WM 2006
Streitlustig
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| Dienstag, 13. Juni 2006Van Persie lästert über Robben – Christof Kneer (SZ) diagnostiziert das Holland-Syndrom: „Puh. Es ist jetzt also wieder so weit: Holland streitet. Es ist ja eine seltsame Art von Todessehnsucht, die dieser Fußball in sich trägt; immer wenn ein Titelgewinn bedrohlich näher rückt, muss man sich schnell einen Streit einfallen lassen. Die legendäre 1990er-Mannschaft war ebenso streitlustig wie die Generation darauf, in der die Surinam-Fraktion um Kluivert, Seedorf und Davids, den Torwart van der Sar nicht beim Jubeln dabei haben wollte. Es war keine gute Nachricht für den Rest der Welt, dass die aktuelle Elf jetzt als die friedliebendste seit Erfindung der Tulpenzwiebel angekündigt wurde. Denn wenn Holland sich lieb hat, ist es schwer zu schlagen, und als Gewährsmann des neuen Waffenstillstandes galt Teamchef Marco van Basten, dem die Kampfhandlungen von 1990 noch so prägend in Erinnerung sind, dass er die Veteranen Kluivert, Seedorf und Davids aus seinem WM-Kader ausgeladen und durch Pazifisten ersetzt hat. Und jetzt das: van Persie versus Robben.“ Sven Flohr (Welt) erachtet die Kritik van Persies als Kleinigkeit: „Zwar gelten van Persie und Robben nicht als Freunde, dennoch waren sie am Tag danach bemüht, den ersten Riß in der niederländischen WM-Harmonie zu kitten. Der Rechtsaußen wollte seine Kritik als konstruktiv verstanden haben, der Linksaußen nahm die ausgestreckte Hand entgegen und verzieh dem Konkurrenten. Er habe es bestimmt nicht böse gemeint. Vielleicht hatte Robben am Morgen ja schon gehört, daß der große Johan Cruyff den Streit für nichtig erklärt hatte. Und was er sagt, ist rund um Amsterdam immer noch Gesetz.“
Heimatliga-Auswahlteam
Christian Eichler (FAZ) ergründet den 3:1-Erfolg der Mexikaner über Iran: „Die Kraft des Kollektivs und der Kontinuität: Solche Heimatliga-Auswahlteams, aus Spielern, deren Namen in Europa kaum einer kennt, eröffnen die Möglichkeit des langen Einspielens und Abstimmens, die europäischen Trainern zumeist fehlt. Die Mexikaner haben sich mehr als acht Wochen lang auf die WM vorbereiten können. Die Liga machte so lange Pause. Der schnauzbärtige Trainer Ricardo La Volpe, ein Argentinier, der sonst eher aussieht wie der Finsterling aus einem Karl-May-Film an einem besonders schlechten Tag, rang sich nach dem Sieg ein Lächeln ab und dankte pflichtschuldigst ‚den Präsidenten und Klubbesitzern dafür, daß wir uns so lange auf die WM vorbereiten durften‘.“
Flaneur im Sturm
Andreas Burkert (SZ) findet einen Grund für die Niederlage des Irans: „Kein WM-Team erlaubt sich einen 37-jährigen Flaneur im Sturm, wie dies Trainer Ivankovic stur mit Kapitän Ali Daei durchzieht. Der frühere Bundesligaprofi ist weder Anspielstation noch wirkungsvolle Vorhut im von läuferischem Aufwand gestützten 4-4-2-System. Der alte Mann mit dem Schnäuzer stand 90 Minuten auf dem Feld, viel lief er nicht, und irgendwann konnten die Kameraden diesen Nachteil nicht mehr ausgleichen in der Hitze. Möglicherweise löst sich ein Problem der Iraner nun von selbst: Daei hat sich am Rücken verletzt.“ Wiebke Hollersen (BLZ) hat denselben Eindruck: „Am riesigsten und steifsten wirkte Ali Daei. Der Kapitän der Iraner ist immer noch 1,92 Meter groß, seine Positionsbezeichnung lautet immer noch: Stürmer, er füllt sie nur nicht mehr aus.“ Die FR geht einen Schritt weiter und fordert, dass der Routinier auf die Bank gesetzt wird: „Einig waren sich die Beobachter ob der Leistung des ohnehin umstrittenen einstigen Bundesligaspielers. Der Veteran des iranischen Fußballs hat seinen Zenit längst überschritten. Der Kapitän muss von Bord.“
Zunehmende Erwartungen
Thomas Klemm (FAZ) erklärt den Mißmut über die Portugiesen, die Angola 1:0 bezwingen: „Es ist ihr guter Ruf, an dem die Nationalmannschaft zu leiden hat, wenn sie sich schmucklos ins Ziel schleppt. Als ‚Brasilien Europas‘ wird die europäische Selecção gerne bezeichnet, und weil die Ballkünstler aus Lusitanien in den vergangenen sechs Jahren nicht nur schön, sondern auch ziemlich erfolgreich spielten, sind die Erwartungen zunehmend größer geworden.“ Christoph Biermann (SZ) wagt einen Vergleich zwischen Fernando Meira und Werner Liebrich: „Für Abwehrspieler ist die Mittellinie schon lange keine Grenze ihres Arbeitsbereiches mehr, Vorstöße ins Territorium des Gegners gehören eigentlich sogar fest zur Spielweise der Defensivleute von heute. Aber Fernando Meira scheute das Übertreten der Mittellinie, als würde ein Werner-Liebrich-Gedächtnispreis vergeben. Dem knorrigen Verteidiger des deutschen Weltmeisters von 1954 hatte Sepp Herberger einst nämlich streng eingeschärft, bloß nicht in des Gegners Hälfte aufzutauchen, und der portugiesische Abwehrspieler hielt sich mehr als fünf Jahrzehnte später immer noch daran.“
In großer Form
Ralf Itzel (BLZ) ist es eine Freude, Luis Figo zuzuschauen: „Zwar endete die Partie mit langweiliger Ergebnisverwaltung, aber den Iberern blieb neben den Punkten die Erkenntnis, dass sich Luis Figo in großer Form befindet. Vor einem Jahr bei Real Madrid aussortiert, hat er sich nun bei Inter Mailand gefangen und geht sichtlich motiviert in sein letztes großes Turnier. Er ersetzte im offensiven Mittelfeld den angeschlagenen Deco. Immer wenn er sich die Kugel schnappte, gewann Portugals Spiel an Klarheit.“
Viva Colonia
Angola-Rufe hallten durch das ganze Stadion – Daniel Theweleit (taz) bekommt Gänsehaut „‘Orgulho‘ – stolz war das von den Angolanern meist gebrauchte Wort nach der Partie, und es war angemessen wie selten. Wenn man ein neutrales Publikum, das zunächst aus Langeweile über ein wenig berauschendes Fußballspiel ‚Viva Colonia‘ und ‚Kölle Alaaf‘ singt, wirklich hinter sich bringt, ist das schon allerhand. Schließlich setzt sich das angolanische Team weitgehend aus Spielern unterklassiger Klubs in Europa sowie aus in Angola kickenden Akteuren zusammen.“