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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Effizienz

Oliver Fritsch | Mittwoch, 21. Juni 2006 Kommentare deaktiviert für Effizienz

Die deutsche Presse versucht derzeit, ihrer Begeisterung über die deutsche Nationalmannschaft und Jürgen Klinsmann Herr zu werden, und es tappt auch niemand in die Journalistenfalle, etwas zu kritisieren, wo es nicht viel zu kritisieren gibt. Moritz Müller-Wirth (zeit.de) fordert dazu auf, nach dem Gruppensieg einen Moment innezuhalten: „Wer ehrlich ist – und auch jene, die den Kurs von Jürgen Klinsmann über die letzten Jahre grundsätzlich unterstützt haben, können das sein – wer also ehrlich ist, sollte gestehen, dass man ernsthaft mit einem derartigen Verlauf der Gruppenphase nicht rechnen konnte. Gegen Polen lieferte man die erste Reifeprüfung ab, diszipliniert, leidenschaftlich, erfolgreich. Gegen Ecuador hat das Team bewiesen, dass man auch ohne schön zu spielen, effektiv sein kann, dass sich etwas einstellen kann, wie Routine, ein Wort, dass eigentlich in der Klinsmannschen Spielphilosophie nicht vorgesehen ist.“ Marko Schumacher (Stuttgarter Zeitung) stimmt ein: „Nach dem Hurrafußball im Eröffnungsspiel und dem an Leidenschaft nicht zu überbietenden Auftritt gegen Polen zeigte Jürgen Klinsmanns Mannschaft, dass sie mittlerweile eine weitere Fähigkeit besitzt: Effizienz.“

Perfekte Balance zwischen Aufwand und Ertrag

Peter Heß (FAZ) platzt vor Freude: „Jetzt trifft sogar schon Lukas Podolski! Und Arne Friedrich verteidigt fehlerfrei! Und Robert Huth gelingt als Vertreter von Christoph Metzelder das gleiche Kunststück! In diesen Tagen gehen alle Wünsche der deutschen Mannschaft in Erfüllung, sogar die Sorgenkinder bereiten Freude. Die Party kann weitergehen. Die Mannschaft von Jürgen Klinsmann fand die perfekte Balance zwischen Aufwand und Ertrag. Engagiert, aber nicht übermotiviert, kämpferisch, aber nicht mit letztem Einsatz eine Verletzung riskierend oder wie im Fall Michael Ballack eine Gelbsperre, ging sie ihrem Beruf nach. Das 3:0 war ein Sieg der Vernunft, der Konzentration und der Moral.“

Glaube an die eigene Stärke

Markus Völker (taz) würdigt Klinsmanns Fitness-Training: „Der Bundestrainer hat die Deutschen so widerstandsfähig gemacht, dass sie prompt alle Gegner aus dem Weg geräumt haben. Selbst gegen Ecuador schonte Klinsmann bis auf den leicht angeschlagenen Metzelder keinen Leistungsträger, und Kapitän Ballack ließ er gar durchspielen. Er traut seiner Fußballelite leichtathletische Großtaten zu. Mit diesem konditionsstarken und auch spielerisch überzeugendem Triple-Sieg in der Vorrunde hätten die wenigsten gerechnet. Kurzum: Die DFB-Elf hat sich mit Biss ins Turnier hineingespielt, sie kann sich jetzt schon mit dem üblichen Titel schmücken, dem der Turniermannschaft.“ Gleichzeitig blickt Völker mit Spannung auf die nächste Aufgabe: „Die Schweden werden vom DFB-Trainerstab als der stärkere Rivale im Vergleich mit England angesehen. Der umtriebige Sichter Urs Siegenthaler schwärmt von ihrer aufopfernden Laufbereitschaft.“

Ein Zwischenfazit von Mathias Schneider (Stuttgarter Zeitung): „Die Elf hat die Pflicht erfüllt und doch mehr geleistet als Dienst nach Vorschrift. Vor allem die couragierte Art und Weise der Vorträge sorgte zum einen für jene Woge, welche die Elf nun zu tragen beginnt. Gestern donnerten bereits ‚Klinsmann‘-Sprechchöre durch das Rund, nach dem Spiel mochten die Zuschauer ihre Lieblinge gar nicht in die Kabine entlassen. Weitaus schwerer als all die Ehrerbietung vor dem Gang in die K.-o.-Runde wiegt freilich der Umstand, dass Klinsmanns Jungs, nach sechs Jahren ohne Sieg gegen eine große Nation nicht eben mit Selbstvertrauen in diese WM gestartet, an die eigene Stärke zu glauben beginnen. Wer nach der Partie die Protagonisten zum Gespräch bat, konnte sich hiervon aus erster Hand einen Eindruck verschaffen.“

