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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Individuell und intensiv

Oliver Fritsch | Montag, 10. Juli 2006 Kommentare deaktiviert für Individuell und intensiv

Jan Christian Müller (FR): „Gerade solchem Druck, dem er derart massenpsychologisch ausgesetzt wird, hat sich ein so vielschichtiger, widersprüchlicher und schwer zu greifender Mensch wie Jürgen Klinsmann Zeit seiner Karriere immer gern entzogen. Man denke an seine atemraubenden Auftritte bei den Tottenham Hotspurs, als er Tore am Fließband schoss und ihm ganz Großbritannien huldigte. Er stieg dann in seinen VW-Käfer und fuhr davon. Aber als Bundestrainer hat er eine andere Verantwortung denn damals als Mittelstürmer. Er hat die Rolle des Projektleiters WM 2006 so individuell und intensiv gelebt, dass nur Jürgen Klinsmann Jürgen Klinsmann ersetzen kann. Er hat seinen Job zu gut gemacht, um sich jetzt davon zu machen.“

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Viel mehr als Fußball

Peter Heß (FAZ) preist die liebevolle Pädagogik des Bundestrainers: „Jürgen Klinsmann hat seinem Amt und seiner Arbeit ein menschliches Antlitz gegeben. Er macht seine Entscheidungen transparent, sucht den offenen Dialog und genießt das Privileg, sympathisch, überzeugend und unverkrampft zu wirken, wenn er andere kritisiert und mehr Leistung fordert. Die Nationalspieler seines WM-Kaders haben sich verändert durch den Bundestrainer. Sie wirken wie Sportler und nicht mehr wie Fußballprofis. Sie spüren jetzt Klinsmanns Hunger nach Verbesserung und haben die Attitüde der verwöhnten, blasierten Stars weitestgehend abgelegt. Es geht um das Sein und nicht mehr um den Schein. Ihre Einstellung fragt nicht mehr nach der Bedeutung eines Spieles, das vor ihnen liegt. Die Vorstellungen des Nationalteams gegen Ecuador oder Portugal, Begegnungen, in denen es auf den Sieg nicht unbedingt ankam, fielen genauso überzeugend aus wie die in den K.-o.-Spielen. Länderspielbesuche waren früher oft ein Akt bitterer nationaler Fußballpflicht, jetzt sind sie die Eintrittskarte zu einem beglückenden Erlebnis. Die deutsche WM-Party wäre nicht so überwältigend ausgefallen, wenn die Erfolge auf die althergebrachte Art und Weise zusammengezimmert worden wären. Deutschland und die Weltmeisterschaft – das war viel mehr als Fußball, vor allem dank Klinsmann.“

Edelkitsch

Christof Kneer (SZ) ringt beim Abschied der deutschen Elf von ihrem Publikum mit den Traänen: „Die Versöhnungskraft dieser Mannschaft wird einem langsam unheimlich. Kaiser umarmt Klinsmann, Lehmann heiratet Kahn, Klinsmann lobt Merkel, Beck lobt Klinsmann, und wenn das so weitergeht, könnte man die Elf mit Blauhelmen ausstatten und zu Friedenseinsätzen in die Welt entsenden. In feiner Dramaturgie haben am Ende auch noch die Kaderauffüller Hanke und Hitzlsperger ein paar WM-Minuten abbekommen, ebenso Jens Nowotny. Wenn es stimmt, dass der DFB-nahe Regisseur Sönke Wortmann die WM erfunden und inszeniert hat (wofür einiges spricht), dann muss man ihm alle Regiepreise dieser Welt aufdrängen, weil man noch nie einen Edelkitsch erlebt hat, der so unterhaltsam war. Aber: Weiß Wortmann eigentlich, wie die Geschichte weitergeht?“

Zu neuer Größe geschrumpft

Oliver Kahn tritt zurück, und Michael Eder (FAZ) faßt sich ans Herz: „Nie zuvor hatte man Oliver Kahn nach einem großen Sieg so gesehen wie in diesen Augenblicken, so ganz ohne zur Schau gestellte Aggression, ohne Triumphgeste, so ganz ohne Panzer um die schillernde, die schwierige Persönlichkeit. Oliver Kahn war am Ende angekommen – und auch bei sich. Nichts erinnerte mehr an den alten Kahn, der sich selbst zerfleischte in jedem Spiel, der keine Freunde kannte, nur Gegner, nur Feinde. Es ist sein Glück und seine Tragik, daß es einer schweren persönlichen Niederlage bedurfte, um diese grenzenlose Zuneigung zu erfahren. Oliver Kahns nachdenklicher, bescheidener, stiller Abschied ließen den Titanen schrumpfen – zu neuer Größe.“

Menschwerdung

Philipp Selldorf (SZ) scheut keinen Vergleich mit der Geschichte: „Als Oliver Kahn Anfang April die Presse zusammenrief, um ihr mitzuteilen, dass er auch als Reservetorwart die WM mitmachen wolle, haben viele an der Aufrichtigkeit seiner Worte gezweifelt: ‚Es geht nicht um dich, um Oliver Kahn und persönliche Belange – es geht um etwas viel, viel Größeres.‘ Mancher Zuhörer dachte: Dieser Satz stammt aus der Schule von John F. Kennedy, aber nicht aus dem Begriffsrepertoire von Oliver Kahn. Diese Zweifel haben sich als grandioser, sogar ein wenig beschämender Irrtum erwiesen, und zwei Monate später lautet die Lehre, dass Oliver Kahn sicher einen hervorragenden Präsidenten abgäbe. Und wer war eigentlich dieser Kennedy?“ Andreas Lesch (BLZ) fügt hinzu: „Das ist die Nachricht dieser Nacht gewesen: Oliver Kahn, der Titan, der Beißer, Schubser, Brüller, ist Mensch geworden. Er hat gelernt, dass die Liebe des Publikums nicht nur als Dank für große Leistungen zu haben ist, sondern auch als Anerkennung für große Gesten.“

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Außergewöhnliche Klasse

Über den Abschied Luis Figos aus der Nationalmannschaft schreibt Michael Eder (FAZ): „Der letzte große Auftritt dauerte nur dreizehn Minuten, aber er genügte, um noch einmal zu zeigen, was die portugiesische Nationalmannschaft verloren hat: ihren besten Spieler der letzten Dekade. Luis Figo gab seinen Abschied, und in den dreizehn Minuten, in denen er spielte, war die Seleccao eine ganze Klasse besser als zuvor. Noch einmal ließ er den Ball an seinem Fuß kleben, stand mit aufreizender Lässigkeit vor seinen Gegenspielern, die ihn kaum anzugreifen wagten, und ganz am Ende lieferte er mit einer wunderbar getimten Flanke von rechts noch die Vorbereitung für den einzigen portugiesischen Treffer. Figo verabschiedete sich mit einer Niederlage, aber mit einer Aktion, die noch einmal seine ganze außergewöhnliche Klasse zeigte.“

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