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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Internationaler Fußball

Calcio parlato

Oliver Fritsch | Donnerstag, 18. Mai 2006 Kommentare deaktiviert für Calcio parlato

Birgit Schönau (SZ/Seite 3) gewährt einen Einblick in Italiens Fußballwelt zu Zeiten des Herrschers Moggi: „Dass die Wahrheit nicht auf dem Platz liegt, ist in Italien auch schon vor der Affäre Moggi eine Volksweisheit gewesen. Neben dem ‚calcio giocato‘, dem gespielten Fußball, pflegen die Italiener die Disziplin des ‚calcio parlato‘, des gesprochenen Fußballs. In unzähligen Fernseh-Fußballshows, in denen sich nicht mehr ganz junge Männer in Anzug und Krawatte vor blutjungen Signorinas, die zu Dekorationszwecken so leicht bekleidet wie stumm die Studios schmücken, über Stunden wegen Taktik und Abseitsfalle anbrüllen, war Moggi entweder viel beschworener Beelzebub oder gern gesehener, hofierter Gast. Vergangenes Jahr starb der Fußballtrainer Francesco Scoglio vor lauter Aufregung über seinen Gesprächspartner in einer solchen Fußballshow, seither gilt er als erster Märtyrer des calcio parlato. Moggi pflegte die wenigen kritischen Fragen stets mit einem schiefen Lächeln an sich abprallen zu lassen. Hinter den Kulissen entschied er dann über journalistische Karrieren – nur ihm genehme Reporter durften über Juventus berichten. Die Ermittlungen der Staatsanwälte ergaben auch, dass sich mancher ‚moviolista‘ bei Moggi vor der Sendung Anweisungen abholte. Der moviolista ist der Mann an der Zeitlupe. In Italien gibt es die Zeitlupe für Schiedsrichterentscheidungen sogar im Radio, und moviolista ist ein bürgerlicher Beruf. Naja – fast. (…) Bezeichnend sind die abgehörten Telefonate des Florentiner Klubpatrons Della Valle. Der Lederwarenindustrielle und enge Freund des Fiat-Chefs Luca di Montezemolo hatte den Klub nach dessen Pleite 2002 übernommen und sofort Moggi und Galliani in der Liga den Krieg erklärt. Der Juve-General wies daraufhin seine Schiedsrichter an, den AC Florenz mal ein wenig verlieren zu lassen. Nach sieben Niederlagen kroch Della Valle zu Kreuze und flehte um Hilfe gegen den Abstieg – die Moggi großzügig gewährte. ‚Gewisse Fehler‘, bedankte sich Della Valle nach dem Klassenerhalt in letzter Minute artig am Telefon, ‚werden wir ganz gewiss nicht wieder machen.‘“

Nationale Gewissensprüfung

Peter Hartmann (NZZ) erwartet von der Auswertung der Abhörprotokolle weitere Brisanz: „Wie hält ein Mensch das aus, selbst wenn er Ohren hat wie Weltraumantennen und Italiener es leidenschaftlicher tun als alle anderen: 416 Mal am Tag hing der korrupte Juventus-Generaldirektor Luciano Moggi durchschnittlich an seinen sechs Mobiltelefonen, davon zwei slowenischen, die er abhörsicher wähnte. Die seitenlangen Wiedergaben seiner pausenlosen Gespräche in den Zeitungen sind der Stoff, der Italien derzeit zum Staunen, zur Erkenntnis des schon immer Vermuteten und zum Lachen bringt und ihn selber zum Weinen – nach dem stundenlangen Verhör der neapolitanischen Staatsanwälte, als ihm klar wurde, dass er das Spiel verloren hatte, brach der Skrupellose in Tränen aus. (Zuflucht zur Taktik des Mitleiderregens, eine emotionale Schwalbe?) Die Ermittler hatten ihn acht Monate abgehört, von November 2004 bis Juni 2005, zehn Carabinieri lauschten in Schichten, insgesamt haben sie hunderttausend Gespräche auf Band von den Manipulationen, die Italien in den grössten Fussballskandal stürzten und in eine nationale Gewissensprüfung, die erst angefangen hat.“

NZZ-Bericht Barcelona–Arsenal (2:1)
BLZ-Bericht Barcelona–Arsenal (2:1)

Morgen mehr über das Finale …

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