Bundesliga
Prekariat der Fußballfans und kickende Unterschicht
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| Montag, 30. Oktober 2006Pressestimmen zum 9. Spieltag: Gewalt in den unteren Ligen stellt die Bundesliga in den Schatten / Forderungen an den DFB und die DFL / Presse findet Trost allein in Werder Bremen / Kritik an Jürgen Klopp / Bochum und Wolfsburg, das Duell der grauen Mäuse / Dieter Hoeneß fühlt sich verfolgt, die Presse schmunzelt
Wolfgang Hettfleisch (FR) betont aufrüttelnd auf die Diskrepanz zwischen dem Bild, was sich die Deutschen vom Fußball während der WM gemacht haben, und der gewaltvollen Realität in den Fan-Blöcken und S-Bahnen: „Es gibt gute Gründe, der allzu schlicht gestrickten Botschaft vom Blümchen-Patriotismus zu mißtrauen, der im Fußball ein perfektes Vehikel fand. An diesem Wochenende zeigte sich bei Fan-Ausschreitungen in Augsburg, Berlin und Pforzheim, daß der Deutschen liebster Sport unverändert auch als Transportmittel für Haß und Gewalt dient. Der Befund kann nur jene überraschen, die im Ausnahmezustand während der WM eine Art neuer deutscher Normalität sehen wollten. Der Alltag auf vielen Fußballplätzen insbesondere der dritten und vierten Ligen sieht anders aus. Dort tobt sich auf den Rängen eine Minderheit aus, die einem Milieu angehört, das aus der aseptischen Erlebniswelt Bundesliga mit ihren Logen, 40-Euro-Sitzplätzen und Anti-Rassismus-Kampagnen weitgehend verdrängt wurde. Es gibt ein Prekariat der Fußballfans.“
Peter Stolterfoht (Stuttgarter Zeitung) fordert das Investment des DFB und ein neues Gesetz: „Während die große Showbühne Bundesliga einigermaßen sicher geworden ist, spielt sich der Fußballterror mittlerweile abseits des grellen Rampenlichts ab – in der zweiten Liga, der Regionalliga, der Oberliga. Die großen Vereine haben das Geld für die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen und investieren auch in präventive Fanprojekte. In den unteren Klassen werden die deutlich geringeren finanziellen Mittel dagegen fast ausschließlich in den sportlichen Bereich investiert. Sich einen Fan-Beauftragten zu leisten gilt vielerorts als unnötiger Luxus. Hier muß der Hebel angesetzt werden – und zwar vom DFB. Der reichste Sportverband der Welt müßte genug Geld übrig haben, um unterklassige Klubs im Kampf gegen Gewalt zu unterstützen. Im Gegenzug sollte die Lizenzvergabe auch davon abhängig gemacht werden, ob ein Verein der Gewalt und dem Rassismus entschieden entgegenwirkt.“
Welch frostiges Klima für Deutschlands Lieblingsspiel!
