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Deutsche Elf

Klinsmanns Trümpfe beginnen zu stechen

Oliver Fritsch | Freitag, 16. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Klinsmanns Trümpfe beginnen zu stechen

Deutschland bezwingt Polen 1:0 – die deutschen Zeitungen lassen sich von der Euphorie im Stadion und auf der Straße anstecken. Ein tolles Spiel, keine Frage, aber der Einwurf sei gestattet: Der Gegner hieß nicht Argentinien oder England. Jürgen Klinsmann, der im letzten Vierteljahr eine sehr schlechte Presse hatte, ist der Gewinner des Tages. Auch deswegen, weil seine Trümpfe zu stechen beginnen: Oliver Neuville und David Odonkor auf dem Platz, aber auch die ausländischen Trainingsexperten Marc Verstegen (Fitness-Coach) und Urs Siegenthaler (Scout), für die man ihn ausgezählt hat. Selbst die Kritikaster von der Bild-Zeitung, die Klinsmann zum Teufel jagen wollten, feiern ihn nun. Welch Heuchelei! Fehlt ihnen der Mumm, ihre Position aufrechtzuerhalten? Haben Sie nicht das Rückgrat, zu ihren Worten und Kampagnen zu stehen? Das sind die Fragen, die das begeisternde Spiel der Deutschen nun aufwirft und deren Antworten wir mit Spannung harren. Und die lauten Nörgler des deutschen-Fußballstammtisches um Lothar Matthäus, Stefan Effenberg, Mario Basler und wie sie alle heißen sowie einer Reihe an DFB-Funktionären dürften fürchten, daß sie bald mit ihren Aussagen aus der letzten Zeit konfrontiert werden.

FC Klinsmann

Michael Horeni (FAZ) erkennt die Prägung Jürgen Klinsmanns: „Es war ein Auftritt, über den seit zwei Jahren immer wieder geredet wurde, von dem man aber niemals so recht wußte, ob man ihn jemals zu Gesicht bekäme. In Dortmund war nun die leibhaftige Version eines FC Deutschland zu besichtigen, wie ihn sich der Bundestrainer immer vorgestellt hat. Man könnte also auch sagen: Deutschland hat erstmals den FC Klinsmann gesehen.“

Er ist ein Arbeiter

Peter Stützer (Welt) fährt den Klinsmann-Kritikern übers Maul: „Zwei Spiele aus deutscher Sicht ist es alt, und es läßt sich sagen: Klinsmann hat alles richtig gemacht. Sein wichtigstes Credo lautet: agieren statt reagieren. Auf alles vorbereitet sein. Sich nicht überraschen lassen. Klinsmann kalkuliert, blickt voraus, wenn man so will hat er selbst an der gewaltigen Euphorie im deutschen Lande seinen Anteil. Von vorne herein hat er auf den Heimvorteil gesetzt. Doch auch der muß erarbeitet werden. Damit die Leute auf den Stühlen stehen, muß die Mannschaft ein Spiel bieten, das von den Sitzen reißt. Offensiv, riskant, leidenschaftlich. Es ist die gleiche Leidenschaft, mit der Klinsmann als Spieler seine Tore schoß, die gleiche Freude, mit der er sie bejubelte. (…) Er ist ein Arbeiter. Er hat diesen Job nicht gelernt, nicht in einem Lehrgang an der Deutschen Sporthochschule. Aber er hat ihn perfekt vorbereitet. Wer kolportiert, Klinsmann sei lieber Strandgänger an seinem Wohnort Huntington Beach als Stadionbesucher in der deutschen Bundesliga, wer ihm gar Müßiggang unter kalifornischer Sonne unterstellt, der hat schlecht recherchiert. Fleiß, Vorbereitung, Methodik – auch das ist das System Klinsmann. (…) Er muß nicht gleich Weltmeister werden. Gewonnen hat Jürgen Klinsmann auch so.“

Marko Schumacher (Stuttgarter Zeitung) lobt den Mannschaftsgeist: „Wer den Jubel der Ersatzspieler nach dem Siegtreffer gesehen hat, der glaubt an die These der verschworenen Gemeinschaft – und das ist der Grund dafür, dass die Fans so bedingungslos hinter dieser Mannschaft stehen. Selten ist einer deutschen Auswahl eine solch große Sympathie entgegengeschlagen. Man muss immer vorsichtig sein. Schon im Achtelfinale könnte Schluss sein. Schon jetzt aber hat die Mannschaft mehr bewegt, als ihr viele zugetraut haben.“ Die FR ergänzt: „Seit Steinzeiten hat eine deutsche Nationalmannschaft nicht mehr so geschlossen und konstruktiv Fußball gespielt.“

