Ball und Buchstabe
Es gibt Favoriten, aber keine Sicherheit
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| Freitag, 9. Juni 2006Axel Kintzinger (FTD) erwartet ein entspanntes, fröhliches Fest: „Bei den Vorbereitungen haben sich die Deutschen nicht lumpen lassen. Klar, wir können nicht von unseren Wurzeln lassen und umrahmen – Land der Dichter und Denker, das wir gerne sein wollen – das Sportereignis mit einem aufwändigen Kulturprogramm. So groß und auch so unberechenbar, dass die grauen Herren der Fifa die Reißleine zogen. Weil ihnen Angst machte, was André Heller, Peter Gabriel und Brian Eno da anstellen könnten. Ist es nicht erstaunlich, wie souverän man auf diese spießige Unverschämtheit des Herrn Blatter reagiert hat? Und bewundernswert ist die Geduld, mit der die Leute die Besetzung der Republik durch die Fußball-Geldmaschine aus Zürich samt seiner Financiers hinnimmt. Der Marketingterror wird eher belächelt als attackiert – was lässig ist und nicht devot. Weiß doch eh die ganze Welt, dass die Mannschaftsbusse ‚Made in Germany‘ sind, auch wenn die Insignien seines Herstellers infantil mit dem Logo einer koreanischen Automarke überklebt werden. Selten haben es Sponsoren geschafft, mit so viel Geld so viel Missachtung zu generieren. Wie die Gesellschaft, so will auch der deutsche Fußball alles richtig machen: Nieder mit dem Querpass, Tod dem Spiel zurück. Jürgen Klinsmann predigt die bedingungslose Offensive, was in Fußball-Deutschland unerhört ist. Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen, hat Klinsmann gelernt. Das hört sich zwar an wie Phrasen aus der New Economy, und auch der Ton, in dem der Bundestrainer das sagt, klingt danach. Aber die Gültigkeit dieser These ist durch die Entwicklung des globalen Fußballs belegt. Anders als in der Ökonomie übrigens, was einen zentralen Unterschied dieser beiden Welten ausmacht. Und den Reiz dieses Sports. Fußball bleibt unberechenbar, immer. Könnte man das Spiel der Welt, die populärste aller Sportarten, so planen wie eine Firmenübernahme, wäre Deutschland nicht ins Finale der letzten WM gekommen, Griechenland nie Europameister geworden. Es gibt Favoriten, aber keine Sicherheit.“
Riskant, aber ohne Alternative
Holger Steltzner (FAZ/Leitartikel) unterstreicht die gute Wahl Jürgen Klinsmann: „Der unabhängige Geist aus Kalifornien entpuppte sich als erster Radikalreformer in der hundertjährigen Geschichte des DFB; stärker noch als Kirchhoffs Steuerpläne zur Bundestagswahl spalteten Klinsmanns Methoden Fußball-Deutschland. Der hart und akribisch arbeitende Trainer suchte und fand junge hoffnungsvolle Spieler und unterwarf sie einem strengen Auswahlverfahren. Die Leistungen in den Vorbereitungsspielen glichen einer Achterbahnfahrt. Klinsmann, als Trainer so unerfahren wie seine Mannschaft, blieb im Gegensatz zum Teamchef Beckenbauer keine Zeit für einen langfristigen Aufbau einer Meistermannschaft. Er kam als Retter in der Not, ausgestattet vom DFB mit allen Vollmachten und dem Auftrag, die WM im eigenen Land doch noch zu gewinnen. Vor dieser Herausforderung drückte sich manch gestandener Trainer, aber Klinsmann nahm sie an. Er setzte alles auf eine Karte. Klinsmanns Weg ist riskant, aber ohne Alternative. Wie sonst hätte man in nicht einmal zwei Jahren aus von Selbstzweifeln geplagten Spielern eine modern spielende Mannschaft mit Siegeswillen formen sollen? Mit beherztem und einfallsreichem Offensivfußball können sich die Deutschen in die Herzen der Fans spielen. Wenn dann der Funke der Begeisterung auf die jungen Nationalspieler zurückspringt, könnte Deutschland sogar zur Überraschungsmannschaft werden. Und sollte das Los lauten: Raus mit Applaus, dann werden andere Teams tollen Fußball spielen und die Fans begeistern. Wie auch immer: Bis zum 9. Juli darf Deutschland als Gastgeber der größten Sportparty der Welt glänzen.“
Mythos einer vermeintlich heilen Welt
