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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

WM 2006

Saubermann mit eigenem Kopf

Oliver Fritsch | Sonntag, 18. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Saubermann mit eigenem Kopf

Birgit Schönau (SZ) porträtiert Luca Toni als Pfand Italiens: „Früher hätte der Commissario Tecnico einen wie Toni mit seinen 1,93 Metern als Stopper eingesetzt, doch nicht in der Attacke. Vorn spielten Fliegengewichte wie Paolo Rossi oder Toto Schillaci, selbst Gigi Riva war einen Kopf kleiner als Toni und zehn Kilogramm leichter. Der klassische attaccante all‘italiana hatte den Körper eines Chorknaben – mager, schmächtig, wendig. Der Chorknabe im Angriff entwischte den gegnerischen Verteidigern, anstatt sich gegen sie durchzusetzen, er umdribbelte die mächtigen, aber hölzernen Abwehrtürme von Briten, Deutschen und Skandinaviern oder rannte ihnen davon, er spezialisierte sich auch gern auf Abstaubertore und scheute den Schwalbenflug nicht. Dann kam 1998 Christian Vieri, ein Koloss von 1,85 Metern. Sie nannten ihn ‚Widder‘. Vieri blieb bei internationalen Turnieren glücklos, aber als Stürmer der Squadra Azzurra symbolisiert er trotzdem eine Zeitenwende. Lippi stellt dem starken Toni inzwischen sogar einen zweiten Turm zur Seite, denn Vincenzo Iaquinta hat ein ähnliches Format. Und Alberto Gilardino, der Dritte im Bunde, ist auch nicht viel schmächtiger. Filippo Inzaghi könnte noch weiter auf der Bank schmoren, denn er passt Nationaltrainer Marcello Lippi viel zu sehr ins Italien-Klischee der Ausländer. Der Trainer ist allergisch gegen Schwalben. Wenigstens bei der WM. Wenigstens in Deutschland. Es geht diesmal ums Ganze. Nämlich ums Image. Lippis Kraftprotze sind deshalb diszipliniert und bodenständig. Und der bodenständigste von allen ist Toni. Die Ruhe in Person. Keine schillernde Diva, sondern ein bravo ragazzo, ein anständiger Junge. Einer, der sich nach oben gekämpft hat, dem nichts geschenkt wurde. Toni kennt die Niederungen der zweiten und dritten Liga. Toni ist allen, auch den gegnerischen Fans, sympathisch. Ein Saubermann mit eigenem Kopf, der keine fertigen Sätze von sich gibt, sondern sagt, was er denkt. Nie hatte ihn Italien so nötig wie heute.“

Melange aus Heimatliebe und internationalem Anspruch

Richard Leipold (FAZ) erklärt die Popularität Francesco Tottis: „Die Bedeutung des Römers läßt sich nicht allein an Toren, Taktik oder Temperament messen, obwohl diese drei Zutaten zu den wichtigsten Bestandteilen des Fußballs gehören. Totti ist das Gesicht des Calcio, ein Held von nationalem Rang. Er verleiht einem Fußball-Land Identität und gibt ihm Hoffnung, einem Land, dessen Nationalelf seit fast einem Vierteljahrhundert bei den großen Turnieren keinen Titel errungen hat. ‚Der Gladiator ist zurück‘, jubelt La Repubblica. Der römischen Vorstadt im Herzen treu geblieben, ist er so etwas wie der geborene italienische Fußball-Außenminister, elegant und beliebt. Daß er kein Englisch spricht und sich daheim bei Muttern (oder in deren Nachbarschaft) am wohlsten fühlt, scheint ihm sogar zuträglich. Totti ist nie aus Rom weggegangen, nach Mailand oder Turin. Er symbolisiert eine Melange aus Heimatliebe und internationalem Anspruch.“

taz: Trainer Marcello Lippi wäre wegen des Wettskandals fast entlassen worden; jetzt schenkt er Italien neue Hoffnung