Klinsmannschaft

Ludger Schulze (SZ) markiert den Sieg als großen Entwicklungsschritt Klinsmanns: „Einfach traumhaft. Das ist nicht nur für Klinsmann eine Freude, weil seine Elf möglicherweise den entscheidenden Anstoß für einen großen Turnierauftritt erhalten hat. Es ist auch für die ganze Veranstaltung ein Glück, weil die WM-Stimmung nun mindestens bis zum Achtelfinale in acht Tagen ihr Niveau halten wird. (…) Dieses 1:0 ist das Werk einer typischen Klinsmannschaft. Seine Handschrift und die seines Assistenten Joachim Löw sind deutlich geworden: kerniger Teamgeist, offensive Grundordnung und eine bei deutschen Mannschaften lange vermisste Fitness bis unter die Zehennägel. Klinsmann hat die Erwachsenenwelt der internationalen Trainergemeinschaft betreten.“ Andreas Lesch (BLZ) pflichtet bei: „Der Mittwoch ist einer jener Tage gewesen, an dem ein Trainer alles richtig gemacht hat. Er hat das Spiel beherbergt, und am Ende hat sich dieses Spiel als lupenreines Jürgen-Klinsmann-Spiel entpuppt. Es stützte so ziemlich jedes Prinzip, das der Bundestrainer propagiert. Es gab ihm, zumindest an diesem Tag, derart auffällig Recht, dass er problemlos bestreiten konnte, dabei Genugtuung gespürt zu haben. Klinsmann war bei der WM eine Art Mitarbeiter des Tages.“

Sturm, Drang, Freude, Mut

Jan Christian Müller (FR) traut seiner Ergriffenheit nicht ganz: „Vielleicht ist es nie zuvor in der über hundertjährigen DFB-Historie in einem deutschen Fußballstadion lauter gewesen als an diesem 14. Juni 2006. Als die Spieler schon längst in den Kabinen verschwunden waren, haben die Menschen in der gewaltigen Arena immer noch das Letzte aus ihren Stimmbändern herausgeholt. Es ist nur schwer in Worte zu fassen, welch ungeheure Kraft der Fußball in diesen Zeiten einer Weltmeisterschaft im eigenen Land besitzt. In Dortmund begab sich die Leidenschaft von den Rängen hinab auf den Platz, von dort wieder hoch auf die steilen Tribünen und sogleich wieder hinunter. (…) Wer mit so viel Sturm und Drang, Freude und Mut Fußball spielt wie die deutsche Mannschaft, muss nicht Weltmeister werden, um die Menschen für sich einzunehmen. Die Realität kennt im Moment keine Grenzen. Aber in einer Kathedrale des Fußballs kann die Wahrnehmung auch täuschen. Sie schafft eine Nähe, die die Sinne vernebelt.“

Klinsmann hat den Deutschen den Spaß am Spiel wiedergegeben

„Wer stand noch mal in sieben von siebzehn WM-Endspielen?“, fragt Jens Weinreich (BLZ) rhetorisch und verweist auf das Gewicht der Sekundärtugenden: „Es geht bei so einem Championat nie darum, die auf Dauer weltbeste Mannschaft zu küren. Im Turnier wird vielmehr jenes Team belohnt, das es schafft, auf viele komplizierte Einzelfragen die passenden Antworten zu geben. Eine Mannschaft, die Lösungen findet, lernfähig ist, sich steigert und an sich glaubt, die kann belohnt werden. Der Weltmeister muss nicht zwangsläufig Brasilien heißen. Der Weltmeister muss nicht die Weltrangliste anführen, seine Spieler müssen nicht in den stärksten Ligen der Welt brillieren und den Transfermarkt dominieren. Ein WM-Finalist muss das auch nicht. Klinsmann hat den Deutschen den Spaß am Spiel wiedergegeben, die Lust am Zuschauen und die Last des Leidens. Vielleicht hat er den Spaß für dieses Fußballland auch neu erfunden. (…) Es sei ein nüchterner Blick empfohlen: Ecuador, dessen Team sich zum großen Teil aus den Spielern eines abgelegenen Anden-Tales zusammensetzt, hat beide Spiele höher gewonnen als die Deutschen.“

