WM 2006
Sie werden sich viele Freunde machen
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| Sonntag, 11. Juni 2006Das 4:2 der Deutschen gegen Costa Rica hinterläßt bei deutschen und ausländischen Journalisten einen uneinheitlichen Eindruck. Was überwiegt: die Freude über vier Tore oder die Bedenken wegen der zwei Gegentore? Eher die Bedenken. Doch in zwei Punkten sind sich alle einig: Philipp Lahm ist der Sieger, Arne Friedrich der Verlierer.
Der Independent ist überrascht vom deutschen Spiel: „Mit ‚unteutonischem‘ Elan und Abenteuer haben die Deutschen die 18. Episode der Welt-Fete dynamisch gestartet. Jürgen Klinsmanns aufregende, junge Mannschaft wird zwar nicht Weltmeister werden – die Abwehr ist viel zu löchrig –, aber sie werden sich viele Freunde machen.“ Die Times läßt dieses Lob nicht durchgehen: „Deutschland zeigte minimale Klasse. Für die neutralen Beobachter allerdings darf man hoffen, daß nach sovielen langweilen Eröffnungsspielen, dieses Match ein Omen für den Offensivfußball war.“ Lob für Bastian Schweinsteiger im Independent: „Trotz dem erfahrenen Teamkollegen Miro Klose, der Klinsmann am meisten half, sich zu entspannen, ist es Schweinsteiger, der die Spielphilosophie Klinsmanns am besten ausdrückt.“
Es lebe der Fußball!
Iván Castello (El País) kann auf Stereotypen über Deutschlands Fußball nicht ganz verzichten: „Mit Toren und Glück, also gemäß ihres Stils, widmeten sich die Jungs von Klinsmann dem Ballbesitz. Dem Angriff. Dem gezielten Schuß. Dem Abschluß. Deutschland ließ seine Maschinerie ohne Sperenzchen oder Zweifel anlaufen. Auf Angriff, wie es ihr Stil-Handbuch vorschreibt, erprobt in anderen Kämpfen der Vergangenheit, effektiv und wertvoll. Es war ein fantastisches Spiel bis zur 17. Minute, als das 2:1 fiel. Costa Rica antwortete ehrenvoll, die sympathischen Ticos gaben sich nicht geschlagen. So wurde ein Abseits aufgehoben (es war der ungeschickte Friedrich), als der Ausgleich fiel. Das Tor erinnerte an das von Rincón für Kolumbien gegen Deutschland an der WM 1990. (…) Da der Ball ein deutscher Ball war, hätte nach dem 3:1 nur ein Wunder den Costaricanern den Ausgleich bescheren können. Auf der Bank lächelte sogar Kahn, der König, wenn es ums Aus-der-Haut-fahren geht. Die Deutschen hatten nicht auf Ergebnis spekuliert, eine angenehme Überraschung in diesen Zeiten des Utilitarismus. Sie verfolgten weiter ein viertes Tor, das schließlich in Form eines gewaltigen Weitschusses ‚made in Bundesliga‘ durch Frings fiel. Wir haben folgenden Fall: Gut für die Deutschen, gut für die Costaricaner, die sich gut geschlagen haben, gut für die WM 2006. Das riecht angenehm (nach Bier, warum auch nicht?). Es lebe der Fußball!“
Spontan, sprunghaft und jederzeit offen
Philipp Selldorf (SZ) verweist auf den Unterhaltungsfaktor: „Die Welt hat sich auf jeden Fall blendend amüsiert. Die deutsche Nationalelf hat das unterhaltsamste, spektakulärste und freudigste WM-Eröffnungsspiel der Menschheitsgeschichte geboten. Deutschland hat sich ziemlich genau so dargestellt, wie es seine Politiker und obersten Marketingleiter für die Dauer des großen Turniers erwünscht haben: nicht gründlich, penibel, perfektionistisch und humorlos, sondern spontan, sprunghaft und jederzeit offen für menschliche Fehler. Das hat dem eintönigen Deutschlandbild in aller Welt sicherlich neue Farbtupfer hinzugefügt. (…) Es mag nach notorischem deutschen Kritizismus und nach Spielverderberei klingen, aber: Solche Fehler kann sich eine Elf mit Ambitionen unter Ernstfallbedingungen nicht leisten.“