Verdient gemacht am Abbau von Vorurteilen gegen Deutsche

Ludger Schulze (SZ) erkennt den Erfolg hauptsächlich in der entfachten Stimmung als in der Tabelle: „Costa Rica war nicht einmal im Ansatz ein ernst zu nehmender Gegner, Polen und Ecuadors 1-B-Mannschaft traten unter Verzicht auf jene Team-Mitglieder an, die man Stürmer nennt. Außer vom Costa Ricaner Paulo Wanchope (zwei Tore) ist die als Schwachpunkt deklarierte Abwehr nicht weiter behelligt worden. Erfreulich jedenfalls ist, dass nach Jahren der Qual, in denen die DFB-Auswahl in ihrem Missmut und ihrer Reserviertheit die Stimmung des Landes spiegelte, wieder ein Geist des Aufschwungs und der Freude ausgebrochen ist. Das ist Jürgen Klinsmanns Verdienst.“

Schnelle Beine, schnelle Entschlüsse. Bissig, giftig. Weltklasse

In der Einzelkritik schwärmen die Redaktionen von Miroslav Klose, die SZ staunt: „Gegen seine Treffer besaß Ecuador keine Einspruchsmittel, sie waren unvermeidlich. Erneut extrem energetisch und aggressiv, eine echte Plage für die Gegenseite. Klose gelingt in seiner Rolle als Mittelstürmer eine seltene Mischung: Er ist erfolgreich und trotzdem nicht egoistisch. Er setzt sich in der Torschützenliste ab und drängt trotzdem keinen seiner Mitspieler beiseite. Von ihm ist noch einiges zu erwarten.“ Die FAZ stimmt ein: „Schnelle Beine, schnelle Entschlüsse. Bissig, giftig. Weltklasse.“ Michael Ballack imponiert den Experten. „So kennt man ihn“, lesen wir in der FAZ. „Der typische Ballack, ein Kapitän, der über lange Phasen nicht weiter auffällt, der viel unterwegs ist, aber immer wirkt, als würde er nur das Nötigste tun. Und der dann doch hin und wieder zeigt, welch großartiger Spieler er ist: Sein Paß aus dem Fußgelenk auf Klose zum 2:0 – das war Weltklasse, nicht mehr und nicht weniger.“ Die Berliner Zeitung flunkert angesichts des gehemmten weil Gelb fürchtenden Kapitäns: „Ballack startete eine umfassende Freundlichkeitsoffensive. Winkte vor dem Anpfiff ins Publikum, grinste beim Wimpeltausch den Schiedsrichter an, hielt sich aus den geliebten Zweikämpfen fern. Wollte keine Gelbe Karte samt Achtelfinal-Sperre riskieren. Schaffte das. Bewies, dass ein Chef kein ruppiger Rüpel sein muss. Ersetzte Grätschen durch Stellungsspiel, Klugheit, Eleganz. Zauberte nebenbei einen Lupfer aus dem Fußgelenk vor dem 2:0. Wurde für seine Leistung mit der zinnernen Bierkanne für den Spieler des Tages bestraft. Erschrak fürchterlich, als er sie überreicht bekam. Hielt jedoch die Tränen zurück.“

Arne Friedrichs Learning by Doing

Ein Schulterklopfen erhält auch Torsten Frings: „Wachsam, aufmerksam in der Rolle des Kettenhundes, der den zentralen Zugang zum Strafraum bewacht. Verzahnte Mittelfeld und Abwehr. Note eins für die Nummer 6“, zensiert die FAZ. Und ein Zuckerchen für Lukas Podolski von der Berliner Zeitung: „Wurde als Gewinner der Aktion Sorgenkind ermittelt. Hatte den Vorteil, dass außer ihm keiner an der Aktion teilnahm. Hörte so lange die Anfeuerungsrufe von Jürgen Klinsmann und den Fans, bis er sich entschloss, seine Torflaute zu beenden.“ Und über Philipp Lahm heißt es: „Erstaunlich war allein, dass Lahm zweimal ausgespielt wurde in der ersten halben Stunde, man hatte nach den forschen Auftritten des Winzlings ja gedacht, so etwas werde nie wieder passieren.“