Enthusiasmus und Talent

Auch die Times ist begeistert vom deutschen Spiel: „Deutschland glaubt. Das war lange Zeit nicht der Fall, aber als Neuville das Tor schoß, erhob sich der patriotische Eifer, der seit dem Turnierbeginn durch Deutschland schwappt (…) Die siegreichen Spieler machten eine Ehrenrunde und niemand sollte dies Klinsmanns jungen Mannen mißgönnen, die bei dem Wettbewerb mit Enthusiasmus und Talent begeistern.“ Die Times greift den Bild-Artikel um Michael Ballack auf und fragt sich, ob die Deutschen wieder patriotisch sein dürfen: „Ballack startet heute mit dem deutschen Trikot mit der Nr. 13. Das ist ein wichtiger Fakt, da Ballack letztes Wochenende mit einem Shirt der Italiener fotografiert worden ist und die Bild-Zeitung eine nationale Identitätskrise hervorrief. War es falsch, das Italien-Shirt zu tragen? Können Deutsche wieder Nationalstolz ausdrücken, ohne verlegen zu werden? Das sind die Themen, mit denen sich die Gastgeber der WM beschäftigen, gefolgt von einer Welle von flaggenschwingendem Patriotismus, der in seinem Maß viele überrascht.“ Der Independent beschreibt den Effekt der Siege gegen Costa Rica und Polen: „Die Freude war grenzenlos, als ob Deutschland auf dem Weg wäre, Weltmeister zu werden. Vielleicht werden Sie es auch. Sie fühlen sicher, daß sie einen Lauf haben, obwohl das Team wenig Qualität hat, ist es sehr bemüht. Und getrieben durch den Heimvorteil scheint es, als ob sie daran zu glauben beginnen.“

Altersloser Leichtfuß

Die Einzelkritik stellt Oliver Neuville und Philipp Lahm heraus. Michael Ashelm (FAZ) preist die Bescheidenheit Neuvilles: „Unter den vielen ‚Alpha-Tieren‘ des Fußballgeschäfts würde der mit 33 Jahren älteste deutsche Feldspieler im Kader überhaupt nicht auffallen, wenn er nicht von Zeit zu Zeit auf dem Platz einen echten Treffer landen würde. Neuvilles Tore haben öfter eine größere Bedeutung, sie kommen überraschend und meist dann, wenn niemand mehr mit ihnen rechnet. Auch nach seinem Treffer gegen Polen und einer mäßigen Partie seines jungen Angriffskollegen Lukas Podolski würde er sich nie motiviert sehen, Stimmung zu machen gegen ein Mitglied der Mannschaft. Im Gegenteil. Neuville ordnet sich zu hundert Prozent unter.“ Christof Kneer (SZ) stimmt ein: „Obwohl er der älteste Feldspieler in Klinsmanns Kader ist, sieht er von fern manchmal aus wie der kleine Junge, der im großen Stadion verloren gegangen ist und darauf wartet, dass die Eltern ihn abholen. Dass Neuville Deutschland immer noch retten darf, kommt ja wirklich überraschend. Er hat 2002 eine gute WM gespielt, und im Finale hat er einen Freistoß geschossen, dass der Pfosten in Yokohama vermutlich heute noch wackelt. Dann aber sind dem Land die Kuranyis und Lauths erschienen, junge Siegfriede, für die 2006 die Heldenrolle vorgesehen war. Anschließend wurde Neuville von Rudi Völler aus dem Kader für die Euro 2004 gestrichen, das war schon nicht sehr nett, aber besonders gemein war, dass stattdessen Thomas Brdaric mitdurfte. Und am Ende hat ihm auch noch sein Arbeitgeber Bayer Leverkusen eröffnet, ‚dass meine Zeit vorbei ist, dass ich nicht mehr schnell genug bin‘. Wahrscheinlich aber ist Oliver Neuville so schnell wie nie zuvor. Der alterslose Leichtfuß hat sich in Klinsmanns Stürmerhierarchie schneller emporgearbeitet, als er selbst das für möglich gehalten hätte. Als Stürmer Nummer vier hat er die WM-Vorbereitung aufgenommen. Jetzt ist er schon Nummer zweieinhalb.“