Michael Horeni (FAZ) hätte sich einen stärkeren Impuls vom ersten Spiel erhofft: „Die Anschubhilfe jedoch, die sich das Team von Jürgen Klinsmann durch eine begeisternde Premiere erhofft hatte – oder vielleicht auch nur erträumte –, blieb aus. Von einem selbsttragenden Aufbruch war wenig zu sehen und zu spüren. Kein Vergleich jedenfalls zur Leichtigkeit des Anfangs vor vier Jahren, als acht Volltreffer gegen Saudi-Arabien die deutschen Kräfte und Sehnsüchte wachsen ließen. Auf der Suche nach Gründen wird in den kommenden Tagen nicht nur die latente deutsche Instabilität in Sicherheitsfragen immer wiederauftauchen. Auch die Frage, was die Mannschaft ohne Michael Ballack an internationalem Wert besitzt, hat schon gegen den vermutlich schwächsten Gruppengegner eine nicht überzeugende Antwort erhalten.“
Unwucht
Christof Kneer (SZ) sieht Bekanntes: „Für die Zuschauer in aller Welt, die Klinsmanns Projekt nur am Rande verfolgt haben, bot die deutsche Nationalelf praktischerweise einen kleinen Schnelldurchlauf ihres bisherigen Schaffens an. Die erste Hälfte war so etwas wie eine bündige Zusammenfassung der vergangenen 22 Monate: Deutschland zeigte der Welt sein Schweini-Poldi-Lächeln und gelegentlich auch seine Abwehrfratze. Bernd Schneider spielte auf rechts wieder einmal wie der große Straßenjunge, der schnell noch ein paar Tricks machen möchte, bevor die Mama ihn zum Abendessen ruft. Allerdings hieß sein Partner auf der Seite Arne Friedrich, und bei ihm kamen die Angriffe in unschöner Regelmäßigkeit zum Erliegen. So litt das deutsche Spiel schon früh unter akuter Unwucht; Deutschland hing schwer nach links, und es hing bis zum Ende.“
Asynchron
Roland Zorn (FAZ) bewertet die Leistung der Deutschen als unsolide: „Ohne sorgsame Sicherung berannte die manchmal sehr jugendlich und selten reif und abgeklärt anmutende Mannschaft das Tor. So spielfreudig, beweglich, angriffslustig sie ihren Vorwärtsdrang austobten, so unsicher, disharmonisch und asynchron wirkte die deutsche Abwehr, allen voran Arne Friedrich. Die Deutschen, die Tim Borowski nicht zu führen verstand, suchten allzu bedingungslos den Vorwärtsgang und leisteten sich bedenklich viele Schnitzer in der Defensive.“
Mehr als die Pflicht
Philipp Lahm ist der Held des Spiels. Die SZ schreibt: „Mit 1,70 Metern der Größte. Vor nicht einmal drei Wochen am Arm operiert – und gestern nach sechs Spielminuten erster Torschütze der WM 2006. Seine Gegenspieler landeten immer wieder mit einem Schleudertrauma auf dem Hosenboden, so frech hatte er sie soeben mit seinen Soli und Flanken genarrt. Nebenbei leistete er in der Deckung mehrfach Erste Hilfe, wenn Friedrich, Mertesacker und Metzelder mal wieder nicht eins waren. Vorzüglich.“ Die FAZ ist derselben Meinung: „Schaffte mit einer bemerkenswerten Einzelleistung das 1:0 – ein Treffer, der ihm spürbar Rückenwind gab. Mutig in der Offensive. Setzte seine Schnelligkeit auch in der Defensive wirkungsvoll ein.“ Auch die Welt lobt Lahm: „Er war das erste deutsche Verletzungsopfer der WM-Vorbereitung, gestern wurde ausgerechnet er zum ersten WM-Helden. Mit einem Traumschuß vom Strafraumeck in den Winkel eröffnete er auf spektakuläre Weise den Torreigen dieser WM und rechtfertigte das Vertrauen von Jürgen Klinsmann. Im Grunde übertraf er es sogar, denn Toreschießen gehört wahrlich nicht zu seinen Pflichten.“
