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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Im Ausland wird viel offener mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgegangen

Oliver Fritsch | Donnerstag, 6. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Im Ausland wird viel offener mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgegangen

Der Sportmediziner Wilfried Kindermann spricht mit der FAZ heute über die Fitnesswerte der Nationalspieler und stellt Jürgen Klinsmann ein sehr gutes Zeugnis aus, den Bundesligatrainern ein schlechtes: „Nach den verschiedenen Leistungstests konnte man die Fitness der Bundesligatrainer gegen Ende der Bundesligasaison allenfalls als durchschnittlich einstufen. Die Vorleistungen der Spieler hätten nicht ausgereicht, um bei der WM diese Rolle zu spielen. Eine durchschnittliche Fitness kann deutschen Spielern nicht genügen. Sie müssen überdurchschnittlich fit sein, um spielerische Nachteile gegen südeuropäische und südamerikanische Mannschaften ausgleichen zu können. Die Brasilianer können es sich vielleicht leisten, ein bißchen weniger fit zu sein als wir, aber nicht so unfit wie sie in Deutschland waren. Da hatten ja viele den Aktionsradius eines Bierdeckels. Ich habe Jürgen nach dem vierten Leistungstest, der in einigen Teilbereichen an unserem Institut absolviert wurde, gesagt, das reicht nicht für die WM.“ Auf die Frage, ob die Bundesliga von Klinsmann lernen solle, antwortet Kindermann: „Ja, unbedingt. Zwar kann man das Programm, das Klinsmann vor und während der WM trainieren ließ, nicht über eine ganze Saison absolvieren. Aber generell herrscht in der Bundesliga eine viel zu große Angst vor intensiven Reizen. Man kann die Spieler durchaus auch mal im Training ’sauer‘ werden lassen. Aber die Furcht ist groß, hohe Laktatwerte überforderten die Spieler mittelfristig. Seit Ende der neunziger Jahre machen sich die Stimmen breit: langsam laufen, langsam laufen. Das hören die Spieler gern, spielspezifische Reize tun halt weh. Mein Eindruck ist, daß im Ausland viel offener mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgegangen wird. In Deutschland wird die Trainingsmethodik weitgehend durch Erfahrung geprägt. Wenn ich die Kommentare mancher Experten und früherer Spieler höre, die vor einer Verwissenschaftlichung des Fußballs warnen, muß ich lachen. Wenigstens ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Erkenntnis sollten sie zulassen. Wenn Klinsmann Bundestrainer bleibt oder sich wenigstens seine Philosophie durchsetzt, muß die Bundesliga mitziehen. Aber ich erwarte da Reibungspunkte. (…) Ich frage mich seit Jahren, warum es einem Fußballprofi in Deutschland nicht zugemutet werden kann, wie ein anderer Arbeitnehmer sechs bis acht Stunden täglich in seinen Beruf zu investieren.“

Idealbesetzung

Ralf Köttker (Welt) wünscht, daß Jürgen Klinsmann seinen Vertrag verlängert: „Sollte der Bundestrainer sein Amt abgeben, drohen ganz schnell wieder die Traditionalisten in Vereinen und Verbänden zu blockieren. Mit Klinsmann wäre die Kontinuität der vielversprechenden Konzepte gewährleistet. Er hat keine Angst vor den Lobbyisten der Liga, wenn es um Personalien geht. Er setzt der Verbandsbürokratie moderne Unternehmensführung entgegen und lähmender Routine neue Trainingstechnologie. Klinsmann ist kein taktisch brillanter Trainer, sondern ein Teamchef, der als Leiter eines Expertenstabs das Amt des Bundestrainers neu definiert hat. Auf dieser Position ist er die Idealbesetzung, um fußballerische Potentiale zu nutzen, die viel zu lange vernachlässigt wurden.“

