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Deutsche Elf

Ich fühle mich tatsächlich viel leichter

Oliver Fritsch | Dienstag, 2. Mai 2006 Kommentare deaktiviert für Ich fühle mich tatsächlich viel leichter

Oliver Kahn im Interview mit Michael Horeni und Roland Zorn (FAZ) über seine Degradierung in der Nationalelf
FAZ: Sie haben eine insgesamt starke Bundesligarunde absolviert – und sind trotzdem an deren Ende nicht mehr die Nummer 1. Wie hat diese Mitteilung von Jürgen Klinsmann getroffen?
Kahn: Solche Entscheidungen sind natürlich hart. Vielleicht war es aber gar nicht so schlecht, daß ich danach nur wenig Zeit hatte, darüber nachzudenken. Ich mußte mich ja direkt wieder ins Geschehen stürzen. Einfach war die Situation jedenfalls nicht. Weder für mich noch für den FC Bayern München.
FAZ: Wie empfindet man in einem solchen Augenblick, der ein großes Karriereziel zerstört?
Kahn: Ich habe nicht zum ersten Mal in meinem Leben mit einer schwierigen Situation zu tun. Ich bin persönlich weit genug, um sowohl mit positiven als auch negativen Dingen professionell umzugehen.
FAZ: Wie lief denn damals das Gespräch mit dem Bundestrainer?
Kahn: Das Trainerteam hat mich in einem Münchner Hotel von der Entscheidung unterrichtet. Ich wurde gefragt, ob ich auf einen Kaffee vorbeikommen könne, dann hat man mir das mitgeteilt. Das habe ich akzeptiert. Da gab es für mich nicht mehr viel zu diskutieren, und ich bin gegangen.
FAZ: Mit welchen Erwartungen sind Sie denn zu diesem Treffen gegangen?
Kahn: Mit den Erwartungen, daß ich die Weltmeisterschaft spiele und mein Status als Nummer 1 bestätigt wird. Ich hatte ja keinen Grund anzunehmen, daß ich nach einer starken Saison die Nummer zwei werde.
FAZ: Hat Ihnen denn die öffentliche Diskussion nie zu denken gegeben? Hatten Sie anders als so mancher in Ihrem Klub nie das Gefühl, der Wind könne sich gegen Sie drehen?
Kahn: Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich hatte ja aus meiner Sicht sehr gute Spiele gemacht und zuletzt auch im Länderspiel gegen die USA gezeigt, wie wichtig ich für diese Mannschaft sein kann. Auch deswegen war das für mich eine sehr große Überraschung.
FAZ: Dennoch: Sind Sie innerlich nicht doch auf diese Situation vorbereitet gewesen?
Kahn: Ich bin ja nicht naiv. Ich habe meine Situation in den vergangenen zwei Jahren sehr genau und analytisch wahrgenommen. Insofern bin ich ja auch nicht aus allen Wolken gefallen.
FAZ: In den Wochen und Tagen vor Klinsmanns Entscheidung hieß es nicht zuletzt aus Ihrem Verein immer wieder, nun müsse der Bundestrainer aber möglichst schnell eine Entscheidung in der Torwartfrage treffen. Uli Hoeneß benutzte sogar das Wort ‚Psychoterror‘. Stellte sich die Situation auch für Sie als schwer erträglicher Ausnahmezustand dar?
Kahn: Das Brennglas, das da über mich gehalten worden ist, hat wirklich viel Hitze erzeugt. Diese Situation war irgendwann nicht mehr gut. Der FC Bayern hat das erkannt und sich gedacht, daß ein Torwart, dessen Aktionen täglich überall seziert und kommentiert werden, nicht mehr den ganz großen Spaß an seinem beruflichen Alltag empfinden kann. Jeder große Torwart macht im Laufe einer Saison Fehler, das ist völlig normal. Mir aber wurde das nicht mehr zugestanden. Jeder Fehler war sofort ein Skandal. Selbst für mich, der eine große Nervenkraft besitzt, hatte das ein Ausmaß angenommen, das sich irgendwann kaum noch positiv auswirken konnte.
FAZ: Haben Sie über Ihre Situation in den Monaten vor Klinsmanns Entscheidung einmal gesprochen – in dem Sinne, daß es allmählich zuviel für Sie werde?
Kahn: Ja, das habe ich deutlich angesprochen. Ich habe ihm gesagt, daß da etwas wie ein Fels auf mich zurollt. Als Torwart fängst du irgendwann an, dir zu sagen, ich darf mir jetzt nicht einmal mehr eine minimale Schwäche erlauben. Das führt dann dazu, daß dein Spiel an Qualität verliert, weil du das letzte Risiko nicht mehr eingehst. Aus all diesen Gründen habe ich mit Jürgen über diese Situation in der Torwartfrage wiederholt offen gesprochen.
FAZ: Wie war seine Reaktion?
Kahn: Er hat gesagt, das wisse er. Er ziehe den Hut vor mir und habe großen Respekt davor, wie ich mit der Situation umgehe. Das hatte für mich auch immer einen dämpfenden und beruhigenden Effekt. (…)
FAZ: Waren Sie überrascht, wie ungläubig ein Großteil der Öffentlichkeit auf Ihre Ankündigung, weiterzumachen, reagiert hat?
Kahn: Es hat mich sehr erstaunt, daß die Überraschung so gewaltig war. Wirklich bewegt hat mich der riesengroße Zuspruch, der mir von allen Seiten zuteil wurde. Die meisten Menschen hatten das offenbar von mir erwartet, vor allem Fußballfans. Mir kommt es fast so vor, daß die Medien hauptsächlich überrascht waren. Da habe ich gedacht, jetzt spielst du zwanzig Jahre Fußball, die Medien berichten über dich ununterbrochen, und trotzdem kennt dich keiner. Das zeigt doch sehr deutlich, wie ein vorgefertigtes Bild von mir immer und immer wieder transportiert wurde.
FAZ: Andererseits kommen Sie bei vielen Ihrer Auftritte viel grimmiger und nicht immer für jedermann sympathisch „rüber“.
Kahn: Das mag so sein. Ich bin nun mal ein Typ, der immer gewinnen will. Beim FC Bayern ist man noch dazu ein ewiger Gewinnenmüsser. Da schießt man schon auch des öfteren mal über das Ziel hinaus. Und dann werden immer wieder diese Situationen gezeigt, die das scheinbar vorgefertigte Bild perfekt bedienen.
FAZ: Wie war denn die Reaktion der Menschen, mit denen Sie zu tun haben, auf Ihre Entscheidung, in der Nationalmannschaft weiterzumachen?
Kahn: Sie hat mich auf eine gewisse Art glücklich gemacht. In meinem Internetportal kommen täglich über tausend E-Mails an; ich bekomme Berge von Post von Menschen, die mir ihr Leben schildern, daß sie in ähnlichen Situationen seien. Mir wird geschrieben, daß die Art, wie ich mich verhalten habe, vorbildlich ist. Da gewinnst du einen Titel nach dem anderen und verdienst dir viel Respekt – aber das, was jetzt alles passiert ist, hat mich fast sprachlos gemacht. Ich fühle mich tatsächlich viel leichter.

