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Ball und Buchstabe

Schade, daß Frankreich nur gegen Italien spielt und nicht gegen Chelsea

Oliver Fritsch | Mittwoch, 6. September 2006 Kommentare deaktiviert für Schade, daß Frankreich nur gegen Italien spielt und nicht gegen Chelsea

Heute spielt Frankreich gegen Italien, und Fußballmoral steht hoch im Kurs: Marco Materazzi, von Zinédine Zidane auf die Hörner genommen, enthüllt nun den Dialog des 9. Juli, und das deutsche Internet erörtert, verteidigt, hält Plädoyers und fällt Urteile – bis Chelseas Bösewicht José Mourinho auftaucht und den Zorn auf sich lenkt

Das WM-Finale vom 9. Juli erfährt eine Neuauflage. Frankreich spielt in der EM-Qualifikation gegen Italien, „den verkaterten Stiefel“, wie die Berliner Zeitung auf das mickrige 1:1 des Weltmeisters gegen Litauen anspielt und auf die schlechte Fußballstimmung im Land des Fußballskandals, etwa den schwachen Dauerkartenverkauf der Liga.

Nun enthüllt Marco Materazzi, was er seinem Widersacher Zinédine Zidane vor dessen Rammstoß gesagt habe: „Deine Schwester wäre mir lieber“, will er Zidane entgegnet haben, der Materazzi nach dessen Zupfer gefragt habe, ob er als Fan an seinem Trikot interessiert sei – übrigens ein Gag aus Nikes Joga-Bonito-Werbekampagne mit Eric Cantona.

Abenteuerlichste Theorien

Über das Maß der Schuld Materazzis und das Vergehen Zidanes diskutiert das Internet unter großem Einsatz. Es gibt ein Voting auf sueddeutsche.de, ein Forum auf Spiegel Online, und in vielen Blogs und Redaktionen wird die Story zum Lehrstück der Fußballmoral. Die große Mehrheit wertet Materazzis Äußerungen (wie auch sonst?) als arglos, im Blog der 11 Freunde lesen wir: „Mag Materazzi weder der Hellste sein, noch sympathisch oder unschuldig, der Böse in diesem Spiel ist Zidane. Auf eine derart plumpe und aggressive Weise, auf eine zwar freche, aber bestimmt nicht beleidigende Replik, zu antworten macht den Fall, ergo die Schuld, eindeutig.“ Auch Isaac Bah (zeit.de) kann Zidanes Brutalität nicht verstehen: „Im Vergleich mit all den schlimmen Ausdrücken und Beleidigungen für Ohr und Verstand, die Fernsehzuschauer schon im Nachmittagsprogramm über sich ergehen lassen müssen, mutet dieser verbale Schlagabtausch erfrischend harmlos an. Beinahe humorvoll, was Zidane im Eifer des Gefechts noch so von sich geben kann. Die Replik Materazzis fällt ein wenig ab, die darauf folgende Reaktion Zidanes aber umso mehr. Sollte dies tatsächlich der Original-Wortlaut des Gesprächs zwischen den beiden Fußballprofis gewesen sein, bleibt für Zidanes Kopfstoß nur Kopfschütteln übrig.“

Bah ruft die Spekulationen und Verleumdungen ins Gedächtnis, die unmittelbar nach dem Vorfall die Runde machten, und die aus dem Schläger den Helden machten und aus dem Geschlagenen den Schuldigen: „Bald tauchten die abenteuerlichsten Theorien darüber auf was Materazzi Zidane Schlimmes gesagt haben könnte. Schnell bildeten sich einige Lager. ‚Es muß etwas Rassistisches gewesen sein‘, sagten die einen, andere vermuteten eine ehrenrührige Beleidigung von Zidanes Familie. In einem waren sich alle einig, es muß eine ungeheure, nie zuvor gehörte Beschimpfung gewesen sein. Ein kleines Grüppchen offenbar Ahnungsloser verwies darauf, daß Zidane schon häufiger in Spielen die Nerven verloren hatte, auch ohne erkennbaren Anlaß. Überflüssig zu sagen, daß diese Einschätzung beim Gros der Fußballfans nicht viel Anklang fand.“