Matti Lieske (BLZ) begründet sein Votum für Klinsmann: „Es gibt Teams, die besseren Fußball spielen, aber es sind nur wenige, und wenn die Zeichen günstig stehen, können auch sie geschlagen werden. Nominell schwächere Gegner hat die Mannschaft von Jürgen Klinsmann nicht zuletzt dank des Heimvorteils dominiert wie lange nicht mehr und betrieb zudem Sympathiewerbung mit ihrem vorwärtsgewandten Stil, der bei dieser WM der geballten Vorsicht besonders auffiel. Im Bewusstsein der Öffentlichkeit hat sich das deutsche Team trotz der Niederlage gegen Italien seinen Platz unter den Top Ten der Welt eindrucksvoll zurück erobert und genießt erneut jenen Respekt, der in den letzten zehn Jahren abhanden gekommen war.“

Global Playerle

Christof Kneer (SZ) lobt Klinsmanns Verknüpfung von alten und neuen Werten: „Jürgen Klinsmann ist das Global Playerle. Er wohnt seit Jahren in Los Angeles, er weiß, was in den amerikanischen Managerhandbüchern steht. Aber er schwätzt immer noch schwäbisch, und vielleicht ist es das, was ihn im Volk zum authentischen Reformer werden lässt. So hat er fürs Erste auch aus seinen Nationalspielern Global Playerles gemacht; sie rennen und kämpfen, wie es der deutsche Wertekanon vorsieht, aber gleichzeitig bemühen sie sich um einen modernen, internationalen Tempofußball. Ob das Projekt sich abkoppeln lässt von seinem Projektleiter?“

Ein Klinsmann-Sommer genügt nicht unbedingt

Michael Horeni (FAZ) hofft darauf, daß Klinsmann das Flehen aller erhört: „Die Person Klinsmann, ob es ihm paßt oder nicht, ist von zentraler Bedeutung. Selbstverständlich trifft es zu, daß die Idee von Tempofußball, Courage und Leidenschaft – mit anderen Worten: von der neuen Identität der Nationalmannschaft – nie nur das Werk einer einzelnen Person sein kann. Und natürlich sind auch Personen austauschbar, wenn sie sich einer gemeinsamen Spielphilosophie verschrieben haben, wie das etwa im holländischen Fußball seit Jahrzehnten praktiziert wird. Aber dazu bedarf es einer Bedingung: Die Richtung muß allgemein akzeptiert sein. Der von Klinsmann modernisierte, wieder an internationalen Entwicklungen orientierte deutsche Fußball ist zwar zur offiziell beklatschten, aber keineswegs unumstrittenen Leitlinie im DFB geworden – von der Bundesliga mit ihren unterschiedlichen Einstellungen und Interessen ganz zu schweigen. Ein Klinsmann-Sommer genügt nicht unbedingt, um die notwendige Entwicklung gegen die Beharrungskräfte in institutionelle Bahnen zu lenken. (…) Die Arbeit von Klinsmann in Deutschland ist noch nicht ganz erledigt – seine Spieler werden ihm das schon sagen.“

Glaubwürdig

Stefan Hermanns (Tsp) fügt an: „Klinsmann mit seiner oft störrischen Art ist die beste Gewähr dafür, den deutschen Fußball vor einem Rückfall in seine alte Selbstgefälligkeit zu bewahren. Diese Selbstgefälligkeit hat sich bereits in einigen Reaktionen aus der Bundesliga offenbart, die sich schon vor langer Zeit im bequemen Mittelmaß eingerichtet hat. Die Nationalmannschaft wird immer mehr zu ihrem Gegenmodell und sollte doch ihr Vorbild sein – weil sie bewiesen hat, dass der deutsche Fußball mit den richtigen Methoden sehr wohl international konkurrenzfähig sein kann, mit jenem attraktiven, offensiven und wagemutigen Fußball, den Jürgen Klinsmann der Nation verordnet hat und den er so glaubwürdig verkörpert wie kein Zweiter.“ Markus Völker (taz) sieht alle Steine aus dem Weg geräumt: „Der Weg für Klinsmann ist jetzt frei. Er hat es einfacher als je zuvor. Er könnte mit dem DFB einen Vertrag nach seinem Gusto aushandeln. Der Gestaltungsspielraum scheint unbegrenzt. Er müsste sich auch nicht mehr rechtfertigen. Über seinen Wohnort würde nicht mehr diskutiert werden und der Einsatz von Gummibändern nicht mehr belächelt. Deutschland hat verstanden: Der Mann weiß, was er tut. Es liegt an Klinsmann, Verantwortung zu übernehmen und ein Projekt zu Ende zu führen, das erst auf halber Strecke ist.“