Hans Werner Kilz (SZ/Leitartikel) wendet sich ab: „So heiter, unbelastet und rund, wie es scheinen mag, rollt der Ball schon lange nicht mehr. Der Volkssport Fußball kriselt. Er entpuppt sich letztlich auch nur als eine Variante des Wirtschaftssystems, das Höchstleistungen fordert und diese Höchstleistungen im Erfolgsfall überproportional honoriert. Borussia Dortmund, Juventus Turin, FC Chelsea stehen sinnbildlich für Misswirtschaft, Korruption und Größenwahn, für eine New-Economy-Blase der Kickerbranche – in der Gefahr, bald zu platzen. Kartellähnliche Verbände wie Uefa und Fifa treiben die Vermarktung zum Äußersten, ebnen den Weg zum sinnentleerten Wettbewerb, in dem die finanziell Stärkeren dominieren. (…) Wer Fußball noch immer leichtfertig als kulturelles Ereignis überhöht, bei dem sich Erfolg und Anerkennung harmonisch fügen, huldigt einer längst vergangenen Zeit, in der Siege einer Fußball-Elf zum strahlenden Mythos einer vermeintlich heilen Welt verklärt wurden.“
Zeichen
Frank Junghänel (BLZ/Leitartikel) erblickt in den Stadien Repräsentatives: „Klinsmanns Fußballmannschaft steht für das moderne Deutschland. Ist es erwähnenswert, dass drei Kreativspieler, Ballack, Schneider und Borowski, aus dem Osten stammen? Die beiden torgefährlichsten Stürmer, Podolski und Klose, wurden in Polen geboren, Asamoah in Ghana. Man muss das nicht überbewerten. Fünf Millionen Arbeitslose, viele davon im Osten, werden daraus keine Zuversicht schöpfen. Und ein farbiger Spieler in der Mannschaft befreit Deutschland noch nicht von seiner Verantwortung, mehr gegen jede fremdenfeindliche Tiefenströmung im Land zu unternehmen. Bei allem Glauben an das gute Gefühl, die WM kann die soziale Wirklichkeit nicht ändern, weder im eigenen Land noch sonstwo. Sie kann Signale senden, die etwas über den Gastgeber erzählen. Die deutlichsten Signale aus Deutschland sind bisher seine Stadien. Jedes kann davon berichten, wie sich das Land verändert hat, wie sich seine Geschichte in Architektur übersetzen lässt. Eröffnet wird die WM in der Münchner Arena, dieser eleganten Shoppingmall des Fußballs, die der sportiven Kalkulation eine perfekte Kulisse bietet; das Endspiel findet in Berlin statt, wo aller Modernisierung zum Trotz sich der Geist der Vergangenheit hinter jeder Steinsäule zu verstecken scheint. Auf dem Wege liegt Schalke, wo man dem Rasen ein fahrbares Bett gebaut hat, um ihn vor Widrigkeiten zu schützen. Da ist Leipzig, dessen Arena in das alte Sportstadion hineingepflanzt wurde. Wie in einem erloschenen Vulkan wächst aus dem Früheren das Morgen hervor. Wenn das kein Zeichen ist.“
NZZ-Leitartikel: Deutschland sieht rund
Mit den Mitteln der Vergangenheit
Sehr lesenswert! Stefan Osterhaus (NZZ) schreibt über das gespannte und ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrem Fußball und ihrer Fußballgeschichte: „Die Deutschen hadern mit ihrem Fussball und seinen Qualitäten. Debatten haben sich gesponnen, und mit ihnen ging die Verklärung einher. Es ist eine verräterische Debatte, die in Untertönen manches von dem trägt, was Klaus Theweleit erst kürzlich als ‚Selbstzerfleischung‘ beschrieben hat: die Ungnade mit dem eigenen Fussball und dessen Protagonisten. Gegenwärtig ist dies die Domäne des Boulevards, der sich in Klinsmann ein Hassobjekt erspäht hat. Vor ein paar Jahren wurden solche Auseinandersetzungen im Feuilleton geführt, nichts durfte gut, gar nichts richtig sein. Es bedarf schon einiges an Selbstzweifeln, um dem deutschen Fussball der siebziger Jahre in seinen schönsten Augenblicken ein ‚niederländisches Moment‘ zu attestieren, wie es der Fussball-Historiker Dietrich Schulze-Marmeling einmal tat. Doch während sich der Fan bis vor wenigen Jahren am meist zufriedenstellenden Ergebnis weidete, währt die Diskussion um den ästhetischen Nährwert des deutschen Fussballs noch immer. Ausgelagert ins Feuilleton, wird