WM-Ausnahmezustand

Ludger Schulze (SZ) besingt Philipp Lahm: „Lahm vollzieht augenblicklich einen Aufstieg zum Weltstar. Er hat die gesamte Fußballkunst in den Genen, zwei gleichstarke Füße und bei jeder Aktion einen Plan B im Kopf. Wann hatte Deutschland zuletzt einen solch wunderbaren Spieler? Endlich einmal traf es den Richtigen, als die Fifa den ‚Mann des Spiels‘ wählte.“ Philipp Selldorf (SZ) kann sich an Lahm nicht sattsehen: „Nach dem Spiel gegen Costa Rica dachte man, dass er nun wieder auf sein gewöhnliches (hohes) Niveau heimkehren würde. Das war aber ein Irrtum. Lahm machte ein fast perfektes Spiel. Ständig musste man Ah! und Oh! rufen. Atemraubende Zweikampftechnik: stahl den Gegnern die Bälle wie ein Taschendieb den U-Bahn-Passagieren die Brieftaschen. Übersicht, als säße er auf einem Pferd. Auf seiner linken Seite war er beides: Verteidiger und Angreifer, und in beiden Rollen überzeugte er. Auch seine moralische Verfassung gibt zu erkennen, dass sich Lahm im WM-Ausnahmezustand befindet: Zwar war er mit allen Sinnen im Spiel, und nie ließ er den gebotenen Respekt vor der Bedeutung der Partie vermissen – aber er strahlte durch seine Spielfreude eine Leichtigkeit aus, als ob er mit seinen Freunden bei den Garagentoren kicken würde.“ Arne Friedrich hingegen „gab den Zuschauern bei seinen Flankenversuchen Rätsel auf: Das muss doch Ecke gewesen sein, dachte man, weil der Ball so weit ins Nichts driftete. Stimmte aber nicht.“

Autorität des deutschen Spiels

Die SZ tritt der Behauptung entgegen, Michael Ballack hätte allenfalls durchschnittlich gespielt: „Nach dem Spiel werden wohl wieder einige Zuschauer fragen, wo denn jetzt die bestimmenden Akzente des Kapitäns geblieben sind. Die Antwort lautet: Sie waren in jeder Minute des Spiels vorhanden, auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick nicht immer sichtbar waren. Der Forderung nach mehr Disziplin und defensivem Bewusstsein hat er sich selbst unterworfen. Das führte dazu, dass er tief im Mittelfeld stand und nicht ständig im gegnerischen Strafraum in Mittelstürmerposition lief, demzufolge also im Angriff weniger präsent war als sonst. Als Anspielstation war er dagegen wie ein Magnet. Schleppte viele Bälle nach vorn, schlug einige schöne Pässe. Insgesamt eine starke Vorstellung als Autorität des deutschen Spiels.“

Adrenalin-Flut

Ausgerechnet der gelassene Per Mertesacker ist nach dem Spiel durch Drohgebärden gegenüber der Presse aufgefallen. Ralf Wiegand (SZ) empfiehlt ihm, solche Triumphgesten zu unterlassen: „Als Mertesacker am Ende der Ehrenrunde durch das leicht aus den Fugen geratene Westfalenstadion bei den Medienplätzen ankam, verfinsterte sich plötzlich sein Blick. Das Lächeln starb, während er beim Trab an der Tribüne vorbei jedes Pressetischchen einzeln zu fixieren schien. Nachdem er schon eine aggressive Geste am Rande der Obszönität vorweg geschickt hatte, ließ er schließlich noch jene rudernde Armbewegung folgen, mit der Spieler gewöhnlich ein müdes Pubikum anzuheizen versuchen. Dass er sich im Stadion tatsächlich darüber echauffiert hatte, wie er den Journalisten vorhielt, ‚dass ihr sitzen geblieben seid‘, während das glückstrunkene Publikum der Mannschaft stehend huldigte, will man kaum glauben. Vielmehr dürfte seine Gestik doch Ausdruck einer für einen Augenblick übermächtigen Genugtuung gewesen sein – seht her, die ‚Schlappwehr‘ (Bild) kann es doch! Wäre Per Mertesacker ein Akku – er hätte sich wegen Überladung selbst entzündet. Vielleicht müsste Mertesacker einfach mal für einen Tag nach Hause fahren dürfen, um den Vorrat an Ausgleich und Normalität wieder aufzufüllen. Auch Pattensen wird in diesen Tagen keine WM-freie Zone sein, aber es scheint doch weit genug weg zu sein vom Westfalenstadion, das ein unwirklicher Ort war an diesem Abend. Dort stießen 65.000 Besucher so viel Adrenalin aus, dass das ganze Land bis zur übernächsten WM damit versorgt werden könnte.“

BLZ: Per Mertesacker rügt die überzogene Kritik an der deutschen Defensive

FR: Mertesacker tritt nach

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