Teilzeitpatrioten vergessen schnell

Andreas Lesch (BLZ) pflichtet: „Wenn nun die Spekulationen um seine Zukunft beginnen, befindet Klinsmann sich in einer perfekten Position. Er kann, falls er seine Amtszeit zu verlängern gedenkt, vom DFB fordern, was er will – er wird es bekommen. Klinsmanns Konzept hat sich als derart wirksam erwiesen, dass der DFB mit einem gewaltigen Sturm der Entrüstung rechnen müsste, sollte er Klinsmanns Wünschen nicht entsprechen. Der Bundestrainer hat, ohne das zu forcieren, eine Allianz von Unterstützern hinter sich gebracht, gegen die niemand bestehen kann.“ Christian Gödecke (SpOn) hingegen warnt vor dem Glauben an Harmonie: „Es gibt sie immer noch, diese ‚reaktionären Kräfte‘, auch wenn sie momentan schweigen. Im DFB, wo man die Umstrukturierungen des Bundestrainers seit Beginn skeptisch sah und sich nur mit Blick auf die WM im eigenen Land zurückhielt. Wer will schon eine quasi nationale Aufgabe torpedieren? Wer als Nestbeschmutzer gebrandmarkt werden? Klinsmann glaubt, dass er nur dauerhaft in Ruhe arbeiten könne, wenn er tatsächlich den WM-Titel gewinnen würde. Dass nur der maximale Erfolg unantastbar mache – und womöglich hat er sogar Recht. Fußball ist schnelllebig, ein Halbfinale oder ein dritter Platz sind mit ein paar Wochen Abstand wahrscheinlich nur noch ein überraschend gutes Ergebnis. Auch Südkorea vor vier Jahren hatte ja als Gastgeber das Halbfinale erreicht. Die ersten Deutschland-Fahnen wurden schon in der Nacht der Niederlage abmontiert. Teilzeitpatrioten vergessen schnell, die gibt es auch im DFB.“

Ludger Schulze (SZ) gibt zu bedenken: „Ob das neue deutsche Fußballwunder von Dauer sein wird, muss noch geklärt werden. Wie gut ist diese Mannschaft, wenn sie nicht 60 000, 70 000 jederzeit Jubelbereite im Rücken hat, wenn sie sich nicht im emotionalen Ausnahmezustand befindet, sondern den normalen Frust der Bundesliga in die Länderspiele mitschleppt? Wenn der Alltagstrott Unlust schürt und die Klubs es lieber sehen, dass ihre Stärksten das eine oder andere Länderspiel schwänzen? Man muss sich, bei aller Vorsicht, keine großen Sorgen machen, denn diese WM-Mannschaft ist erst am Anfang eines viel versprechenden Weges.“

Zwei Online-Petitionen für Klinsmann:
http://www.klinsmann-muss-bleiben.de/
http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/1190507/kommentare

