Ball und Buchstabe
Zu ernst
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| Dienstag, 4. Juli 2006Dirk Schümer (FAZ/Feuilleton) beschreibt die Haßliebe und den Liebhaß zwischen Deutschen und Italienern: „Esgibt in Europa keine zwei Völker, die sich ähnlich gern haben und trotzdem gerne mißverstehen. Diese verzwickte Zweierbeziehung begann allerspätestens mit Mussolini, vertiefte sich mit Millionen Gastarbeitern und Touristen und führte mit der kollektiven Toskanatherapie der deutschen Bourgeoisie seit den achtziger Jahren zur Vergötterung alles Italienischen. Die Vollendung dieses Prozesses der Italianisierung Deutschlands, welche Cimbern, Teutonen, Goten, Staufer und Wehrmacht sogar durch einen Kollektivumzug herbeiführen wollten, ist die konsequente Auswahl des Kochs für die deutsche Nationalmannschaft 2006: Saverio Pugliese tischt leichte Pastaküche auf, denn mit nichts anderem sind Klinsmanns Schützlinge sozialisiert worden. Würstel, Sauerkraut, Starkbier – das alles würden deutsche Spieler gar nicht herunterbekommen. Und auf eine Vespa, in einen kleinen Fiat würden sich italienische Spieler höchstens zu Werbezwecken setzen, denn sie schwören naturgemäß auf deutsche Luxuslimousinen. So kreuzen und ergänzen sich die Träume der germano-italienischen Kultur harmonisch. (…) Daß das deutsche Vorurteil über die vermeintlich leichtfüßigen, oberflächlichen, chaotischen Italiener ziemlich verkehrt ist, müßte ein Studium ihrer Fußballtaktik eigentlich klarstellen. Alles ist hier genau geplant, kein Team hält taktische Disziplin derart ein und baut zuerst auf Sicherheit. Wir kommen aus der Armut, wir mußten mit wenig auskommen – so erklären Mentalitätshistoriker den Catenaccio. Und nicht mal ihre Lieblingsdisziplin, das Jubeln, will den Italienern mehr richtig gelingen, selbst ihre berühmten Autocorsi rollen bislang mit angezogener Bremse, dazu ist der kollektive Abhörskandal einfach zu ernst, weil das Geflecht von mafiösen Strukturen in Fußball, Banken, Mafia, Adel, Politik und Medien vielen Italienern einfach nur peinlich ist. Besser erst mal kein Aufsehen erregen.“
Ein bisschen Recht
Oliver Meiler (FTD) rechnet Klischee gegen Klischee: „Vielleicht, das sei hier ketzerisch als These erlaubt, necken sie sich nur darum so gern, weil sie sich ganz gut leiden können, die Deutschen und die Italiener. Und wenn sie sich necken, dann tun sie es mit dem Hammer. Bum, bum! Fast schon Liebe. Laut muss es sein. Stereotypen stumpfen mit der Zeit ab, da bedarf es schon des immer neuen Variierens des alten Repertoires. Letzte Woche versuchte sich Spiegel online darin, kitzelte den italienischen Mann als ‚Muttersöhnchen‘ und ‚Parasiten‘, worauf die italienische Zeitung La Stampa schrieb, ein bisschen Recht habe der Deutsche ja schon, wenn er den Italiener so sehe, aber eben nur ein bisschen, etwa so, als sage ein Italiener, der Deutsche sei einer, dem der Bierbauch über die Hose rage, der mehr rülpse denn rede, und noch immer, wenn er zu viel trinke, davon träume, Polen zu überfallen.“
FR: Parade der Plattitüden – vor dem Duell hauen sich Italiener und Deutsche Klischees um die Ohren: „Spaghetti gegen Sturmtruppe“
Weltmeister von Moggis Gnaden?
