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Deutsche Elf

Mutig und unorthodox

Oliver Fritsch | Dienstag, 16. Mai 2006 Kommentare deaktiviert für Mutig und unorthodox

Michael Rosentritt (Tsp) geht bei Klinsmanns WM-Kader das Herz auf: „Jürgen Klinsmann ist eine Überraschung gelungen. Aber die heißt nicht David Odonkor, sondern – Jürgen Klinsmann. Der Bundestrainer ist wieder der, der er war, als er vor 22 Monaten die Verantwortung über die wichtigste Mannschaft des Landes übernahm: der ausländische Kandidat. Nie wieder ist er sich im Laufe seiner Amtszeit so nah gekommen wie bei der Bestimmung seines WM-Kaders. Wenn die Entscheidung in der Torwartfrage ein kleiner Fingerzeig war, so hat Klinsmann jetzt noch einmal kräftig ins Rad gegriffen. Wie damals hat er eiskalt entschieden, seine Überzeugung verbindlich mitgeteilt und alle Bedenken federnden Ganges weggelächelt. Kalifornien-Jürgen eben. Der Kader, mit dem er Weltmeister werden will, ist wie er: mutig und unorthodox, aggressiv und charmant.“

Aktionismus

Christof Kneer (SZ) blickt zurück und bezweifelt die Nachhaltigkeit von Klinsmanns Personalwechseln: „Aus der Ferne betrachtet – sagen wir: aus Kalifornien – ist dieses Aufgebot eine runde Sache, es hat sich ein Kreis geschlossen. In Berlin, beim Heimspiel gegen Brasilien im September 2004, hat Klinsmann einen Spieler namens Huth erfunden, und jetzt, wieder in Berlin, präsentiert er seinen jüngsten Fund namens Odonkor – Klinsmann, der Fußball-Kolumbus, der Jünglinge entdeckt wie noch keiner vor ihm. Aus der Nähe betrachtet – sagen wir: aus Deutschland – ist dieses Aufgebot eines, in dem kein Fahrenhorst auftaucht, kein Owomoyela, Görlitz, Schulz, Engelhardt und Sinkiewicz. Lauter gefeierte Klinsmann-Entdeckungen, die Klinsmann nun selbst für zu leicht befand. Natürlich kann ihm keiner vorhalten, dass er das Land auch personell erst mal runderneuert hat, doch drängt sich nun die Einsicht auf, dass außer Mertesacker keiner seiner elf Debütanten das Gesicht des Teams prägt. Wenn dieser Kader das Reformergebnis ist, wirken viele Personalien nachträglich wie Aktionismus.“

Mängelverwalter

Axel Kintzinger (FTD) hält das Aufgebot für durchwachsen: „Angekommen in der Realität ist Klinsmann nachweislich mit seiner Entscheidung, das junge Team mit erfahrenen Spielern zu stärken. Nowotny soll Mertesacker in der Innenverteidigung zur Seite stehen, und Neuville – ja, was soll eigentlich Neuville? Es ist doch mittlerweile eine stattliche Reihe biederer Spieler geworden, die Klinsmann da aufstellt. Es gibt Leute, die sehen Parallelen zwischen dem Fußball und der Gesellschaft, aus der er kommt. Wenn das stimmt, muss man bang fragen: Das soll das neue Deutschland sein? Hüftsteif wie Huth, mittelmäßig wie Friedrich, traurig wie Neuville? Klinsmann ist kein Reformer, er ist ein Mängelverwalter. Er ist kein Revolutionär, sondern ein Gefangener der Verhältnisse – einen Vorwurf kann man ihm daraus kaum machen.“

Unberechenbar und risikoreich

Michael Horeni (FAZ): „Hätte die WM vor drei Monaten stattgefunden, hätte er seinen Kader anders zusammengestellt, behauptet Klinsmann, und in einem halben Jahr wäre die Zusammensetzung der Mannschaft wieder anders ausgefallen. Dieses auf die Spitze getriebene Leistungskriterium wird vor allem für die von der Absage hart getroffenen Kevin Kuranyi und Fabian Ernst kein Trost sein, ebensowenig für Patrick Owomoyela. Dieses Trio gehörte fast über die gesamte Klinsmann-Zeit zum Kader, und selbst die zehn Tore, die Kuranyi im ersten Jahr unter diesem Bundestrainer erzielt hatte, verhalfen dem Stürmer nicht zur WM-Teilnahme. Mit seiner Kaderzusammenstellung hat Klinsmann, ebenso wie mit der Entscheidung für Jens Lehmann als ersten Torhüter, für sportliche Diskussionen wie seit vielen Jahren nicht mehr bei einer WM-Nominierung gesorgt. (…) Klinsmann geht, wie am ersten Tag als Bundestrainer angekündigt, seinen eigenen, unberechenbaren und risikoreichen Weg konsequent bis zum Ende. Aber dies hätte eigentlich niemanden mehr überraschen dürfen.“

Abkehr

Thomas Kistner (SZ/Seite 1) erkennt Zeichen des taktischen Rückzugs: „Klinsmanns WM-Kader überrascht nicht wegen der Personalie Odonkor, sondern weil er für die Abkehr von dem bisher so missionarisch beschworenen Weg zum Titelgewinn steht: Aggressives Angriffsspiel vor einem stürmisch mitgehenden Heimpublikum lautete die Zielvorgabe – nun soll sie ein Ensemble aus typischen Konterspielern erfüllen. Die Offensivkräfte Podolski, Neuville und Odonkor brauchen viel Aus- und Anlauf, das gibt es nur, wenn der Gegner Druck entfacht.“ Andreas Rüttenauer (taz) zuckt mit den Schultern: „So richtig schade wird es niemand finden, wenn Kuranyi nicht derart vor den Toren der WM-Gegner herumstümpern wird, wie er es zuletzt in der Bundesliga getan hat. Auch die pomadigen Auftritte von Ernst wird wohl niemand vermissen. Und Owomoyela, der fast immer mehr Fehler als gelungene Aktionen produziert, hätte der Mannschaft auch nicht unbedingt weitergeholfen. Selbst wenn sich die Deutschen bei der WM blamieren sollten, werden die wenigsten den Grund dafür in der Nichtberücksichtigung von Kuranyi, Ernst und Owomoyela sehen. Besonders mutig war sie also nicht, die Entscheidung Klinsmanns.“ Frank Hellmann (FR) faßt zusammen: „Wenn Klinsmann eines bewiesen hat, dann dies: Er bleibt ein unberechenbarer Zeitgenosse.“

FAZ: David Odonkor, der Hochgeschwindigkeitsfußballer
SZ: Odonkor dürfte der schnellste Spieler der WM werden – er läuft die 100 Meter in 10,7 Sekunden

Tsp: Kevin Kuranyi, der Verlierer

SpOn: Experten meckern, Fans zetern, doch die Auswahl des Bundestrainers ist mutig und logisch – mit einer Ausnahme: Mike Hanke
faz.net: Reaktionen auf die Nominierung

SZ: Aus London – Michael Ballacks böses „Servus“ nach München

FAZ: Luckenwalder Jahrhundertspiel gegen die Nationalelf – Märchen mit ungewissem Ende
faz.net: Video über den FSV Luckenwalde

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