Internationaler Fußball
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| Sonntag, 21. Mai 2006Moggi-Skandal – Nikos Tzermias (NZZ) über das nackte Italien: „Moggis Machenschaften haben grosse Strukturschwächen des Calcio-Systems entblösst. Der Juve-Generaldirektor schien skrupellos den Umstand auszunutzen, dass im Fussballverband zuverlässige Regeln – und vor allem auch effiziente Kontrollmechanismen fehlen. In mannigfacher Hinsicht wurden die Böcke zu Gärtnern gemacht. Die kapitalkräftigen Klubs dominierten die Federcalcio-Führung, der die Schiedsrichter, die Mitglieder der Sportjustiz und die Buchprüfer unterstellt, statt dass sie ihnen gleichgestellt wurden. Es wurde eine heile Welt der Sportlichkeit vorgegaukelt, obwohl der Calcio immer mehr zum Spielball handfester Geschäftsinteressen geworden war. Im italienischen Fussball werden jährlich über 5 Milliarden Euro umgesetzt, drei Profivereine sind an der Börse kotiert, und allein die Fussballvereine der Serie A haben Schulden von über 1,5 Milliarden Euro aufgetürmt. Trotzdem galten für den Fussball bisher weit weniger strenge Regeln als für die übrige Wirtschaft. Dabei dürften zwischen dem ‚reinen‘ Sport und dem Kommerz erst noch erhebliche Zielkonflikte bestehen. Gemäss dem britischen Sportsoziologen John Williams lebt die Faszination des Fussballspiels von der Unberechenbarkeit, derweil die Geschäftswelt nach dem Gegenteil strebe und das Resultat möglichst zu beeinflussen versuche. Der frühere EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti hat beklagt, dass sich die Politik der Welt des Fussballs regelrecht untergeordnet habe und diese eine ungewöhnliche Vorzugsbehandlung geniesse.“
Servil
Vincenzo Dello Donne (FAS) blickt sorgenvoll auf Italiens Nationalelf: „Wie ein Krake beherrschte Moggi beinahe die gesamte Serie A. Seine Tentakeln reichten überallhin, auch zu Lippi. In jovialem Ton besprach der Nationaltrainer technische Details mit ihm – welche Spieler er etwa für den Kader der Azzurri nominieren solle. Wobei Moggi klare Empfehlungen abgab. Aber es ging auch um ganz Profanes: ob der graumelierte Toskaner Rabatt für Fiat-Autos erhalten könne, die sein Sohn oder seine Tochter erstehen wollten. Und: ob es nicht besser sei, den Juve-Star Alessandro Del Piero auch in der Nationalmannschaft auf die Bank zu setzen, damit er gegenüber Juve-Trainer Fabio Capello keinen Stammplatz reklamieren könne. Lippis Tonart in den Gesprächen wurde von den Staatsanwälten als servil beschrieben. In Moggi sah Lippi einen Wahlverwandten, dessen Protektion sich auch für die Position des Nationaltrainers als nützlich erwies. (…) Heikel ist Lippis WM-Mission auch wegen der Verwicklung einiger Spieler in den Wettskandal.“ Benedikt Voigt (Tsp) ist aller Illusionen beraubt: „Die Liste der Länder mit Fußballskandalen wird länger und länger. Neben Deutschland kämpften auch Tschechien, Belgien, Griechenland und Finnland gegen Sportbetrüger. Und natürlich Italien. Dort wird gegenwärtig die gesamte Serie A erschüttert, das Ausmaß ist noch lange nicht klar. Der Fußball hat schon länger seine Unschuld verloren. Wer immer noch an die Ehrlichkeit im Sport glaubt, ist hoffnungslos naiv.“
Welt: Spieler und Sponsoren wenden sich von Juventus ab
BLZ: Lippi wird in der Sache Moggi verhört – Konsequenzen schließt er aus
Abwanderung
Fußballer aus Brasilien, ein Importgut – Georg Bucher (NZZ): „Manch hochgepriesener Brasilianer ist im europäischen Fussball kläglich gescheitert; dem Image der Marke hat dies nicht geschadet. Seit mehreren Jahren sind Fussballer der Exportschlager, Ausdruck einer Kultur, die sich von anderen durch ihre ästhetisch-tänzerische Dimension wesentlich unterscheidet. Auch wenn die Bühnen irgendwo in Asien oder Osteuropa stehen, in einer dritten oder fünften Liga, der Duft artistischer Darbietungen wird ästimiert. Erst recht auf höchstem Niveau in Italien und Spanien. In der schönen Fassade gibt es freilich dunkle Stellen. Fehlende Transparenz und schlechte Vermarktung lassen die brasilianischen Ligen darben. Spieler werden zum Teil mit Hungerlöhnen abgespeist, derweil einige Impresarios im grossen Stil Geld machen und zunehmend Einfluss in den Klubs gewonnen haben. Von einer Mafia zu reden, wäre sicher verfehlt. Doch enthält das konspirativ-korporatistische System auch mafiose Elemente. Es vernichtet Werte, statt Investoren anzulocken, und drängt die Vereine als schwächste Glieder der Kette an einen wirtschaftlichen Abgrund. (…) Parallel zur Abwanderung der Sportler aus verschiedenen Disziplinen – neben Fussballern sind Basket- und Volleyballer besonders gefragt – verzeichnet Brasilien eine Emigrationswelle mittlerer und unterer Schichten, deren Rimessen (jährlich über 5 Milliarden Dollar) die Not in einem Land mit riesigem Sozialgefälle lindern. Auch die Mitte-Links-Regierung von Lula da Silva vermochte den Trend nicht zu kehren, hat ihn vielmehr verstärkt. Bis in die sechziger Jahre war Brasilien noch ein Einwanderungsland, mit sich selbst und seinen Ballkünstlern beschäftigt. Heute ziehen diesen andere Künstler hinterher und stellen die ebenso schillernde wie prekäre, von Gegensätzen beflügelte Mentalität weltweit aus. Überschäumende Freude ist ein Schlüsselwort brasilianischer Kultur und wird sich in Weggis zur Genüge manifestieren, Niedergeschlagenheit und Existenzangst wohl kaum.“
NZZ: Rio de Janeiro, Stadt des Fußballs – die temporäre Leichtigkeit des Seins