Ball und Buchstabe
Tempo-30-Schilder
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| Mittwoch, 3. Mai 2006Daniel Pontzen (Spiegel) schöpft aus Quellen, die seine These von der Langsamkeit des deutschen Fußballs bestätigen: „Rasanz und Kunstfertigkeit gehen in ihrem Spiel eine spektakuläre Verbindung ein. Die Ronaldinhos, Decos oder Hlebs dieser Tage verschmelzen Ballannahme, -verarbeitung und -weitergabe zu einer Einheit, alles läuft in Sekundenbruchteilen ab. Es ist die offensive Antwort auf das international enger und schneller gewordene Spiel. Das Kerngeschäft hat sich längst auf ein rund 30 mal 40 Meter großes Rechteck verdichtet, das sich bei jedem Angriff über das Spielfeld verschiebt. Wenn Barcelona darin blitzschnell den Ball zirkulieren lässt oder Arsenal per vertikalem Direktspiel auf das gegnerische Tor zusteuert, wirkt das bisweilen, als wäre der Fernseher kaputt: Fußball im Vorspulmodus. Der Begriff ‚High-Speed Football‘ ist dabei mehr als eine hübsche Wortneuschöpfung. Im englischen Fußball etwa hat sich die Geschwindigkeit nachweislich erhöht: Die im Sprint zurückgelegte Strecke einer Premier-League-Mannschaft addierte sich 2003 auf durchschnittlich 1,8 Kilometer pro Match – in dieser Saison sind es 2,6. Die Anzahl der Sprints, so haben es die Spielanalytiker von ProZone ermittelt, hat sich allein in den letzten beiden Jahren von 287 auf 359 erhöht. Gleichzeitig nahm die Menge erfolgreicher Pässe um rund fünfzehn Prozent zu. Wer hierzulande die Sportschau einschaltet, kann da leicht den Eindruck gewinnen, er sähe bei einer anderen Sportart zu. Im Vergleich zu den Dauerattacken des Champions-League-Finalisten Arsenal oder dem Konterspiel des englischen Meisters FC Chelsea wirken die Angriffe in hiesigen Stadien oft, als wären an den Seitenlinien Tempo-30-Schilder aufgestellt. Eine gerade veröffentlichte Untersuchung zum Passspiel unterstreicht diesen Befund. Die durchschnittliche Zahl der gespielten Pässe in einer Bundesliga-Partie liegt weit unter jener der führenden Konkurrenzligen. (…) Wie schwierig es ist, eine eigene Fußball-Ideologie durchzusetzen, hat Jürgen Klinsmann erfahren müssen.“
Wandlungen des Bekannten
Christoph Biermann erwartet in den 11 Freunden angesichts der Globalisierung des Fußballs keine Taktikrevolution durch die WM: „Im Laufe der letzten Jahre ist so etwas wie ein globaler Fußballstil entstanden, in dem sich ehemals national zugeordnete Elemente zunehmend vermischt haben. Niemand würde heute ohne weiteres eine italienische vor einer spanischen oder englischen Mannschaft unterscheiden können. Das gilt zunächst für Vereinsmannschaften, die allerorten zu kleinen Welt-Elfs geworden sind, inzwischen aber auch für Nationalteams. Außerdem sind nach knapp 150 Jahren Fußball alle grundsätzlichen Varianten durchgespielt. So gibt es schlichtweg keine neuen Systeme mehr zu erfinden, sondern immer wieder nur Wandlungen des Bekannten zu probieren. Auch wird es keine Umwälzungen auf einzelnen Positionen mehr geben, wie das die Erlösung des Außenverteidigers von seiner rein defensiven Rolle oder die Erfindung des Liberos waren. Wir werden uns bei der WM 2006 nicht auf Neuerfindungen des Spiels einrichten müssen.“
Hochmut
Das ZDF macht Männchen vor den Bayern, und Michael Hanfeld (FAZ/Medien) haut auf den Tisch: „Dem FC Bayern gehört der DFB-Pokal, die Welt sowieso und – so mußten wir am Samstag abermals erkennen – das ZDF. All der Hochmut, den die Bayern nach ihrem wie üblich unansehnlichen Spiel über die Frankfurter ergossen, er floß ungefiltert durch den öffentlich-rechtlichen Kanal. Zuerst fiel Franz Beckenbauer nichts anderes ein, als daß Michael Ballack so lahm gespielt habe, als schone er sich bereits für Chelsea. Und da war kein Reporter, Air-Berlin-Werber Johannes B. Kerner schon gar nicht, der Beckenbauer darauf aufmerksam gemacht hätte, daß sich angesichts dieses Spiels offenbar die halbe Bayern-Mannschaft für Chelsea oder andere Vereine schont (und die andere Hälfte bloß niemand haben will). Über die umstrittenste Szene des Spiels, als Willy Sagnol den Frankfurter Stürmer Köhler umrempelte, wurde hier aber wenigstens noch gestritten. Anders in der folgenden Runde bei Mikrofonsteigbügelhalter Wolf-Dieter Poschmann. Für ihn war, genauso wie für Felix Magath, ganz klar, daß das kein Foul war. Also zeigte das ZDF die Zeitlupenversion, in der es am wenigsten nach Freistoß aussah. Zu dumm nur, daß Friedhelm Funkel sich dieser Meinung nicht anschließen wollte – und das Studiopublikum auch nicht. Also konnten sich Magath und Devotfrager Poschmann noch ein wenig darüber grämen, daß die armen Bayern, wo sie auch hinkommen, auf so manche Antipathie stoßen. Ja, warum nur? Ob es etwas mit dem allgemein hochfahrenden Auftreten zu tun hat? Die WM wird furchtbar.“
FAZ: Bayern München mit Skepsis und Mißmut zum Double?
Mangel an Spielkultur
Ein Theaterprojekt vieler Autoren des Kunst- und Kulturprogramms der Bundesregierung – Andreas Rossmann (FAZ/Feuilleton) faßt sich an den Kopf und erkennt ein Symptom der Theaterkrise Deutschlands: „Die Regie läßt keine kabarettistische Standardsiutaion aus. Selbst ein Linksaußen a.D. wie Franz Xaver Kroetz flankt mit einer ‚Nationalballszene‘, die Deutschland zu einer fußballbesessenen Irrenanstalt vor dem Fernseher verballhornt, weit ins Toraus. Den spät eingewechselten Herbert Achternbusch zieht es, über die Urne im Clubgrab sinnierend, mehr an die Isar als ins Stadion. Marius von Mayenburg immerhin markiert mit dem anrührenden Gruppenbild dreier klappriger Freizeitkicker einen Lattentreffer. Was den Fußball aus- und manchmal so faszinierend macht, ist kein Anstoß, dem einer dieser Ausputzer nachgespürt hätte. Die Seele des Spiels wird nicht einmal touchiert. So offenbart das Theater, daß es ihm ähnlich an Spielkultur mangelt wie der Nationalmannschaft. Noch wenn es sich der ‚Aktualität‘ zuwendet, verläuft es sich im Abseits.“