Im Schatten des Moggi-Skandal – Bernd Graff (sueddeutsche.de) widert die Vorstellung an, Italien würde Weltmeister werden: „Es ist ein Skandal im Skandal. Und er trifft die WM wie ein Angriff. Man möchten den Edel-Kickern Italiens nicht unterstellen, dass sie von diesem abgefeimten Schachspiel gewusst haben, in dem sie nun die Figuren abgeben – hier gilt bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung. Dennoch ist die bloße Möglichkeit, dass der wertvollste Pokal, den der Fußballsport zu vergeben hat, unter Umständen von einem ekelhaften nationalen Manipulationsskandal besudelt werden könnte, eine Katastrophe für diese Weltmeisterschaft. Wenn Italien Weltmeister werden sollte, dann ist es so, als ob die Tour de France von einem Fahrer gewonnen würde, von dem man nicht weiß, ob er selber weiß, dass er gedopt war. Weltmeister Italien von Moggis Gnaden? Eine Vorstellung, die keinem Italiener behagen dürfte, ja niemandem, der den Fußball liebt.“
SZ: Die Schuldigen des Skandals haben auch im Falle des Titelgewinns keine Amnestie zu erwarten; trotzdem könnte ein Sieg der Azzuri das Land einen
Es gibt drei Fan-Gruppen, bei denen ich mich unwohl gefühlt habe: England, Holland und Deutschland
Andrei Markovits, amerikanischer Politologe und zurzeit Dozent in Deutschland, im Interview mit Christoph Biermann (SZ) über Gefahren und Grenzen der Identifikation mit Fußballmannschaften
SZ: Haben Sie bei der fünften WM, die Sie besuchen, den Eindruck, dass das Turnier internationalisiert ist?
Markovits: Im Gegenteil: Mir ist die zunehmende Nationalisierung des Fußballs aufgefallen, das immer lautere Grölen der Hymnen.
SZ: Für Sie kommt kein heiterer Patriotismus zum Ausdruck, von dem hierzulande viel geschrieben wurde?
Markovits: Nein, denn beim Halbfinale von Deutschland gegen Italien werden ein liberaler, aufgeklärter Postnationaler und ein Neonazi im selben Boot sitzen. Das wird im Stadion keine Feier des Internationalismus werden.
SZ: Täuscht der Eindruck von der Völkerverbindung bei den Spielen?
Markovits: Ich habe bislang 15 Spiele gesehen und es gab drei Fan-Gruppen, bei denen ich mich unwohl gefühlt habe: England, Holland und Deutschland. Als David Beckham vor dem Spiel gegen Portugal eine Erklärung gegen Rassismus vorgelesen hat, haben ihn Fans in meiner Nachbarschaft unglaublich beschimpft. Mich schockiert wenig, aber das war unglaublich. Sie waren wütend auf Beckham. Sie waren wütend, weil er etwas liest, wütend auf die Portugiesen und später auf den Schiedsrichter. Genauso widerlich sind hinterher die englischen Spielerfrauen beschimpft worden, als sie das Stadion verlassen haben. Ähnliche Erfahrungen habe ich auch beim Spiel der Deutschen gegen Polen gemacht mit diesen Bier saufenden, grölenden, sexistischen Typen.
SZ: Macht Ihnen das Angst?
Markovits: Nein, das ist nicht systemändernd, denn die Bundesrepublik ist eine wunderbar funktionierende liberale Demokratie. Die nationale Dimension bei der WM ist zu 99 Prozent harmlos, aber es bleibt ein kleiner Rest, der mich unwohl fühlen lässt. Deshalb bin ich ein großer Fan des Klubfußballs, weil der wirklich international ist.
SZ: Frankreich ist acht Jahre nach dem Triumph von Paris wieder im Halbfinale. Damals galt diese französische Mannschaft als Beispiel für die geglückte multikulturelle Gesellschaft. Seither hat sich die Mannschaft nicht gravierend verändert, aber in diesem Jahr gab es Aufstände in den französischen Vorstädten. Welcher Schluss ist daraus zu ziehen?
Markovits: Dass beides nichts miteinander zu tun hat. Zwei Jahre vor dem WM-Sieg schnitten die Franzosen bei der Europameisterschaft 2000 nicht so gut ab. Außerdem hatten einige Spieler die Marseillaise nicht mitgesungen, weshalb Le Pen und andere Rechte gesagt haben, dass sie eben auch keine richtigen Franzosen seien. Es ist so, wie Albert Einstein sagte: ‚Wenn ich erfolgreich bin, bin ich für die Deutschen ein Deutscher und für die Franzosen ein Europäer. Bin ich es nicht, bin ich für die Franzosen ein Deutscher und für die Deutschen ein Jude.‘ Ich denke, das gilt auch beim Fußball: Sind die Spieler erfolgreich, gehören sie allen; sind sie es nicht, werden sie ausgegrenzt.