Rassistische Verteidigung

Der 11-Freunde-Blog bürstet die Zidane-Apologie gegen den Strich: „Endlich ist Schluß mit den positiv gemeinten Bemerkungen zugunsten Zidanes, die aber in Wahrheit zutiefst rassistisch waren. ‚Das darf man einem Nordafrikaner nicht sagen, da flippt der doch logisch aus!‘ oder ‚Das ist das schlimmste für einen Araber, wenn Du seine Mutter beleidigst!‘ Na klar, so ist er eben, der glutäugige Berber, temperamentvoll und stolz, der heißblütige Algerier, wild und seiner unbändigen Instinkte einfach nicht Herr, vergleichbar dem Neger mit dem Rhythmus im Blut, dem Juden und seiner Geschäftstüchtigkeit oder dem Kraut mit dem Pickelhelm. Gewalt ist immer unsportlich. Und ein Vorurteil einer Volksgruppe gegenüber ist immer rassistisch, selbst wenn es den Vorverurteilten verteidigen soll.“ Wolfgang Gärner (SZ) geht die ganze Debatte am Vielzitierten vorbei: „Wir warten nun schon eine geraume Weile auf Mitteilung unserer Gleichstellungsbeauftragten, ob wenigstens der Tatbestand einer sexistischen Entgleisung gegeben ist.“

SZ: Die Italiener empfinden die Strafe für Materazzi als ungerecht
NZZ: Nichts ist beendet – WM-Finale läßt das EM-Qualifikationsspiel zwischen Frankreich und Italien nicht los

Einen Ballack machen

Ein sehr lesenswerter Vorbericht zum Match stammt wieder einmal aus der Tastatur Christian Eichlers (FAZ). Er erkennt, daß Frankreichs Zorn ein neues Ziel anpeilt: nicht mehr Italien und Materazzi, der ohnehin gesperrt ist, sondern Chelseas Bösewicht José Mourinho. Wie ist’s gekommen? Eichler rekonstruiert: „Frankreichs Nationaltrainer Raymond Domenech fand eine elegante Möglichkeit, dem Italien-Thema die Hitze zu nehmen: Er hat einen Nebenschauplatz für Nervenduelle aufgemacht“: Er hat Claude Makelele, der eigentlich nach der WM zurücktrat, eingezogen, was durch Fifa-Regeln gestützt ist. Makelele versichert nun, er werde spielen, aber gegen seinen Willen. Mourinho bezeichnet das als „Sklaverei“, was angesichts der Hautfarbe Makeleles besonders roh und unsensibel klingt. Domenech entgegnet, Mourinhos Ausfall sei „beleidigend für alle, die im Kampf gegen Sklaverei ihr Leben opferten“. Chelsea verteidigt daraufhin Mourinhos Wortwahl als „Sprachbild“, als wäre damit alles zu rechtfertigen.

Der Dialog erhalte eine „besondere Note“ durch den Umgang Chelseas mit dem Franzosen William Gallas, schreibt Eichler. Dem abtrünnigen „früher hochgelobten Angestellten“ werfe der Verein „reichlich Dreck hinterher“, indem er ihm unterstellt, seinen Wechsel nach Arsenal durch die Drohung, Eigentore zu schießen und Rote Karten zu sammeln, erzwungen habe. Eichler schließt mit einer kernigen Pointe: „Schade eigentlich, daß Frankreich nicht gegen Chelsea spielt. Sondern nur gegen Italien.“

Wissen Sie, was es bedeutet, „einen Ballack zu machen“? Von Eichler erfahren wir es: Es sei widersprüchlich, Gallas Geldgier zu unterstellen, wie Chelsea es tut, „da er nur ein Jahr noch seinen Vertrag hätte aussitzen müssen, um dann ablösefrei einen Ballack zu machen, also die durch den neuen Klub gesparte Transfersumme als Gehaltsaufschlag zu kassieren.“

Totale Konzentration auf den Erfolg

Christian Hönicke (Tsp) spricht dem FC Chelsea das Recht ab, sich über Spieler aufzuregen, die ihren Verein trotz laufendem Vertrag verlassen wollen: „Der FC Chelsea ist als Role Model des modernen Klubfußballs an der Entwicklung hin zur Widernatürlichkeit nicht ganz unschuldig. Mit Hilfe eines Milliardärs und der Legitimation des Bosman-Urteils hat sich der Verein quer durch die Fußballwelt gekauft. Chelsea steht für die totale Konzentration auf den Erfolg bei totaler Loslösung von lokalen Aspekten. Kann man es den Spielern da zum Vorwurf machen, daß auch sie bei besseren Angeboten durch die Fußballwelt ziehen?“

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