Klaus Hoeltzenbein (SZ) nimmt die Profiklubs und -spieler in die Verantwortung: „Gegen diese Gewalt der vielen Orte scheint nur eine Doppel-Strategie zu wirken: vorrangig die Fan- und Sozialarbeit, dann die Null-Toleranz-Politik. Auch die großen Klubs müssen runter von der Insel der WM-Beseelten. Es ist ihr Sport, der in den unteren Klassen geprügelt wird. In Italien haben Skandale und Krawalle das Publikum schon aus den Stadien vertrieben. Hier könnten die Nationalspieler auf Plakaten und in TV-Spots zu Anti-Gewalt-Botschaftern werden – jeder könnte dann ihre Botschaften gegen feige Fäuste sehen. Ob sie jeden erreichen, ist fraglich, aber auch nachrangig.“
Jörg Hahn (FAZ) beklagt die Folgenlosigkeit und Oberflächlichkeit von Politikersätzen – und findet Trost in Werder Bremen: „Politiker, die eben noch den Fußball als Erfolgsmodell für Gewaltprävention und Integration sowie als beste Werbung für das moderne Deutschland-Bild in der Welt gerühmt haben, echauffieren sich mit routinierter Rhetorik gegen eskalierende Gewalt in Fußballstadien, fordern hartes Durchgreifen. Wir warten auf Krisengipfel, Sofortmaßnahmen – und auf die Sondersendung zum Thema mit Sabine Christiansen. Zynisch könnte man bemerken, daß die Krawalle auch ihr Gutes haben: als Motor für dringend notwendige Investitionen in Stadionsicherheit jenseits des großen Fußballs. Welch frostiges Klima für Deutschlands Lieblingsspiel! Nur gut, daß ausgerechnet eine Mannschaft aus dem angeblich so kühlen Norden kräftig auf den Blasebalg tritt, um die Flamme der Fußball-Begeisterung am Leben zu halten.“
Vorhang auf – doch da kommt nur ein Mainzer Mäuschen
Mit skeptischen Augen beobachten die Journalisten mittlerweile Jürgen Klopp, der mit seinen Mainzern 1:6 gegen Werder Bremen verloren hat. Christoph Kneer (SZ) hält Klopp stichelnd vor, daß er zu sehr auf dieses Spiel, auf diese eine Karte, gesetzt habe: „Es ist selten gut, wenn man ein Fußballspiel überlädt. Einen so hohen emotionalen Aufwand haben sie betrieben in Mainz, daß die Fallhöhe umso größer war. Sie haben nicht nur ihren Stadionsprecher in Stellung gebracht (‚Heute hören wir van Halen, wie im Aufstiegsjahr!‘ ‚Und jetzt die Wunderkerzen!‘), sondern unter der Woche auch ‚den besten Mannschaftsabend seit fünfzehn Jahren‘ gefeiert (Klopp). Sie haben den neuen Spielern DVDs aus dem Aufstiegsjahr vorgespielt, und auf der Mitgliederversammlung hat Klopp die Leute aufgefordert, zwanzig Sekunden die Augen zu schließen, um sich die alten Aufstiegsbilder vors geistige Auge zu rufen. Was er nicht wußte, ist, daß auch seine Abwehrspieler die Augen zumachten und daß sie sie nicht mehr aufgemacht haben bis zum Abpfiff (falls doch, haben sie schemenhaft Klose, Hunt oder Diego vorbeiflitzen sehen).“
Michael Eder (FAS) zersticht Klopps Wortballons: „Man muß sich das vorstellen wie im Zirkus. Riesiges Tamtam, volles Orchester, hektisches Ballyhoo, dann Vorhang auf – und statt des erwarteten Panthers kommt nur ein verwirrtes Mäuschen hervor, ein Mainzer Mäuschen, das vor einem echten Panther steht, einem Panther aus Bremen, der es in der Luft zerreißt. Alle Aktionen der Mainzer hatten sich als Schlagen im Schaum erwiesen – das ist das Risiko, das einer wie Klopp eingeht, wenn er unter der Woche trommelt wie ein Wilder, wenn er Emotionen schürt und einen Neubeginn ausgerechnet gegen diese überragende Bremer Mannschaft ankündigt. Das kann ins Auge gehen, das kann peinlich enden. Und so ist es gekommen.“ Die vorauseilende Entgegnung der Mainzer, die hohe Niederlage sei durch die Stärke des Gegners hinreichend erklärt, läßt Eder nicht gelten: „Die Hausherren selbst haben genügend dazu beigetragen, und das galt besonders für Klopp. Der Mainzer Trainer, als führender Kopf der WM-Plauderrunde des ZDF gerade erst mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet, ist seit Wochen im Taktiktüftelrausch. Klopp muß seine schwer geschlagene Mannschaft wiederaufrichten, das ist seine erste Aufgabe, und er muß ihr endlich eine Ordnung verpassen, die keinen Nobelpreis für Fußballtaktiken gewinnen will, sondern die ganz einfach nur funktioniert. Schafft er dies nicht, wird sich Mainz von dieser fulminanten Niederlage so schnell nicht erholen.“
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