Rückständigkeit

Boris Hermann (BLZ) nimmt die Vertragsverlängerung Oliver Bierhoffs zum Anlaß, über Gegenwart und Zukunft des deutschen Fußballs nachzudenken: „Es könnte eine gute Nachricht werden – wenn sie dauerhaft Kontinuität in die Umwälzung bringt. Darüber steht aber die große Frage, mit wem Bierhoff im Sommer weitermachen wird? Auch wenn im Moment schwer vorstellbar ist, dass sich Klinsmann seinen Job auch nach der WM weiterhin antut, die Chancen sind mit der Unterschrift seines wichtigsten Hintersassen gestiegen. Klinsmann wird oft vorgehalten, dass er das Reformtempo überdreht hat. Dabei ist seine Mission in erster Linie eine Zeitreise in die Gegenwart. Im Ausland sind seine Methoden Standard. Jene Leistungstests, die im WM-Land Kopfschütteln auslösen, werden beim AC Milan vierzehntägig durchgeführt. Um das Dilemma des deutschen Fußballs zu begreifen, musste man sich nur das Halbfinale der Champions League anschauen. Neu ist auch, dass im System Klinsmann zwischen dem klassischen Grasfresser und Fußball-spezifischer Ausdauer differenziert wird. Der Schlüssel heißt individuelle Trainingsarbeit – jeder bekommt das verabreicht, was er braucht. Sehr simpel. Dass man das noch als Neuigkeit verkaufen kann, sagt viel aus über die Rückständigkeit des deutschen Fußballs.“

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