Arne Friedrich hingegen hat nicht nur bei vielen Fans keinen Kredit (obwohl er gestern mit ein paar Sprechchören gefeiert worden ist; ein Huuuth-Nachfolger wird er aber nicht). Auch viele deutschen Journalisten rümpfen ihre Näschen. Die SZ höhnt: „Der zuletzt schärfstens verunsicherte Friedrich brach zu einem Sololauf über die rechte Seite auf und brachte ihn auch zu Ende, ohne dem Ball weh zu tun.“ Doch unsere südlichen Nachbarn von der NZZ bewerten ihn mit Wohlwollen: „Allmählich scheint er sich zu fangen, jene Form wiederzufinden, die ihn schon unter Rudi Völler ins Nationalteam beförderte. Gegen Ecuador spielte er weitgehend fehlerfrei, meist stand er am richtigen Platz, und als die Prüfung bestanden war, sagte er, man freue sich jetzt auf den nächsten Gegner. Vermutlich wird es noch einmal eine Spur besser gehen. Denn Friedrich, das hat die Vorrunde gezeigt, ist ein Muster-Exponent des ebenso alten wie erfolgreichen Prinzips Learning by Doing.“

Maßloses Lob von Blatter

Noch zwei irritierende Aussagen von Prominenten, die sich aber einer genauen Interpretation entziehen. Agrarminister Horst Seehofer sagt nach dem Spiel über die deutsche Elf: „Die stehen voll im Saft. Wer die schlagen will, der braucht einen sehr guten Tag. Ich fürchte, daß die im Endspiel landen.“ Und Fifa-Präsident und Fußballexperte Joseph Blatter, der beim Torwandschießen so aussieht, als würde man einer Marionette gerade die Fäden schneiden, lobt ohne Maß: „Die Deutschen werden getragen vom Publikum. Ich wüßte nicht, wer die aufhalten soll.“

Über den Interview-Boykott Lukas Podolskis gegen die ARD, den eine Radio-Satire ausgelöst hat, lesen wir wenig; vielleicht will sich niemand zwischen die Stühle setzen; vielleicht will niemand den sensiblen Torjäger rüffeln. Die Frankfurter Rundschau jedenfalls findet die Haltung Podolskis engstirnig: „Der WDR ist in eine überaus missliche Zwickmühle geraten. Einerseits kann er seine Programmhoheit schlecht an einen Fußballer abtreten, der wegen einer ebenso niveau- wie harmlosen Sendung die beleidigte Leberwurst gibt. Andererseits herrscht der logikfreie Ausnahmezustand Fußball-WM und gilt Poldi nicht nur, aber vor allem in Köln als Charmebolzen erster Güte, dem das Volk so ziemlich alles verzeiht. Vermutlich also auch seinen Boykott gegen die ARD.“

FR-Interview mit Oliver Bierhoff

Klose und Podolski, eine verheerende Kombination

Die NZZ ist es, die am schärfsten mit dem Gegner ins Gericht geht: „Was Ecuador bot, war äusserst magere Fussballkost. Das Spiel der Südamerikaner war geprägt von etlichen individuellen Fehlern, unsicherer Ballführung, Zweikampfschwäche, Fehlpässen und dem fast völligen Fehlen von Ideen im Angriff, so es denn überhaupt einmal zu einem Vorstoss kam. Die Ecuadorianer liessen jegliche Linie in ihrem Spiel vermissen, es fehlte nicht nur ein Denker und Lenker, sondern auch die Initiative jedes einzelnen.“

Der Guardian aus London lobt das deutsche Sturmduo: „Befreiung schmückte das Gesicht von Podolski. Klose schritt zu ihm, um ihn in den Arm zu nehmen und ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Ob er es für seinen Mannschaftskameraden oder die Fernsehkameras getan hat oder nicht, die beiden haben gezeigt, dass sie zusammen ein verheerender Verbund sind.“ Der Independent traut der deutschen Mannschaft viel zu: „Sie werden nun nicht mehr auf uninteressante Gegner wie Ecuador treffen, aber die Aussicht, ihr Ziel zu erreichen, ist nach dieser umfangreichen Leistung gestiegen. Klinsmanns Team hat als Basis das Selbstvertrauen.“ Die Times hebt Deutschland in die Gruppe der Favoriten: „Deutschland wird nicht mehr nur aufgrund ihrer erfolgreichen Geschichte gefürchtet. Klinnsmanns Team erreicht, dank dem Heimvorteil, der stetig steigenden Form und dem Besitz des Top-Torschützen eine bedrohliche Form. Der Mann der einst als ‚Grinsi-Klinsi‘ verhöhnt wurde, bringt Deutschland das Lächeln zurück.“ Die Daily Mail hingegen nimmt den Sieg Deutschlands nicht für voll: „Es war schon vor dem Anpfiff klar, dass Deutschland dieses Spiel ernster nahm als Ecuador. Ecuador wechselte auf fünf Positionen.“