ein festgefügtes Bild skizziert, das keine Zeitlupe revidieren kann (zu Gemeinplätzen sind Märchen wie jene geworden, dass im WM-Final von 1974 mit Holland die deutlich bessere Mannschaft unterlag; dass dem deutschen Fussballer per Geburtsfehler das Technik-Gen fehlt). Einzig der EM-Titel von 1972 wird als legitim empfunden, herausgespielt mit grosser Überlegenheit, gespeist von den Pässen Günter Netzers, einer emblematischen Figur, bis heute der Referenzpunkt des sogenannten anderen deutschen Fussballs. All die Legenden vom schönen und guten Fussball, befeuert einst von der schlichten Gleichung Menottis, der zwischen rechtem (destruktivem) und linkem (offensivem) Fussball unterscheiden wollte, sind in Deutschland unwiderruflich an die Figur Netzers geknüpft, der Mitte der neunziger Jahre ein Revival erlebte. Dass dieses exakt in jene Phase fiel, in der die inländischen Kicker an der WM in den USA nicht über den Viertelfinal hinauskamen, illustriert eher, dass mangels des Diskussionsobjekts Erfolg (und dessen Ursachen) ein Loch gestopft werden musste. (…) Die Widerstände, mit denen Klinsmann bei durchaus vernünftigen Vorhaben zu kämpfen hatte, zeigen den Trotz einer erstarrten Institution, die die Erfolge der Vergangenheit mit den Mitteln der Vergangenheit reproduzieren will.“
Keine Lebenswelt geht unter
Eröffnungsspiel in München – viele WM-Touristen werden den Fehler begehen, direkt in die U-Bahn in Richtung Fröttmaning mit dem Ziel Allianz Arena zu steigen. Albert Schäffer (FAZ) warnt davor, den Charakter und die Geschichte Münchens zu ignorieren: „Es gilt, antizyklisch in den Osten Münchens aufzubrechen, nach Giesing zum ‚Sechzger-Stadion‘. Mit ihm, dem ersten der magischen Orte, verhält es sich wie mit einer Hollywood-Diva, die in die Jahre gekommen ist: Wer klug genug ist, den Respektsabstand zu wahren, wird den Zauber vergangener Tage nicht verpassen. Das ‚Sechzger-Stadion‘ steht für eine Zeit, in der München noch nicht versuchte, eine Weltstadt zu mimen. (…) Das Olympiastadion ist der zweite magische Ort des Fußballs in München – dort wurde 1974 Franz Beckenbauer mit der deutschen Mannschaft Fußballweltmeister. Beckenbauer, geboren in Giesing, fußballerisch gestählt im ‚Sechzger-Stadion‘, groß geworden beim FC Bayern, ist seiner Heimatstadt zwar längst entwachsen. Sein Status als Ortsheiliger ist aber unantastbar (…). Die Fußballweltmeisterschaft 1974 symbolisiert eine der glücklichsten Perioden der jüngeren Münchner Geschichte. Der Anspruch, die ‚heimliche Hauptstadt‘ Deutschlands zu sein, wurde als pure Selbstverständlichkeit betrachtet, die Frage, warum das Endspiel in München stattfand, gar nicht verstanden: ‚Wo denn sonst?‘ (…) Härter hätte der Kontrast in der Ahnenreihe der Münchner Stadien kaum ausfallen können. Die Ouvertüre mit dem ‚Sechzger-Stadion‘ mit seiner traditionellen Architektur inmitten eines gewachsenen Stadtviertels – jetzt nur noch Heimstätte für Amateur- und Jugendmannschaften. Dann das Olympiastadion mit seinem transparenten, beschwingten Dach im Herzen eines künstlichen Arkadiens, des Olympiaparks – ungeliebte Zwischenstation für die beiden Münchner Spitzenclubs, weil die Stadionarchitektur mit ihrer Weitläufigkeit viel optische und emotionale Distanz zwischen Spieler und Zuschauer legte. Und schließlich die Allianz-Arena in einer städtebaulichen Wüste im Münchner Norden als vorläufiger Endpunkt – funktionalistischer und merkantiler Purismus, in eine Kunststoffhülle verpackt. Die drei Stadien verkörpern den Wandel der Münchner Lebenswelten. Zum Charme der bayerischen Landeshauptstadt gehört dabei, daß keine der Lebenswelten ganz untergeht, sondern sich zumindest ein wenig behaupten kann.“
FR: WM-Wahnsin – WM-Kondome in der Apotheke
NZZ: Deutschlands WM-Geschichte, neu gelesen
SZ: Die Sagen des deutschen Fußballs schreiben Eröffnungsspielen eine geradezu magische Wirkung zu