FAS: Philipp Lahm, Maradonas Liebling
Fahrige Fehlerquelle
Arne Friedrich steht im Mittelpunkt der Kritik. Die FAZ schreibt: „In der Defensive mäßig, in der Offensive schwach und weitgehend wirkungslos. Er schlug mehr als eine mißlungene Flanke. Gab zudem bei den Gegentreffern eine schlechte Figur ab. Er hob beim ersten und beim zweiten Treffer des Gegners das Abseits auf.“ Die SZ geht mit dem Berliner gnädiger um: „Der Berliner bestätigte ziemlich eindrucksvoll seine Leistungen der vergangenen Wochen. Schwächster deutscher Spieler. Startete durchaus mutig, doch sein Aussetzer beim ersten Gegentor, als er gedankenverloren die deutsche Abseitsfalle aufhob, verwandelte ihn wieder in eine fahrige Fehlerquelle. Nutzte seine durchaus vorhandenen Räume in der Offensive leider nur zu Sicherheitspässen oder unpräzisen Hereingaben. Nach der Pause mit weniger Ballkontakten. Kein Nachteil für das deutsche Spiel.“
SZ: Die deutsche Mannschaft in der Einzelkritik
Heimspiel ohne Inspiration
Ralf Wiegand (SZ) schreibt über den 2:0-Erfolg Ecuadors gegen Polen: „Statistisch betrachtet war vor der fantastischen Kulisse mit allerlei zu rechnen, aber nicht mit einem Sieg der Südamerikaner. Aus ecuadorianischer Sicht handelt es sich bei Gelsenkirchen ja um eine Art Atlantis, eine Stadt irgendwo ganz tief unten. Der ecuadorianische Verband bittet zu seinen Heimspielen ja in die Hauptstadt Quito auf 2.800 Metern Höhe. Dort geht den meisten Gegnern zwar so früh die Puste aus, dass sich Ecuadors Fußballer mit sieben Heimsiegen zum zweiten Mal nacheinander für eine WM qualifiziert haben. Andererseits benehmen sie sich dafür im Flachland seit gut fünf Jahren ungefähr so wie Heidi in der großen Stadt: Sie vermissen die Berge und verlieren jedes Spiel. Den einzigen Auswärtssieg in der Qualifikation schafften die Ecuadorianer in Boliviens Hauptstadt La Paz, noch 1.200 Meter höher gelegen als Quito. Deshalb erwartete die halbe Welt – zumindest aber ganz Polen – einen Sieg ihrer Mannschaft. Sagenhafte 35.000 Landsleute in Rot und Weiß hatten es irgendwie geschafft, Karten zugelost zu bekommen, es war ein Heimspiel. (…) Den Polen mangelt es an Kreativität und Inspiration.“
Reserven
Christian Eichler (FAZ) notiert die Bildungserfolge Sven-Göran Erikssons: „Er hat das englische Team stärker gemacht, stabiler, europäischer. Zugleich hat er es aber auch limitiert. Eriksson ist kein Trainer, der Spieler reizt, provoziert, eine Extraleistung aus ihnen herauszukitzeln versucht. Er sagt, die wichtigste Aufgabe des Trainers sei es, eine gute Atmosphäre zu schaffen, die Spieler reden zu lassen, auf sie zu hören, ihnen Selbstvertrauen zu geben. Diese Art Teamführung – Einheit durch Streicheleinheit – funktioniert aber nur bei Teams, die alles haben, alles können. Das war lange nicht so, könnte aber nun der Fall sein, denn England hat eine fabelhafte Spielergeneration im besten Alter, mit Weltklasseleuten auf mindestens sechs, sieben Positionen. Zumindest gäbe es keine Entschuldigung mehr, wenn dieses Team diesmal nicht groß herauskäme. (…) Er hat auch verstärkt an einer alten Schwäche der Engländer gearbeitet: der mangelnden Fähigkeit, den Ball – und damit auch ein Ergebnis – zu halten. Diese Kunst, Gegner nicht nur mit Tempo und Physis zu beherrschen, sondern auch mal ohne großen Aufwand zu kontrollieren, ist mitentscheidend, um am Ende einer WM noch Reserven zu haben.“