FR: Zwei Jahre Jürgen Klinsmann

SpOn: Achilles‘ Spezial – verliebt in die Deutschen

Der unvollendete Weltstar

Drei Autoren begutachten heute die Leistung Michael Ballacks während des Turniers. _Peter Heß (FAZ) mißt dessen historischen Wert: „Der 4. Juli 2006 hat darüber entschieden, welchen Platz Ballack in den Geschichtsbüchern des deutschen Fußballs einnehmen wird. Er wird zu den Großen gezählt werden. Aber nach der Niederlage kann er nicht mehr in die Reihe der Allergrößten aufsteigen. Um es mit einem Fritz Walter oder Franz Beckenbauer aufnehmen zu können, müßte ihm ohnehin eine faszinierendere Ausstrahlung zu eigen sein. Aber in einem Atemzug mit Rudi Völler, Lothar Matthäus oder Wolfgang Overath genannt zu werden, dafür hätte es reichen können. Wenn, ja wenn Ballack die Aura des großen Erfolges umschwebte. Doch dazu hätte er seine Mannschaft mindestens ins Endspiel der Heim-WM führen müssen. So aber ist nach dem verpaßten Finale von 2002 Ballack endgültig zum Unvollendeten geworden.“ Philipp Selldorf (SZ) unterstreicht dieses Urteil: „Womöglich wird er nun daran denken, dass sich bestimmte Momente seiner Karriere wiederholen. Und er wird seinen persönlichen Anteil daran bemessen: vom Eigentor bei Bayer Leverkusens Unterhaching-Trauma im Jahr 2000 bis zum dreifachen Endspiel-Drama mit Bayer 2002, vom verpassten WM-Endspiel in Japan und den seriellen Champions-League-Pleiten mit dem FC Bayern – bis zum Torschuss von Fabio Grosso.“

Heß blickt kritisch zuück: „Ballacks Leistungen waren auf jeden Fall nicht so überragend, daß sie seine Kritiker mundtot machten. Nur im Achtelfinale gegen Schweden spielte der zentrale Mittelfeldspieler die Rolle des Dominators, die viele von ihm erwarten, die er aber nur selten ausfüllt.“ Philipp Selldorf (SZ) hingegen gibt Ballack eine bessere Note: „Bei diesem Turnier hat er mit grandiosen Auftritten überzeugt, er steuerte seine Mannschaft, dominierte ihren Rhythmus und spielte wie ein Weltstar. Nur im Spiel gegen Italien brachte er nicht mehr die Kraft zur großen Leistung auf, zumal ihm Sebastian Kehl durch Offensivdrang Raum für Bewegung nahm und manche Verantwortung für die Defensive überließ, die ihm Torsten Frings bis dahin abgenommen hatte. Ballack rannte viel, er kämpfte, aber um auch noch seine Leute zu dirigieren und im entscheidenden Moment das entscheidende Tor zu schießen, dafür war er zu kaputt.“

Bernd Müllender (taz) bewertet Ballacks Leistung gegen Italien sehr kritisch: „Ballacks Auftritt war seltsam unentschlossen, tranig, arm an Dynamik. Er weinte, vermutlich auch weil er wusste, dass seine Performance zum Heulen gewesen war. Und Ballack wird auch wissen, dass er maximal ein passables Turnier gespielt hat. Der große Lenker ist er selten gewesen, wie etwa in der 2. Halbzeit des Polen-Spiels. Ecuadors B-Elf war kein Maßstab, beim Euphorie-Spiel gegen Schweden fiel er hauptsächlich durch ein Dutzend Schussversuche auf, um endlich einen WM-Treffer zu landen. Auch das misslang. Schon gegen Argentinien fielen viele Fehlpässe auf. Und am Dienstag während der Nationalhymne fiel ihm der Spielball aus Händen.“

