indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Das Maximum rausgeholt

Oliver Fritsch | Donnerstag, 15. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Das Maximum rausgeholt

In Großteilen Deutschlands ist heute Feiertag, nur wenige Zeitungen erscheinen. Pressestimmen zum deutschen 1:0-Sieg gegen Polen lesen Sie morgen. Hier sind schon mal drei:

Achim Achilles (Spiegel Online) feiert Jürgen Klinsmanns Sieg: „1. Unsere Jungs waren ungewöhnlich schnell am Ball und sind gerannt bis zur letzten Sekunde. Sollte das Training dieses US-amerikanischen Sprinttrainers Mark Verstegen tatsächlich geholfen haben? 2.Unsere Jungs waren taktisch erstklassig eingestellt. Sollte Joachim Löw womöglich doch etwas mehr von Strategie verstehen als 80 Millionen Hobby-Trainer? 3. Unsere Jungs waren ein Team. Sollte dieser Klinsmann ein Meister der Motivation sein, der aus einer Republik von Jammerlappen die richtigen Kerle herausgefischt hat? Seit dem Spiel gegen die widerspenstigen Polen macht sich nun langsam eine Ahnung breit, dass sich dieser kalifornische Schwabe vielleicht doch ganz schlau überlegt hat, wie man Spitzenklasse liefert, wenn man nicht mehr als nur solides Personal zur Verfügung hat. Jürgen Klinsmann hat gestern nahezu das Maximum dessen rausgeholt, was aus dieser Truppe herauszupressen ist.“

Sause

Cai Tore Philippsen (faz.net) ergänzt: „Es war ein großartiges Fußballspiel mit enormer Intensität, viel Tempo, taktischer Disziplin und unzähligen Chancen. Seit dem Confederations Cup ist dem Team nicht mehr eine so überzeugende Leistung gelungen. Und wie vor einem Jahr wird die Mannschaft von einer unglaublichen Begeisterung auf den Rängen und im ganzen Land getragen. (…) Klinsmann hat die Begeisterung in Deutschland ausgelöst, von der er schon vor zwei Jahren gesprochen hat, als viele ihn für einen von der kalifornischen Sonne verwöhnten Spinner hielten. Hoffentlich hält der Jubel noch lange an.“

Thomas Becker (sueddeutsche.de) hüpft vor Freude: „War das nicht eine wunderbare Fußballsause, von der ersten bis zur allerletzten Minute? Wann zuletzt hat man eine deutsche Mannschaft so entfesselt stürmen sehen? Gab es jemals so viele Torchancen für deutsche Stürmer? Wie oft passiert es, dass ein Team den gegnerischen Pfosten zweimal innerhalb von einer Sekunde trifft? Zu solchen Teams ist der liebe Fußballgott manchmal ganz lieb und schenkt ihnen in der Nachspielzeit doch noch ein Tor.“

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Sabine Heymann liest italienische Zeitungen

Wenn die squadra azzurra bei der WM nicht selbst spielt, verdrängt die Politik den Sport von den ersten Seiten der italienischen Tageszeitungen. Nur in der römischen La Repubblica schafft es ein Kommentar zum Fußballskandal Calciopoli auf Seite 1. Da geht es um das beunruhigende Phänomen der „fuga di notizie“ – des ständigen Durchsickerns von hochsensiblen Informationen an die Öffentlichkeit, das seit Beginn der Ermittlungen den Staatsanwälten das Leben schwermacht, weil es den Beschuldigten ermöglicht, nach der anfänglichen „Schweigemauer“ eine schlagkräftige Verteidigungsstrategie aufzubauen. Beim Corriere della Sera geht es um Sport und Politik, mitten auf der Titelseite prangt ein heiteres Foto vom Besuch Romano Prodis bei Angela Merkel mit der Nachricht von einem launigen Wortgeplänkel zwischen den beiden Regierungschefs: Auf die Einladung Merkels, sich während der WM ein Spiel der Azzurri seiner Wahl gemeinsam anzusehen, antwortete Prodi: „Ich komme zum Finale Italia-Germania!“ – worauf Merkel mit dem Sprichwort „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ geantwortet haben soll.

