Deutsche Elf
Der Generationswechsel ist vollzogen
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| Dienstag, 9. Mai 2006Jürgen Klinsmann im Spiegel-Interview
Spiegel: Zuletzt haben Sie eine Besuchstour durch die deutsche Presselandschaft unternommen, bei der Oliver Bierhoff in einem Referat die Errungenschaften Ihrer Dienstzeit als Bundestrainer vortrug. Was versprechen Sie sich davon?
Klinsmann: Es war Olivers Idee, noch einmal zu verdeutlichen, warum wir gewisse Schritte unternommen haben und welcher Zielrichtung alles untergeordnet ist. Wenn die WM-Vorbereitung begonnen hat, wird das kaum noch möglich sein, da müssen wir alle Energie in die Arbeit mit der Mannschaft legen. Wir Trainer haben eine Prioritätenliste, und da führen wir die Medienarbeit nicht in den Top 5.
Spiegel: Als Sie nach dem 4:1 gegen die USA die Medien rügten, wirkten Sie beinahe resigniert. Fühlen Sie sich jetzt besser?
Klinsmann: Resigniert war ich nicht. Ich war angriffslustig. Nach einem einzigen Negativergebnis, dem 1:4 in Italien, hatte man alles in Frage gestellt, was wir in neunzehn Monaten geleistet hatten. Vielen Kommentaren von ehemaligen Fußballern, sogenannten Experten oder Journalisten fehlt der Weitblick zu erkennen, wo wir zum WM-Auftakt stehen wollen.
Spiegel: Zuletzt wurden Sie von drei Leuten als link bezeichnet: vom ausgebooteten Nationalspieler Christian Wörns, vom freigestellten Torwarttrainer Sepp Maier und von Bayern-Coach Felix Magath in Bezug auf die Torwartfrage. Trifft Sie das?
Klinsmann: Ich versuche mal, mich in die jeweils andere Person hineinzudenken. Dann muss ich sagen: Die Äußerungen zeigen, dass sie nicht damit umgehen können, wenn eine Entscheidung nicht in ihrem Sinne getroffen wird. Weil sie es einfach nicht akzeptieren können und aus ihrem Frust heraus Begriffe wählen, die haltlos sind und bösartig. Aber es ist ein allgemeiner Trend, Druck zu machen, um Einfluss auf die Entscheidungsprozesse zu bekommen.
Spiegel: Wen meinen Sie?
Klinsmann: Die sogenannten Experten etwa. Mein Paradebeispiel ist der Bundesliga-Gipfel mit Clubvertretern im Oktober. Es ging ihnen um die Torwartfrage, um den Stamm der Mannschaft und den Wohnsitz des Bundestrainers. Man wollte also Entscheidungen in Fragen beeinflussen, bei denen man nicht einmal den eigenen Vereinstrainern hineinreden würde. Wenn sich der Nationaltrainer Entscheidungen von außen aufdrängen lässt, hat er vor der Mannschaft verloren.
Spiegel: Sind Sie noch derselbe Trainer wie bei Ihrem Einstand im August 2004?
Klinsmann: Vom Wissen her bin ich sehr viel weiter. Ich habe am Anfang immer betont, dass ich keine Trainererfahrung habe, aber eine Deadline: den 9. Juni.
Spiegel: Was macht die heutige Spielergeneration aus?
Klinsmann: Die junge Generation hat eine andere Neugier, ist mehr visuell geprägt. Wir Trainer müssen lernen, darauf einzugehen: Wen erreiche ich wie am besten – durch ein Gespräch, durch Videoanalysen? Und in welcher Tonart? Dafür brauchen wir selbst Trainer. Der Sportpsychologe coacht auch mich. (…)
Spiegel: Sie haben offensives, risikobereites Spiel und einen Generationswechsel annonciert. Doch seit dem Herbst wirkt die Mannschaft ängstlich, spielt taktisch mit so vielen Absicherungen wie vor Ihrer Zeit, und nun planen Sie, mit Jens Nowotny auch noch den Abwehrchef der Erich-Ribbeck-Ära zurückzuholen. Manche Leute halten das für einen Etikettenschwindel.
Klinsmann: Ich halte es für legitim, wenn es konträre Meinungen gibt. Aber ich glaube, dass der Generationswechsel vollzogen ist und es jetzt darum geht, eine richtige Mischung aus Erfahrung und Jugend zusammenzubasteln. Wer bringt die höchste Qualität für die Gruppe? Da geht es nicht darum, ob das ein 36-Jähriger ist oder ein 20-Jähriger. (…) Das Spiel ohne Ball ist der Schlüssel zum Ganzen. Das sehen wir kaum mehr in der Bundesliga. Die Champions League demonstriert uns, wie es funktioniert.
Spiegel: Sie meinen, die internationalen Stars laufen mehr?
Klinsmann: Ja. Spieler, die uns technisch überlegen sind, arbeiten mehr. Sie denken mehr voraus und laufen mehr voraus. Ich finde es faszinierend, wie Ronaldinho Pässe spielt, bei denen er tausendprozentig nicht sehen kann, ob da jetzt einer mitgelaufen ist oder nicht.
Spiegel: Was genau wäre ein positives, was ein negatives Turnierergebnis?
Klinsmann: Ich lege mich da gar nicht fest. Für mich ist der Maßstab, wie sich die Mannschaft von Spiel zu Spiel präsentiert. Ich weiß sehr wohl, dass wir 1990 im Achtelfinale gegen Holland nach 20 Minuten 0:3 hätten hinten liegen müssen. Gegen die Tschechen haben wir dann mit einem Elfmetertor gewonnen, gegen England konnten wir im Elfmeterschießen rausfliegen. Wir haben uns durchgewürgt, genauso wie sich die 74er Weltmeister durch ihr Turnier hindurchgewürgt haben.
Spiegel: Ist am Ende alles Glückssache?
Klinsmann: Man sollte nicht immer erzählen, dass früher alles super war und nie ein Fehlpass gespielt wurde. Und ich weiß auch, dass wir 1994 besser waren als Brasilien – und uns das Ding selbst kaputtgemacht haben innerhalb von ein paar Minuten gegen Bulgarien. 1994 Weltmeister zu werden war zigmal einfacher als 1990. Wenn man als Spieler später zurückblickt und sagt, das war 2006 das Maximum, das ich leisten konnte, dann hat man ein sauberes Gewissen.
FAZ: Fitness-Test – Joachim Löw verteilt gute Noten in der sportlichen Pisa-Studie
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