WM der Torverweigerer
WM-Zwischenfazit I – Thomas Kistner (SZ) hat sich mehr Offensive erhofft: „Es geht bei dieser WM nur um Schadensbegrenzung. Es geht darum, Fehler und Rückstände zu vermeiden. Viel wird wieder erzählt von den Vorzügen der Teambildung, tatsächlich sind es just diese allzu festgefügten Teams, die kompakt jeden Raum zustellen und jedes Angriffsrisiko vermeiden. Den Unterschied machen die letzten Einzelkünstler. Reanimierte Helden wie Zidane, für den gleich zwei Mann nach hinten schuften, oder Lahm und der wunderbare Klose bei den Deutschen. Dazu die gute Nachricht: Die Gastgeber profitieren bei dieser WM nicht nur von beispiellosen patriotischen Energien, sondern wohl auch davon, dass ihre zuvor belächelte Abwehr ja tatsächlich noch in keiner Partie ernsthaft unter Druck geriet. So besehen, sind die Defizite dieser WM sehr zu begrüßen. (…) Es ist die WM der Torverweigerer.“
Nicht viel
WM-Zwischenfazit II – auch Tobias Schalls (StZ) Erwartungen wurden nicht erfüllt: „60 von 64 Spielen sind absolviert, und was wurde nicht alles erwartet: Hochgeschwindigkeitsfußball, Tempofußball, totaler Fußball. Angespornt von den Teams mit offensiver Spielweise in der Champions League – der Gradmesser für den modernen Fußball und mit dem Klub FC Barcelona ein leuchtendes Vorbild, weil schöner Fußball erfolgreich sein kann – träumte man von einem Spektakel, wie es die Welt noch nie gesehen hat. Gesehen hat man aber nicht viel. Man hat in diesen Wochen wenig gefunden, was Eingang in die Taktikbücher der Trainer finden wird. Es gab sie nicht, die großen Neuerungen, das Spektakuläre fehlte weit gehend, die unbekannten Akteure, die sich ins Rampenlicht spielen, ebenfalls. Und es gab bisher nicht diese Partien, von denen man sich noch in ein paar Jahren erzählen wird, und wobei jeder stolz ist, wenn er einmal berichten kann, bei diesem oder jenem Spiel live im Stadion gesessen zu haben.“
Religiöser Führer, Gauner, Meisterstück
WM-Zwischenfazit III – Christoph Biermann (SZ) prüft die Behauptung, der Star sei der Trainer: „In den vergangenen Tagen hat sich die These eingeschlichen, diese Weltmeisterschaft sei eine der Trainer. Das ist deshalb nicht abwegig, weil das Turnier weniger von auffälligen Leistungen einzelner Spieler bestimmt wird, als die Kompaktheit der Mannschaften der prägende Eindruck der meisten Partien ist. Außerdem haben Jürgen Klinsmann, Luiz Felipe Scolari und Marcello Lippi ihre Mannschaften zweifellos in die richtige Richtung gelenkt. Während Klinsmann zum fast religiösen Führer seines Teams aufgestiegen ist, gibt Scolari den Gauner. Der brasilianische Trainer Portugals ist ohne Zweifel der raffinierteste Coach des Turniers, der über ein riesiges Arsenal von Möglichkeiten verfügt. Mit großem Geschick sucht er Streit, wo er ihn braucht, und schließt Frieden, wenn es besser passt. Er bietet immer die richtigen Spieler auf, wählt die passende taktische Ausrichtung und verliert nie die Nerven. Marcello Lippi hingegen ist es gelungen, sein Team auf den Trümmern des italienischen Fußballskandals zu errichten. Auch das ist ein Meisterstück, wenn man bedenkt, dass viele Spieler im Moment nicht wissen, wo sie im nächsten Jahr ihr Geld verdienen werden.“
BLZ: Über das Mißtrauen Parreiras gegenüber der Jugend und die zwei Wechselfehler Pekermans im Deutschland-Spiel
