Am Grünen Tisch
Ein zweiter Betrug
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| Donnerstag, 27. Juli 2006Kritik, Ärger, Kopfschütteln und das Gefühl, es doch geahnt zu haben – die deutschen Zeitungen können die Revisionen im italienischen Fußball-Prozeß nicht fassen. Eine Auswahl an Schlagzeilen und -worten:
„Skandal nach dem Skandal“ (sueddeutsche.de)
„Justizposse“ (Spiegel Online)
„Reinigendes Gewitter verkommt zur Commedia“ (taz)
„Fegefeuerchen all‘italiana“ (FAZ)
„Italien, Heimat der fortgesetzten Korruption“ (Welt)
Oliver Meiler (BLZ) kritisiert die Richter: „Die milden, ja butterweichen Urteile des Revisionsgerichts zum größten Betrugsskandal in der Geschichte des italienischen Sports muten an wie Spott, Hohn, eine Karikatur – und wie ein zweiter Betrug an den zahlenden Zuschauern.“ Joachim Klumpp (StZ) sieht einer sportlichen Entwertung des italienischen Fußballs entgegen und betrachtet das Vergehen auf einer Stufe mit Doping: „Der Vorsitzende Richter ist umgefallen und der italienische Klubfußball hat eine große Chance vertan, reinen Tisch zu machen anstatt mit Larmoyanz über eine Ungerechtigkeit zu klagen, die die Verantwortlichen meist selbst provoziert hatten. Auf einen Selbstreinigungsprozeß zu hoffen, das fällt nach den Erfahrungen der Vergangenheit schwer. Und ein wenig erinnert das an den Radsport. Ähnlich wie bei der Tour spielen künftig im italienischen Fußball die Zweifel mit: an Sieg und Niederlage.“
Ein weiterer Auslöser der Empörung: Die milde Bestraften aus Mailand, Florenz, Rom und Turin beteuern zu allem Überfluß ihre Unschuld und kündigen weitere Anfechtungen an. Wolfgang Hettfleisch (FR) würde es nicht überraschen, wenn ihnen dank ihrer Meinungsmacht eine weitere Strafreduzierung gelingen würde: „Die Täter nutzen die Gunst der Stunde, gerieren sich als Opfer und deuten die auf jämmerliches Maß geschrumpften Strafen zu brutalen Willkürakten um. Und die Commedia dell‘arte ist noch nicht vorbei. Am Ende dieser Farce werden die Betrüger die öffentliche Meinung im Land so weit korrumpiert haben, daß sie als verfolgte Ehrenmänner dastehen. Bald können sie wieder unbehelligt ihren dunklen Geschäften nachgehen.“ Stefan Hermanns (Tsp) sieht einen Mythos der Ungerechtigkeit bestätigt: „Die Klage der Kleinen, daß die Großvereine von den Schiedsrichtern und vom Verband bevorteilt werden, ist nicht neu. Nachzulesen ist sie auch in Tim Parks’ wunderbarem Buch ‚Eine Saison mit Verona‘. Bisher konnte man seine Vorwürfe noch für das neurotische Gejammer eines enttäuschten Fans halten. Seit dem Urteil des Berufungsgerichts bestehen an ihrer Berechtigung keine Zweifel mehr.“
Die Ehrliche ist die Dumme
Dirk Schümer (FAZ) vergleicht den Prozeß mit dem Wettskandal in den 80er Jahren und führt die Gnade der Richter auf ökonomische Abhängigkeiten und Lobbyismus zurück: „Mit diesem skandalösen Urteil ist die Seele des italienischen Fußballs erheblich mehr angegriffen, als es die larmoyanten Übeltäter, die protestierenden Tifosi und abwiegelnden Sportjournalisten wahrhaben wollen. Kommentatoren erinnerten nostalgisch an den Wettskandal Anfang der achtziger Jahre, als man Lazio Rom und den AC Mailand sofort in die zweite Liga verbannte. Solche regelgerechten und heilsamen Strafen scheinen im Fernsehfußball mit seinen immensen Abhängigkeiten von Medien, Geldgebern, opportunistischen Politikern gar nicht mehr möglich – zumindest in Italien.“
Auch Birgit Schönau (SZ) verneint die Unabhängigkeit der mutlosen Richter: „Die Richter der zweiten Instanz sind alte Bekannte beim Verband, sie befinden seit Jahren über den Ball und seine Herren. Rechtsanwälte allesamt, geschult in der barocken Dialektik des italienischen Justizwesens und in keiner Weise daran interessiert, sich mit jenen anzulegen, die auch außerhalb des Fußballs Macht besitzen: Silvio Berlusconi etwa, Oppositionsführer und Besitzer des AC Mailand. Am Tropf seines Fernsehsenders Mediaset hängt die Profiliga. Oder Diego Della Valle, Besitzer des AC Florenz, Aktionär beim Verlagshaus RCS, das den Corriere della Sera und die Gazzetta dello Sport herausgibt. Oder Lazio-Patron Claudio Lotito mit seinen Beziehungen zur postfaschistischen Nationalen Allianz. Drei Klubs mit Millionen von Fans, TV-Zuschauern, Wählern. Um da hart zuzulangen, muß man seine Karriere wohl schon hinter sich haben, wie die Richter der ersten Instanz.“ Besonders bedenklich stimmt Schönau, daß die Ehrliche, nämlich die reuige Juventus, die Dumme ist: „Das Urteil tut keinem weh außer der alten Dame Juventus. Die hatte ja auch als einzige den Willen zur Erneuerung gezeigt. Und wer so etwas tut, ist in Italien offenbar immer noch selber schuld.“
