WM 2006
Wie ein Maultier in der Wüste
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| Montag, 12. Juni 2006Christian Eichler (FAZ) amüsiert sich darüber, wie die Engländer ihr kümmerliches 1:0 gegen Paraguay rechtfertigen: „Manche mögen’s heiß: Das wäre kein passender Titel für den englischen WM-Film. Vierzig Jahre lang standen sich Englands Kicker selbst im Weg. Nun kommt ihnen auch noch die Erderwärmung in die Quere. Deutschland, das bekannte Tropenparadies, lähmte englische Beine und mußte nach einem lauen Sieg gegen ein biederes Team aus Paraguay als Entschuldigung herhalten. Vor allem für die zweite Halbzeit, in der sich ein erklärter Weltmeisterschaftsfavorit bei gerade mal 27 Grad so geballt nach rückwärts orientierte, zum eigenen Strafraum, als gäbe es dort Schatten oder kühle Cocktails. Schatten gab es aber nur an der Mittellinie, unter dem gigantischen Videowürfel am Dach der Frankfurter Arena. Torwart Paul Robinson demonstrierte die ganze Hilflosigkeit des englischen Aufbauspiels, als er einen Abschlag wie eine Silvesterrakete gegen den Videowürfel schoß. Es gibt einen englischen Hitze-Komplex, seit man 1970 als Titelverteidiger das Viertelfinale gegen Deutschland, die ‚Hitzeschlacht von Leon‘, nach 2:0-Führung noch verlor. Das letzte jener Hitzespiele, bei denen die sonst lauf- und konditionsstarken Engländer in der zweiten Hälfte plötzlich den Dienst verweigern wie ein Maultier in der Wüste, war das Viertelfinale gegen Brasilien vor vier Jahren. (…) Nachdem die Engländer es nicht schafften, den Vorsprung auszubauen, geriet ihr Versuch, das Spiel in der zweiten Hälfte einzuschläfern und Kräfte zu sparen, zu einer einzigen Notstandsdarbietung. Eriksson, einst Meistertrainer von Lazio Rom, versucht seit langem, das englische Spiel um italienische Coolness zu bereichern. Ohne Erfolg. Italiener verstehen es, das Leben aus einem Spiel zu nehmen. Wenn Engländer das versuchen, töten sie nur ihr eigenes Spiel.“
Ohne Einfall
Nach dem 0:0 gegen Trinidad und Tobago bewertet Ronald Reng (FTD) die Schweden neu: „Optimistisch betrachtet hat das 0:0 wenig an Schwedens Chancen aufs Achtelfinale geändert: Ein Sieg im Spiel gegen Paraguay würde wohl genügen. Doch Schweden kam in der Realität an. Besonders in deutschen Zeitungen war die Elf vor Turnierbeginn in den Himmel geschrieben worden; von Journalisten, die Schweden nie haben spielen sehen, sondern nur die Namen der Offensive lasen: Freddy Ljunberg, Zlatan Ibrahimovic, Henrik Larsson. Tatsächlich ist dieses Schweden eine gute, aber keine außergewöhnliche Elf.“ Richard Leipold (FAZ) fügt hinzu: „Manchmal lastet ein Unentschieden auf den Schultern der Spieler so schwer wie eine Niederlage. So muß es den Stars aus Schweden gegangen sein. Während die Kicker aus der Karibik sich von den Zuschauern feiern ließen, verschwanden die Skandinavier wie geschlagen in den Katakomben. Als einer der sogenannten Geheimfavoriten angetreten, hatten sie ihren Start ins Turnier verpatzt. Sie hatten nicht so schlecht gekickt, wie das Ergebnis vermuten läßt. Aber ihnen fiel nichts ein, den karibischen Gefühlen des Gegners etwas Wirkungsvolles entgegenzusetzen.“
Klassisch holländischer Trainerstil
Christoph Biermann (SZ) referiert das Selbstlob des Trainers von Trinidad und Tobago: „Nach dem sensationellen 0:0 konnte Leo Beenhakker der Versuchung nicht widerstehen, die Welt in die Gesetze seiner Mathematik einzuführen. ‚Im Fußball sind zwei plus zwei nie vier, sondern meistens drei oder fünf‘, sagte er. Besonders wenn man ein so ausgeschlafener Bursche ist wie der ehemalige Trainer von Real Madrid, Ajax Amsterdam und der holländischen Nationalmannschaft. Kurz nachdem er seinen Außenverteidiger Avery John durch Platzverweis verloren hatte, stellte er nämlich ungewöhnlich um: Für einen Mittelfeldspieler setzte er den Stürmer Cornel Glen ein. Das ist klassisch holländischer Trainerstil, Johan Cruyff etwa hat solche Entscheidungen immer wieder für den Fall propagiert, dass ein Team stark unter Druck gerät. Denn auf diese Weise soll verhindert werden, dass sich noch mehr gegnerische Spieler in den Angriff einschalten. Gegen Schweden klappte es, und Beenhakker war ganz aus dem Häuschen über seinen Coup.“
FR: Trinidads Star Dwight Yorke stellt sich selbstlos in den Dienst der Mannschaft und führt seine Kollegen zur ersten WM-Sensation