Ernst zu nehmende Mannschaft

Ralf Wiegand (SZ) vergleicht das Turnier der jungen deutschen Innenverteidigung mit dem der jungen Offensiven: „Metzelder dürfte jener Spieler sein, der am meisten von Klinsmanns Arbeit beim DFB profitiert hat. Erst dort hat er den Fitnesszustand erreicht, den er bei Borussia Dortmund mangels Spielpraxis nie erlangen konnte. Erst dort erspielte er sich die Autorität, die er brauchte, um sich die Rolle als Abwehrchef von Per Mertesacker zurückzuholen. Der junge Mann aus Pattensen wiederum reifte neben dem erstarkten Metzelder, auf ihrer gemeinsamen Reise von Costa Rica bis Italien, vom Jugend- zum Erwachsenenspieler. Dort, wo Mertesacker/Metzelder noch sind, müssen Podolski/Schweinsteiger noch hinkommen. Sie haben in dem Turnier die genau entgegengesetzte Entwicklung genommen, waren spielfreudig wie kleine Kinder zum Auftakt, aber naiv wie ABC-Schüler gegen Italien. Nur dank seines unbändigen Willens zum Torschuss kam Podolski zu einer halben Hand voll Chancen, während er sonst zwischen den Beinen der Italienern umher irrte wie ein Welpe im Wolfsrudel. Und für Schweinsteiger gilt sogar noch mehr, den Sprung von der Spielwiese Confederations Cup, wo er sich so leidenschaftlich ausgetobt hatte, aufs Spielfeld der Erwachsenen noch nicht geschafft zu haben. Felix Magath wird sich in München die Hände reiben, dass Klinsmann wenigstens ihm noch etwas Arbeit übrig gelassen hat, Podolski und Schweinsteiger können noch viel, viel besser werden. Dass aber aus der vermeintlichen Poldi/Schweini- eine Metze/Merte-WM geworden ist, zeigt, welch rasante Entwicklung die deutsche Elf in diesem Turnier genommen hat. Als belächelte Spaßgesellschaft gestartet, schied sie tatsächlich als ernst zu nehmende Fußballmannschaft aus. Das ist die bessere Basis für die Zukunft.“

FAZ-Portrait Christoph Metzelder

FR-Interview mit Metzelder

Regierungssprechersätze

Frank Hellmann (FR) nennt nüchtern die Defizite im deutschen Spiel: „Mit unbändigem Willen, immensem Einsatz und der Unterstützung des Publikums verringerten Klinsmanns Auserwählte den noch vor vier Monaten beim 1:4 in Florenz so frappierenden Klassenunterschied gegenüber den Azzurris auf ein Minimum. Unter dem Strich aber mangelt es auch an Qualität, was sich vortrefflich an den drei besten deutschen Chancen ablesen ließ: Bernd Schneider fehlte die Ruhe, um einen präzisen Schuss aufs Tor abzugeben (34.), und Lukas Podolski hat noch nicht die Klasse, um einen gekonnten Kopfball anzusetzen (105.) oder einen besseren Schuss abzugeben (112.). Die Italiener, im Schnitt fast drei Jahre älter, waren vor allem ausgebuffter, abgezockter, abgeklärter. Die Squadra Azzurra legte eine spielerische und taktische Reife an den Tag, an die diese deutsche Nationalelf ungeachtet der fußballerischen Fortschritte der vergangenen zwei Jahre und vor allem der jüngsten Wochen noch nicht heranreicht.“ Bernd Müllender (taz) kritisiert Klinsmann dafür, daß er gegen die Ein-Stürmer-Taktik der Italiener keine Antwort gefunden habe: „Das hatte schwerwiegende spieltaktische Folgen: In Metzelder und Mertesacker standen zwei Abwehrspieler gegen einen Luca Toni. Deutschland spielte also, unfreiwillig, wieder mit einem freien Mann in der Abwehr und einem zu wenig in Ballacks Mittelfeld. Jürgen Klinsmann reagierte auffallend unwirsch: ‚Ich habe keine Lust, das Spiel hier zu analysieren.‘ Ja, wozu sonst kommt er in eine Pressekonferenz? Nur für Regierungssprechersätze: ‚Wir haben der Welt gezeigt, welch tolles Land wir sind!‘“

FR: Der gute Verlierer Klinsmann und ein formidabler mexikanischer Schiedsrichter

Großer Fußballabend

Mathias Schneider (StZ) applaudiert beiden Teams, besonders den Italienern, für ihr faires Spiel: „Es verdient in jedem Fall uneingeschränkte Anerkennung, mit welcher Ruhe und Fairness die italienische Nationalmannschaft ihr Spiel vorgetragen hat – frei von Hitzigkeit. Schließlich war vorher genug gehetzt worden um die Sperre von Torsten Frings. Dunkle Mächte aus Italien waren als Urheber ausgemacht worden. Erstmals bei der WM schallten Pfiffe aus dem deutschen Block, als die Hymne des Gastes gespielt wurde. Eine Spur Aggression, und die Stimmung wäre wohl gekippt. Doch es standen zwei Mannschaften auf dem Feld, die nichts anderes wollten, als auf sportlichem Weg den Sieger zu ermitteln. Selbst als das Spiel auf des Messers Schneide stand, blieb Zeit für einen Klaps nach einem Foul, wurde Fairplay gelebt. Das Publikum begriff. Es stellte nach dreißig Minuten das Pfeifen ein. Was folgte, war ein großer Fußballabend mit einem verdienten Sieger.“