Ein gut katholisches Land
Daß Juventus die Hauptschuld trifft, ist in den Augen Vincenzo Delle Donnes (SpOn) ein Signal für eine Machtverschiebung hinter den Kulissen: „Der Abstieg des Vereins ist gleichzeitig auch der Abstieg der Agnelli-Familie, die die Mehrheitsanteile am italienischen Rekordmeister hält. Mit dem Tod des Familienpatriarchen Gianni Agnelli, der der ungekrönte König Italiens genannt wurde, hat die Agnelli-Familie einen wichtigen Fürsprecher auch in der Fußballlobby verloren. Am Ende siegten alte politische Seilschaften und wirtschaftliche Interessen.“
Zwei Kommentatoren betonen, daß es sich bei Italiens Fußballsumpf nicht um eine rein italienische Angelegenheit handele. Schümer fordert die Uefa auf zu intervenieren, die schon viel zu lange untätig zugesehen habe: „Die Frage ist, wie lange man in Europa die schwarzen Schafe südlich der Alpen noch gewähren läßt. Merkwürdig, daß die Uefa bislang klaglos akzeptiert, wenn bei einem Champions-League-Sieger wie bei Juventus Turin in den neunziger Jahren systematisch gedopt wurde, wenn die Milliarden für italienische Vereine – wie bei Parma oder Lazio Rom – aus kriminellen Kanälen kommen. Fairer Wettbewerb ist mit einem manipulierten Calcio all‘italiana offenbar nicht zu haben.“ Jürgen Schmieder (sueddeutsche.de) stimmt ein und legt noch einen drauf: „Die Uefa und auch der EU-Gerichtshof müssen nun bemüht werden. Schließlich geht es in diesem Fall nicht nur um die Serie A, sondern auch um die europäischen Wettbewerbe Champions League und Uefa-Cup.“
Schümer faßt religionssoziologisch zusammen: „Nach der Verdammung die Gnade, nach dem Fegefeuer das Paradies – Italien hat sich auch im schlimmsten Sportskandal seiner Geschichte als gut katholisches Land erwiesen.“
BLZ-Hintergrundbericht über die politischen und persönlichen Verwicklungen im Berufungsprozeß
NZZ: Milde Berufungsurteile, mit Ausnahme für Juventus, im italienischen Skandal
faz.net: Video über das Urteil
NZZ: Die Erfolgsmaschine Juventus ist an ihrem Geld- und Geltungshunger zerbrochen
BLZ: Fährmann in die Hölle – Alessandro Del Piero bleibt trotz Zwangsabstiegs bei Juve
NZZ: „Konstruiertes Urteil im Sinne des Milieus“ – Italiens Presse zur Calciopoli-Revision
BLZ: Pressestimmen aus Italien und Spanien: „Skandalöses Urteil“
Tsp: Franz Beckenbauer für Lennart Johansson
Welt: Platini will Johansson in Rente schicken
FAZ: Jürgen Klopp, der Mainzer Star wider Willen
SZ: Trainer Jupp Heynckes verwaltet in Mönchengladbach einen Spieler-Überfluß
FR: Borussia Dortmund hat sich gezielt verstärkt
SZ: Borussia Dortmund, vor einem Jahr schwer angeschlagen, plagt sich nur noch mit Luxussorgen
FAS: Borussia Dortmund wieder im Aufschwung?
WamS-Interview mit Felix Magath: „Die WM darf nicht unser Maßstab sein“
SZ: Nach Lehrjahren in Köln ist Christian Lell wieder beim FC Bayern – bescheiden und boulevardtauglich
Welt: Über die Vermarktung Bayern Münchens in Japan
SZ: Praktikum bei sich selbst – Thomas von Heesen und Petrik Sander müssen ihren Trainerschein nachholen
NZZaS: Dose voll statt Flasche leer in Salzburg – sehr viel Geld, Trapattoni, Matthäus und Beckenbauer sollen Erfolg garantieren
NZZ-Interview mit Dietrich Mateschitz, dem Eigner von Red Bull Salzburg, über die Qualitäten Lothar Matthäus‘
Tsp: Arsenal eröffnet das Emirates-Stadion – und verabschiedet Dennis Bergkamp, mit dem große Zeiten begannen
Tsp: Der NOFV zeigt wenig Engagement bei der Sanktionierung der Übergriffe auf den Nigerianer Ogungbure