NZZ: Hinter (fast) jedem guten Torhüter steht ein spezieller Trainer
Keine Charakterfrage mehr
Christoph Biermann (SZ) unterstreicht lobend die Sachanalysen Jürgen Klopps: „Klopp führt etwas fort, was es vor seinem Debüt beim Confederations Cup so noch nicht gegeben hatte: Er spricht einfach über das, was auf dem Platz passiert. Klopp redet darüber, wo ein Verteidiger hätte stehen und erklärt, wohin die Stürmer hätten laufen müssen. Er macht für die Zuschauer mithilfe der im Kinosaal ausgewählten Szenen nachvollziehbar, warum ein Spiel statisch blieb oder warum es unverhofft Schwung aufgenommen hat. Er benennt auch Fehler, doch ist er dann nicht strenger Richter, sondern ein Lehrer, der gerne helfen würde. Klopp streitet ab, dass er mit seinen Auftritten ein Programm vertritt. ‚Ich möchte nur ein bisschen Fußball an die Stammtische bringen‘, sagt er. Doch das ist schon eine ganze Menge, denn hierzulande wurde der Fußballdiskurs früher fast ausschließlich psychologisch geführt – und das galt nicht nur für die Stammtische. Sieg und Niederlage waren dabei vor allem als Charakterfragen zu verstehen. Es galt zu klären, warum eine Mannschaft nicht genug Zweikämpfe gewonnen hatte oder warum sie ‚nicht in die Zweikämpfe gekommen‘ war. Daraus wurde abgeleitet, ob die Spieler die richtige Einstellung mitbringen würden: Sie waren Helden oder Verlierer. Oder Erfolg und Misserfolg wurden als Ausdruck von Dynamiken innerhalb der Mannschaften bewertet, Niederlagen wiesen auf interne Differenzen hin, Siege zeigten außergewöhnlichen Zusammenhalt. Noch heute ist das so in der Welt von Udo Lattek, für den Fußballmannschaften auf immer Versammlungen potenzieller Faulpelze bleiben, denen man ordentlich einheizen muss. Vornehmer ist da Günter Netzer, doch auch seine Herrenreiter-Prosa entfernt sich während der WM selten von der Charakterdiskussion, selbst wenn er lustlos auf dem Analyse-Tisch der ARD herummalt.“
Hojatohoho
Kurt Kister (SZ) fürchtet den WM-Blues am Fernsehgerät: „Am Sonntag ist Schluss. Dann kommt noch das große Aufräumen am Montag. Delling und Netzer, die sich wahrscheinlich dauernd kabbeln, weil sie eine homoerotische Anziehung füreinander empfinden, werden sich noch einmal miteinander kabbeln. Die Süddeutsche wird ein letztes Mal 143 WM-Sonderseiten machen. Die Zeit wird uns am Donnerstag noch einmal, allerdings leider nicht das letzte Mal, in einem großäugigen Leitartikel erklären, wie alles mit allem zusammenhängt und dass schon die Gräfin auf ihrem Ritt von Ostpreußen einen Ball in der Satteltasche hatte. Man wird nicht mehr sehen, im Fernsehen und in Deutschland: langhaarige Argentinier, weinende Engländer, Waldemar Hartmann und seine Schwester im Geiste Sarah Kuttner, Deutschland-Fahnen an Autos sowie Angela Merkel, die nach Art einer bearmten Kaulquappe auf dem Ehrensitz jubelt. Aber was soll man eigentlich machen, wenn alles vorbei ist? Am Sonntag nach dem Endspiel-Sonntag zum Beispiel kommen im Fernsehen so schreckliche Dinge wie das Traumschiff, der Presseclub und, endlich wieder, Sabine Christiansen. Besonders freuen wir uns am Sonntag, dem 16. Juli auf den Auftakt der Sommer-Interviews: St. Peter Hahne empfängt fürs ZDF den Bundespräsidenten. Hojatohoho, das wird reinhauen nach der langweiligen WM.“
BLZ: WM im DSF und auf Eurosport