Alles auf Rot

Ronny Blaschke (BLZ) anerkennt die Leistung der Sieger: „Die Italiener haben sich im Halbfinale abermals enorm gesteigert. Lippi hatte sie hervorragend auf den stürmischen Stil des DFB-Teams eingestellt. Die Italiener kontrollierten das Mittelfeld, sie liefen bis zur Erschöpfung, kombinierten geduldig und stoppten den Tempofußball des Gegners. Andrea Pirlo bestimmte den Takt, Gennaro Gattuso hielt ihm den Rücken frei. So kamen die Azzurri fast auf sechzig Prozent Ballbesitz. In der Defensive erreichte die komplette Viererkette ein Niveau, das bei diesem Turnier unerreicht bleiben wird. Fabio Cannavaro und Fabio Grosso bestritten die Spiele ihres Lebens. Der Taktiker Lippi bereitete den Triumph mit seiner Ordnungsliebe vor. Perfekt machte er ihn in der Verlängerung mit einer Überraschung. Plötzlich standen vier Stürmer auf dem Rasen, Lippi wollte das Elfmeterschießen unbedingt vermeiden, er setzte alles auf Rot – und gewann.“

BLZ-Portrait Fabio Grosso

Unglaube

Dirk Schümer (FAZ) erörtert den Finaleinzug der Italiener in Deutschland vor dem Hintergrund des Prozesses zuhause: „Es könnte nun zum Kuriosum kommen, daß eine Weltmeistermannschaft sich aus Spielern von Klubs der zweiten oder gar dritten Liga rekrutiert, aus Spielern ohne Arbeitgeber und mit drastisch gesunkenem Marktwert, wie manche Zeitungen den Tifosi schon einmal unbarmherzig vorrechneten. Daß gleichzeitig eine derart angeschlagene Mannschaft ihren sportlichen Wert vor den Augen der Welt vervielfacht, hat es in der Geschichte der Fußball-WM noch nicht gegeben. Und so mischt sich der Unglaube über das sportlich Erreichte mit dem Unglauben über das sportgerichtliche Verhängnis.“

NZZ: Hoch lebe der Calcio!

BLZ: Die Italiener feiern – und ärgern sich über deutsche Pfiffe

NZZ: Catenaccio? Was ist das? Über die Stimmung im Lager der Italiener

Höhepunkt

Ein paar Blumen aus der Schweiz von Felix Reidhaar (NZZ): „Nach der tagelangen Ausgelassenheit wird mit dem Abschied des Gastgebers mehr Nüchternheit einkehren. Mit dem deutsch-italienischen Duell, dem man nicht grundlos ehrfürchtig entgegensah, hatte das Turnier nach mehrheitlich spielerischer Alltagskost einen raren Höhepunkt erreicht. In der deutschen ‚Scala des Fussballs‘ trug sich ein packender Fight zwischen Vertretern zweier grundverschiedener ‚Waffengattungen‘ – feine Klinge contra wuchtiges Schwert – zu, der in einen für diese Sportart eher seltenen Sudden-Death mündete. Klinsmanns Team, auf die WM hin nicht unerwartet in Bestform gekommen, musste zwar richtigerweise geschlagen vom Platz. Aber das Verdienst, mit dieser Steigerung der Endrunde bis in die vorletzte Runde massgebliche Impulse verliehen zu haben, gebührt ihm vorbehaltlos – obwohl die Masslosigkeit, wie die Qualität der Mannschaft in der Heimat bejubelt wurde, irritiert.“

SZ: Weitere internationale Pressestimmen

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