Champions League
Müdigkeit, die über körperliche Erschöpfung hinausgeht
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| Donnerstag, 3. Mai 2007Viele deutsche und englische Zeitungsjournalisten deuten Liverpools Sieg gegen Chelsea als große, folgenschwere Niederlage José Mourinhos
Über Chelsea-Niederlagen schreiben heißt über die Sätze seines Trainers schreiben – Christian Eichler (FAZ) ist der Interpretationen José Mourinhos überdrüssig: „Einsam war er in seiner Betrachtung. Daß Chelsea die ’stärkere Mannschaft‘ gewesen sei, mit den ‚besseren Chancen‘, und überdies ‚die einzige, die auf Sieg gespielt‘ habe, das alles hatte Mourinho exklusiv. Daß Chelsea durch Kuyts Kopfball an die Latte oder durch einen zu Unrecht nicht anerkannten Treffer des Holländers in der Verlängerung mehrmals kurz vor dem K.o. stand; daß die ‚Reds‘ aus dem Gegner über weite Strecken alles Leben herauspreßten, so wie es sonst Chelsea gern tut; daß beim Milliardärsteam aus London dort, wo die Kraft ausging, auch bedingt durch Verletzungen wie die von Ballack und Carvalho, kein Spielwitz, keine Finesse, kein Flair die Physis ersetzen konnten – davon redete Mourinho nicht. In den letzten Wochen hat er wie gewohnt, wenn die großen Spiele kommen, verbal ausgeteilt, doch alles verpuffte.“ Eichler begründet seine Freude über Liverpools Sieg: „Spaß macht Chelsea nie, es ist eine Siegmaschine, und wenn sie nicht mehr siegt, verliert sie ihren Sinn – wie ein Investment, das keine Rendite abwirft. Liverpool hat andere Reichtümer zu bieten. Es hat ein Herz für den Fußball.“
Sabine Rennefanz (Berliner Zeitung) führt Chelseas Schwächeln auf die Distanzierung Roman Abramowitschs von seinem Klub und seinem Trainer zurück: „Der Streit zwischen einem dominanten Besitzer und einem nicht minder machtorientierten Trainer unterhöhlt die Mannschaft. Es häufen sich die Zeichen, daß der zweitreichste Mann Englands die Lust an seinem Spielzeug verloren hat, auch wenn er das energisch dementieren lassen würde. Zwar haben Abramowitsch und Mourinho sich kürzlich umarmt, und das wurde als Zeichen gewertet, daß die Wogen sich geglättet hätten. Das Chelsea-Management stärkte dem Trainer formal den Rücken. Doch die Kämpfe scheinen Spuren auf Mourinhos Urteilsfähigkeit gelassen zu haben. Es hat sich eine Müdigkeit breit gemacht, die über körperliche Erschöpfung hinausgeht.“ Sven Goldmann (Tagesspiegel) läßt auf Mourinho nichts kommen: „Die Mannschaft dieser Saison ist nicht die von Mourinho, sondern die von Abramowitsch. Daran ist Chelsea in dieser Saison gescheitert. Nicht an seinem vorlauten Trainer.“
Mourinho und Chelsea sind in Liverpool kleiner geworden
Auch Raphael Honigstein (FR) stellt Mourinhos Machtverlust fest: „Die schönsten, größten Ölquellen der Welt helfen nichts, wenn der Mannschaft auf der wahnwitzigen Hatz nach allen Titeln im Frühling die Luft ausgeht. Um galaktischen Zersetzungstendenzen vorzubeugen, hat Mourinho im vergangenen Sommer auf einem vergleichsweise kleinen Kader bestanden. Die Rechnung war allerdings ohne die Verletzungsmisere und diverse Hinterzimmerquerelen gemacht. Damit man dieses Chelsea richtig versteht, müßte man vor Spielbeginn neben dem Aufstellungsbogen ein Diagramm erhalten, das erklärt, wer welchen Spieler verpflichtet hat. Der Kompetenzgerangel war fatal. (…) Es gibt Menschen und Mannschaften, die in Niederlagen ihre eigene Größe entdecken. Mourinho und sein Chelsea sind in Liverpool ein ganzes Stück kleiner geworden, selbst wenn man Dinge wie Anstand und Sportsgeist ausklammert. In Zukunft werden sich noch mehr Männer in die Belange des Trainers einmischen. Er bekommt einen israelischen Sportdirektor vor die Nase gesetzt, falls er überhaupt in London bleibt. Die Stamford Bridge ist bestenfalls halb so laut wie Anfield. Aber Chelsea wird so schnell nicht zur Ruhe kommen.“
Very british
Is it in the genes or is it in the jeans? Jeff Powell (Daily Mail) schlußfolgert aus dem Charakter des Spiels die perfekte Anpassung der vielen ausländischen Spieler an das englische Fußballklima: „Es ist wirklich erstaunlich, wie die Premier League es schafft, derart viele talentierte Spieler aus aller Welt zusammenkaufen, um dann, in einem Spiel von europaweiter Bedeutung, eine Partie hervorzubringen, die in ihrer hysterischen Verzweiflung und ihrem zerfahrenen kick-and-rush so traditionell englisch ist. Es war die Nacht der langen Bälle und gleichzeitig ein Abend, der die Herzen schneller schlagen ließ, die Trommelfelle zum Zittern brachte und die Nervenanspannung ins Unerträgliche trieb. Aber, und das ist viel wichtiger, es war auch ein Abend der uns daran erinnert, was im Fußball wirklich zählt: Denn letztlich, wenn all das Geschrei, die Schaumschlägerei und das Getöse vorbei sind, geht es um Spieler. Spieler, die sich um den Verstand laufen können, auch wenn sie einem Ball nachjagen, der sich kaum erreichen läßt. Spieler, die einmal tief durchatmen und einen Elfmeter schießen können, wenn sich das Ziel anders nicht erringen läßt. Und Spieler, die nie aufgeben, auch wenn das Spiel für sie mindestens so schmerzhaft ist wie für uns Zuschauer.”
Benitez hat etwas geniales
Eine hektisches, zerfahrenes und gedankenarmes Spiel sah auch Kevin McCarra (Guardian): „Beide Mannschaften rangen so heftig miteinander, daß man den Eindruck gewann, keiner von beiden würde den anderen jemals ins Finale einziehen lassen. Aggers Tor war das erste zusammenhängende Stück Fußball in der gesamten Partie, und ohne die Pause vor dem Freistoß, die etwas Zeit gab um die Gedanken zu ordnen, wäre wohl auch dies nicht zustandegekommen.”
James Lawton (Independent) widmet sich dem Duell der Trainer: „Es ist zu vermuten, daß Mourinho, wenn sich die Enttäuschung erst einmal gelegt hat, nicht mehr viel übrig bleiben wird von dem geheimnisvollen Nimbus, den er 2004 als Europacup-Sieger mitbrachte und in der Folge Jahr für Jahr und Stück für Stück demontierte. Vielmehr dürfte sich sein Untergang jetzt fortsetzen, wo er im einzigen Turnier, das den mächtigen Mäzen Abramowitsch hätte besänftigen können, zum zweiten Mal kurz vor dem Ziel gescheitert ist. Benitez hingegen stellt heute mehr denn je das große Mysterium des internationalen Spitzenfußballs dar. Auch wenn er zuweilen Rätsel aufgibt, eines steht fest: Benitez hat etwas geniales, wie kein anderer versteht er es, Ergebnisse zu erzielen.“
Auswahl und Bearbeitung der englischen Presse von Alexander Neumann (London)