abdankte und die Uefa dessen Adlatus verhindern wollte, war DFB-Chef Egidius Braun der starke Mann hinter Johansson, der gegen Blatter kandidierte. Nach der korruptionsumwitterten Wahl in Paris beklagte Braun offen ‚Blatters schmutziges Spiel‘. Der wiederum musste nun sein Wahlversprechen an Afrikas Delegierte einlösen: Er hatte ihnen die WM 2006 in Südafrika in Aussicht gestellt. So wurde das Votum zum Rückspiel für die Europäer um Braun und Johansson, die sich nicht noch einmal austricksen lassen und unbedingt die WM nach Deutschland holen wollten. Acht der zwölf Stimmen für die DFB-Bewerbung kamen aus Europa. Was nebenbei auch das blühende Medienmärchen widerlegt, dass Beckenbauer die WM geholt habe: Für die Voten aus Europa war er gar nicht zuständig.
Wieder hatten die Deutschen Blatter ins Handwerk gefunkt. Aber nun hatte er selbst den Hebel in der Hand: Der Fifa gehört die WM, im Marketing zog sie die Stellschrauben so stark an, dass das Land, die WM-Städte und das WM-OK selbst über den Regulierungswahn stöhnen. Doch das OK kuschte weiter, und die Fifa, die für sich und ihre Partner in Deutschland Befreiung von allen Steuern sowie von Visa-, Zoll- und Arbeitsbestimmungen herausschlug, wurde immer dreister. Der Verdacht, dass im WM-Land manches auch nur deshalb passiert, verdichtete sich, als die Fifa im Januar die Eröffnungsfeier in Berlin abblies, für die schon die Künstler präsentiert worden waren. (…) Das große deutsche Kuschen vorm Fußball-Sonnenkönig ist die Wurzel vielen Übels. Wohl nirgendwo auf der Welt werden die Fifa-Regeln in solch preußischem Gehorsam umgesetzt, Kritik schluckt man lieber herunter. Der Sepp braucht sich nicht zu sorgen, dass der Franz ausspricht, was im OK und anderswo längst feste Überzeugung ist: Dass in Deutschland eine WM mit Fifa-Behinderung stattfindet.“
Dalai Lama des Weltfussballs
Stefan Osterhaus (NZZ) kommentiert das Redeverbot für Beckenbauer bei der Eröffnungsfeier der WM: „Appell an die Fifa und jenen Mann, der als ‚Sonnenkönig‘ vom Sonnenberg als einer der wenigen noch über dem Münchner Imperator in der Hierarchie thront: Joseph Blatter möge sich bitte der urdemokratischen Wurzeln seiner Institution besinnen. Redefreiheit sollte garantiert sein, auch für Beckenbauer, den Repräsentanten eines grossen Fussball-Volkes. Spräche der protestierende Schweiger nicht, würde es für ihn allerdings keinen Schaden bedeuten. Beckenbauer würde dann seiner selber gewählten Altersrolle zunehmend gerechter werden: der des Dalai Lama des Weltfussballs.“
Eine Lektüreempfehlung: Band 1 der Schriftenreihe sportnetzwerk, der, ein Desiderat, das Thema „Korruption im Sport“ auslotet – etwa die „Hall of Shame“ der spektakulärsten Korruptionsfälle. Renommierte Autoren aus dem In- und Ausland sind beteiligt: Anno Hecker, Michael Reinsch (FAZ), Thomas Kistner, Hans Leyendecker (SZ), Barbara Klimke, Jens Weinreich (BLZ), Jörg Winterfeldt (Welt), Jens Sejer Andersen (Play the Game, Dänemark), Lasana Liburd (Trinidad & Tobago) u.v.a. Kleiner Tip: Der Subskriptionspreis gilt noch zwei Wochen. Rezension folgt.
BLZ: Zu 99 Prozent keine Spiele manipuliert – Reiner Calmund weiter wegen Untreue unter Verdacht
Veranstaltungshinweis: eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe der Uni Würzburg