Umflattert

Thomas Kistner (SZ) schreibt über das Umfeld der brasilianischen Elf: „Die Seleção ist ein hochsensibles Gebilde, umflattert von Wissenschaftlern und Scharlatanen, gehätschelt von Zauber- und Seelendoktoren, zum Erfolg verdammt von Landsleuten, die diesen Sport gern wie eine Droge konsumieren, in Ermangelung anderer Stimmungsaufheller fürs Gemeinwohl. Und über allem herrscht der mächtige Ausrüster Nike, der schon beim Finale 1998 ins Gerede kam und auch diesmal alles auf Grün-Gelb gesetzt hat, sowie ein mafiöser Verbandsboss: Ricardo Teixeira kann in der Heimat nur mit ständigen Erfolgen überleben. Bisher konnte die Seleção immer, wenn die Sportwelt höchste Erwartungen hegte, nicht liefern: 1950 und 1966, 1982 und 1998. Diesmal liegt ihre Chance darin, dass die Schwachstellen früh ersichtlich werden. Wenn es stimmt, dass Brasiliens zweiter Anzug überall sonst auf dem Planeten erste Wahl wäre, braucht sie nichts zu fürchten. Und der Genießer hoffentlich auch nicht.“

Ruhm als Fluch

Thomas Klemm (FAS) warnt die Brasilianer vor Hochmut: „Es ist das Brasilien-Gen, auf das die Südamerikaner setzen; also jene quasi naturgegebene Begabung für die Körperbeherrschung, die unmöglich erscheinende Fußballtricks möglich macht, an der sich Brasilianer ebenso berauschen wie der Rest der Welt. Nur sie beherrschen ‚ginga‘, jene akrobatische Übung, die aus dem anspruchsvollen Kampftanz Capoeira kommt. Daß das Brasilien-Gen aber beim Fußball durch einen Gegner manipuliert werden kann, daß es Konkurrenten gibt, die den Ballzauber stören oder sogar – wie die Argentinier – selbst Fußball in künstlerischer Vollendung zeigen können, das paßt nicht so recht ins Selbstverständnis der Brasilianer. Aber inwieweit kann sich eine Mannschaft auf sich selbst konzentrieren, wenn sie von Abermillionen Fans rund um die Welt verfolgt wird? Die Gefahr, daß der Ruhm zum Fluch werden kann, erkennt immerhin der eine oder andere aus dem Team.“

Provokateur

Wie gehen die Japaner mit Kritik um, wer darf sie äußern, Gregor Derichs (FAZ)? „Nakata, der Topstar, der für Perugia, AS Rom, Parma, Bologna und Florenz gespielt hat, ehe er im vorigen Sommer zu Bolton Wanderers wechselte, kritisiert das Fehlen einer größeren Eigenmotivation und verlangt mehr Härte. Ein gut funktionierendes Team müsse aus starken Einzelkämpfern bestehen, meint Nakata. Zu viel Anpassung bringe keine starken, konkurrenzfähigen Typen hervor. Das spielerische oder taktische Vermögen seiner Kollegen aber stellt er nicht in Frage. Auch Zico äußerte vor einigen Tagen, daß seine Mannschaft schwer zu trainieren sei, weil es an Führungskräften fehle. Dies sagte er allerdings nur den Medien seiner brasilianischen Heimat. Gegen über den Japanern verbietet es die Höflichkeit, diesen Mangel klar und öffentlich anzusprechen. Also ist Nakata der einzige, der das Problem beim Namen nennt. Aber nicht jeder in der Heimat nimmt ihn, den Einzelgänger, ernst. Ältere Japaner lehnen ihn ab, allein schon, weil er sich lange Zeit die Haare rot färben ließ. Der Profi, den junge Fans wie einen Popstar anhimmeln, paßt nicht richtig in die allseits gepflegte Konsensgesellschaft. Das markante Eigenprofil und den Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen finden seine Fans cool. Nationaltrainer Philippe Troussier, der nach der WM 2002 aufgehört hat, und Zico haben ihm wiederholt Egoismus vorgeworfen. Da Nakata polarisiert, wird seine Kritik oft als Provokation abgetan.“

FR: Trainer Guus Hiddink gilt in Australien bereits als Genie

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