WM 2006
Fernwirkung
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| Montag, 19. Juni 2006Nina Klöckner (FTD) erlebt die Italiener beim 1:1 gegen die USA unter dem Eindruck des Moggi-Skandals: „Sie haben sich so fest vorgenommen, für positive Schlagzeilen zu sorgen. Sie wollten den Leuten zeigen, dass sie gewinnen können, auch ohne dass vorher jemand dafür sorgt. Doch wie verunsichert die Mannschaft ist, zeigt sich, sobald nicht mehr alles nach Plan läuft. Der Trubel um den Wettskandal in der Heimat scheint auch im fernen Deutschland noch zu wirken. Viele Kicker der Auswahl wissen weder wo noch in welcher Liga sie demnächst kicken werden. Sie befinden sich auf einer heiklen Mission. Ein Ausscheiden in der Vorrunde wäre eine Katastrophe.“
Krieg auf der Festung Betze
Ulrich Hartmann (SZ) verabscheut die Kriegsmetaphern einiger Spieler und die ungehörige Spielweise: „Vielleicht hatten die Amerikaner diesen Erfolg ganz nüchtern und minutiös in ihrem Militärstützpunkt in Ramstein vorbereitet, jenem Fliegerlager in der Pfalz, in dem sie vor dem Spiel zwei Tage und zwei Nächte zugebracht hatten in nächster Nähe zu ihren Soldaten. Im dazu passenden Jargon hatte der Nationalspieler Eddie Johnson vom Fußball als ‚Krieg‘ und ‚Schlacht‘ gesprochen, und man hatte das schon für eine misslungene Metapher gehalten, bevor sich ein Fußballspiel ereignete, nach welchem der verbal sehr viel bedächtigere amerikanische Torwart Kasey Keller über seine Kameraden sagte: ‚Diese Jungs haben heute für ihr Land geblutet!‘ Das war nicht mal übertrieben. Drei Feldverweise und eine blutende Platzwunde bildeten die Bilanz eines martialisch anmutenden Spiels.“ Bernd Müllender (taz) pflichtet bei: „Am vierten Todestag von Fritz Walter (16 Sekunden Gedenkminute) hatten sie mit Leidenschaft gespielt, druckvoll und mit viel Teamspirit, aber auch auffallend schematisch, ohne Pfiff und überraschenden Witz: Schablonen-Soccer vom Reißbrett. Vielleicht war es Soccer, Fußball war es kaum. Eher: Krieg auf der Festung Betze, voller Blutgrätschen, Giftigkeit und am Ende mit drei Platzverweisen.“
taz: Mit dem großartigen, irrealen Psychospiel Italien–USA ist das Ende der Vorhersagbarkeit da. Nun kann das Turnier ein großes werden. Und Italien? Muss den Furz im Kopf wieder loswerden
FR: Totti bleibt die Spucke weg
SZ: Italiens Trainer nimmt seine Spieler in Schutz
NZZ-Portrait Daniele de Rossi, der Übeltäter
Entfesselter Angriffswirbel
Christoph Biermann (SZ) ergötzt sich am 2:0-Erfolg Ghanas über Tschechien: „Nun ist auch die Suche nach dem Außenseiter beendet, der die Herzen des Publikums erobert. Endlich passierte bei dieser WM einmal das Unerwartete, und sofort adoptierte das Kölner Publikum die ghanaische Mannschaft mit einer Begeisterung, als ob auf dem Rasen der 1. FC Köln noch den Klassenerhalt in der Bundesliga schaffen könnte.“ Ingo Durstewitz (FR) ergänzt: „Der Auftritt der Black Stars war trotz fehlender Kaltschnäuzigkeit vor des Gegners Tor beeindruckend und hinreißend, leichtfüßig und elegant, athletisch und dynamisch. Die Afrikaner, allesamt technisch perfekt ausgebildet, zelebrierten das Spiel, sie berauschten sich an ihrer eigenen Schönheit. Und sie rissen gar die neutralen deutschen Zuschauer von ihren Sitzen, die voller Inbrunst den Klassiker ‚Oh, wie ist das schön‘ in ohrenbetäubender Lautstärke intonierten. Die Stadt Würzburg begrüßte ihre neuen Helden mit einem rauschenden Empfang. Selbst Karel Brückner, der weise Trainer der Tschechen, rieb sich verwundert die Augen. Einen solch entfesselten Angriffswirbel hatte er, hatte kein Mensch auf diesem Planeten erwartet.“
Auslaufmodell
Roland Zorn (FAZ) beschreibt die Hilflosigkeit der Tschechen: „Mit ihren Serienattacken zerbröselten die Ghanaer die verteidigungsunfähige tschechische Defensive. Trainer Karel Brückner sah mit eisiger Miene zu, wie sein Spielkonzept schon nach 66 Sekunden durchlöchert und auch danach nicht mehr zu flicken war. Der 66 Jahre alte Gentleman hatte wie seine Spieler auch Fehler gemacht, indem er sein Team so uninspiriert weiterwurschteln ließ, wie es begonnen hatte.“ Freddie Röckenhaus (SZ) fügt an: „Ob eine offensiv so starke Mannschaft wie die Tschechen es so weit kommen lassen musste, ist eine Frage, die sich der vermeintliche Trainer-Professor Brückner nach der WM wird stellen müsste. Selten hat man bei dieser WM so eindrucksvoll sehen dürfen, dass defensives Taktieren zum Auslaufmodell wird. Trotz eines Otto Rehhagel und seiner Griechen – jenem Modell, das bei der EM 2004 noch vorne lag.“