Der Sportteil des Corriere widmet den drei Spielen des Vortags jeweils eine Seite. „Polen k.o. in der 91. Minute. Deutschland kommt mit Ach und Krach voran“ ist der Titel eines Berichts zum Deutschland-Spiel, die Einzelkritik hebt „Neuville, den Bomber mit einer Mutter aus Kalabrien“ hervor: „Ein Blitz. Und es ist Deutschland. Vor den Augen Angela Merkels und Franz Beckenbauers schafft es Neuville, die Mannschaft für das Achtelfinale zu qualifizieren. Die Wende kommt, als das Ergebnis schon auf 0:0 festgelegt scheint. Die Deutschen haben alles getan, um Tore zu schießen und zweimal, innerhalb von drei Sekunden, haben sie den Balken getroffen. (…) Jürgen Klinsmann hat seine Mannschaft verwandelt. Bienenfleißig, zwar nicht in der Favoritenrolle, aber zum Sieg entschlossen, und zwar auf die einzige Weise, die zum Überleben geeignet ist: mit 100 km/h, mit frenetischer Geschwindigkeit. (…) Die Beinarbeit der Mannschaft ist bescheiden, die Ideen sind nicht genial, Ballack spielt, fasziniert aber nicht. Um den Titel zu gewinnen, müssen die Deutschen noch mehr geben. (…) Klinsmann flippt aus vor Glück. Und Deutschland mit ihm.“ Der Corriere della Sera staunt über David Odonkor: „Explosive Kraft und eine beeindruckende Geschwindigkeit, ein Flügelmann, wie man ihn zur Zeit in Europa selten findet“. Über Michael Ballack: „Ballack schön frisiert, ein wiedergefundener Kapitän, der aus Angst um seine Haare keine hohen Bälle annimmt …“ Über Miroslav Klose: „Oba Oba Kloses Purzelbäume sind aufgeschoben, vielleicht bis zum Spiel gegen Ecuador.” Über Oliver Neuville: „Kalabresische Mutter, spricht fließend Italienisch, Inter-Fan, eine Zukunft in Italien, die tausend Mal angekündigt und tausend Mal dementiert wurde …“Die kurze Verweildauer von Lehmanns ausgespuckten Kaugummi bei Ebay veranlaßt den Kommentator zu der mokanten Bemerkung: „Im bienenfleißigen Deutschland von Meister Klinsmann wird nichts weggeworfen. Nicht einmal der Müll.“

Einfacher, Papst zu werden

„Deutschland weiter, mit dem letzten Schuß. Ballack enttäuscht, Neuville entscheidet. Polen praktisch eliminiert“, titelt La Repubblica, die dem Spiel lediglich eine hintere Seite des „Mondiali“-Buchs reserviert. Klinsmann wird ein glückliches Händchen bescheinigt: „Die von den Medien schlecht behandelte Mannschaft ist wieder da, vielleicht ist es kein Zufall, daß sie mit der Rückkehr Ballacks wiederauferstanden ist: dem Fußballgott, der ein langes Gesicht zog, weil er beim Eröffnungsspiel auf die Bank verbannt war. Er hat Bälle verteilt, die nicht banal waren, aber am Ende waren es die Ersatzspieler, die das Spiel entschieden haben: Odonkar, der Junge, der zur WM gestoßen ist, ohne jemals in der Nationalmannschaft gespielt zu haben und Neuville, der ehemalige Handwerker. Klinsmann jedenfalls hat mit seinen Auswechselspielern ins Schwarze getroffen.“ Abschließend heißt es: „Das Spiel ist jedenfalls ein Fest der beiden Fan-Gemeinden gewesen: Ein deutscher Fan hielt im Stadion eine Schrifttafel mit dem Papst und dem Pokal hoch, darunter die Zahlen 2005 und 2006. Als ob er sagen wollte, voriges Jahr sind wir Papst geworden, dieses Jahr Weltmeister. Selbst angesichts dieses zweiten Sieges der deutschen Mannschaft wird es sicher einfacher gewesen sein, Papst zu werden.“

Totalitär

Rüdiger Barth und Bernd Volland (Stern), die gerade ein Buch über Michael Ballack geschrieben haben, urteilen hart über Klinsmanns Führungsstil: „Klinsmann, der Revolutionär, scheint immer mehr den Weg vieler Revoultionäre zu beschreiten. Es sind dies Menschen, die ein großer Freiheitsdrang treibt, weil sie fremde Kontrolle schwer ertragen können. Doch wenn sie selbst an der Macht sind, ertragen sie keine Kritiker, aus Angst vor Kontrollverlust. Zweifel empfinden sie als Verrat. Und allem zugrunde liegt die Bereitschaft zum Alles-oder-Nichts, die zur Kompromisslosigkeit liegt. Klinsmanns Nichts heißt Kalifornien. Vielleicht kann man wo wirklich Weltmeister werden. Aber das Ganze erinnert auch ein wenig an den Liebreiz totalitärer Systeme. Im Tross der Deutschen herrscht natürlich keine Angst, Gott bewahre, auch wenn immer wieder Geschichten aus dem Schlosshotel Grunewald dringen, wie Mitarbeiter aus dem Stab abgekanzelt werden, wenn sie nicht sofort funktionieren. (…) Es wird sich zeigen, ob es nicht ein Widerspruch ist, ein forsches, mutiges Spiel zu fordern, aber im Team am liebsten Konfirmanden um sich zu scharen.“

Kommentare

Comments are closed.

  • Quellen

  • Blogroll

  • Kategorien

  • Ballschrank

117 queries. 0,508 seconds.