Einheit zwischen dem Volk und seinen Spielern

(sh) Aus Italien spuckt zunächst der Corriere della Sera in unsere Suppe: „Ein sympathisches, aber unnützes Spiel, das die Fifa auch hätte absagen können, weil beide Mannschaften ja bereits für das Achtelfinale qualifiziert waren.“ Doch es folgt Anerkennung: „Jürgen Klinsmann, der nach drei Spielen vom kalifornischen Staatsbürger zum Kaiser-Anwärter befördert worden ist, setzt weiter auf seine Strategie der Erhaltung der Kräfte, mit geringfügigen Konzessionen. Das ist verständlich: Das Bild der Nation muss hochgehalten werden, 72.000 Menschen sind im Stadion und fast 900.000 in der Stadt in den Startlöchern, um in die Straßen einzufallen, falls die Nationalmannschaft weiterkommt. Also, es gibt nur noch Deutschland, es wird gefeiert, Küsse, Umarmungen und Chöre, an denen Ecuador mit der gebührenden Resignation teilnimmt.“ La Repubblica aus Rom bekundet ihre Sympathie mit den feiernden Deutschen: „Mitten auf dem Spielfeld wurde die Hochzeit zwischen den Deutschen und ihrer Mannschaft gefeiert, mit den Spielern, die ihre Runde drehten und allen rundherum, mit wehenden Fahnen – ein Patriotismus, der dieselben so sehr stört, die ihn praktizieren. Deutschland ist zum ersten Mal in der Hauptstadt angekommen, im Olympiastadion, mit dem Traum, zum letzten Spiel dorthin zurückzukehren. Und der klare Sieg über Ecuador hat es fertig gebracht, nach Monaten der Skepsis die Einheit zwischen dem Volk und seinen Spielern zu bekräftigen.“ Zu den Protagonisten heißt es: „Klose: Zwei Jahre Mißgeschicke und jetzt wieder vier Tore, Schützenkönig der WM, nach den fünf Toren von 2002. Schneider: wieder brillant, Animateur vieler Aktionen. Ballack: immer der Anstifter des Spiels. Er hat sich diszipliniert seiner Mannschaft gewidmet, mit einem Augenblick von Egozentrik nur in der zweiten Hälfte. Der kleine Lahm: neuer deutscher Star, der, wie immer, sehr stimulierend war, aber, zweimal von schnelleren Gegnern angegriffen, zwei schreckliche Löcher provoziert hat.“

Sonst gibt es in diesen Tagen nur ein Thema, das die Schlagzeilen selbst der seriösen italienischen Tageszeitungen beherrscht. Und das ist nicht der Fußball, nicht die WM, nicht Calciopoli, sondern die Verhaftung des Mannes, der heute wahrscheinlich König von Italien wäre, hätten die Italiener 1946 bei einem Referendum nicht gegen die Monarchie und für die Republik gestimmt: Vittorio Emmanuele. Die Ermittlungen wegen Betrugs, Glücksspiels und Prostitution ziehen immer weitere Kreise, immer mehr unappetitliche Details kommen ans Licht, und die Innenseiten der Zeitungen sind voll davon. Allein der Mailänder Corriere della Sera bestreitet fünf Seiten mit dem Thema „Der Prinz und der Skandal“.

Auf den Fußballseiten macht La Repubblica unverdrossen optimistisch und ohne einen Hauch von Selbstkritik mit dem Titel „Giochiamo all’italiana“ (Wir spielen all’italiana) auf, bezogen auf das morgige Spiel gegen Tschechien. Ein kleiner Kommentar ist dem „Gerontocalcio“ gewidmet, der Überalterung (nicht nur) der italienischen Nationalspieler. Dieses Thema beschäftigt auch den Corriere della sera. Ein zweiseitiger Sonderbericht ist hier dem vermutlich bevorstehenden „Addio“ des Nationaltrainers Marcello Lippi gewidmet, der durch seine Verwicklung in den Fußballskandal bereits angezählt ist. Kommentator Alberto Costa spekuliert: „Hamburg, morgen, könnte die Endstation von Marcello Lippis azurblauem Abenteuer sein. Ein Sieg der Techischen Republik und gute Nacht, Freunde: das wäre das Addio für alle Träume von Größe und Revanche.“

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