Deutsche Elf
Sie sind wieder wer
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| Freitag, 24. August 2007Überwiegend Lob für die deutsche B-Elf nach dem 2:1 in England, aber auch Kritik am Spielniveau / Joachim Löw, Glücksfall des deutschen Fußballs / Philipp Lahm, Mann für alle Fälle / Englische Presse klagt über ihren Trainer und ihren Torwart
Roland Zorn (FAZ) gerät nach dem 2:1 in Wembley ins Schwärmen über Joachim Löw und seine Mannen: „Sie feiern ihre Erfolge inzwischen mit derselben Selbstverständlichkeit, wie sie ihre Aufträge serienweise erfüllen. Sie meistern schwierige Situationen mit heißen Herzen und kühlen Köpfen, also mit einer hohen und dazu sehr anschaulichen Professionalität. Sie haben, bis auf kurze Phasen der Verunsicherung, ihre Angst vor Niederlagen beherrschen gelernt. Sie setzen ihre Spielintelligenz als Denksportwaffe in kniffligen Situationen ein. Die deutsche Nationalmannschaft ist nach dem berauschenden Gefühlserlebnis bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land unter dem Nachfolger von Jürgen Klinsmann zusehends gereift. Sie hat den dritten WM-Platz als Startrampe begriffen, noch weiter voranzukommen – und genießt inzwischen weltweit wieder den Ruf, ein Ausbund an Solidität, Organisation und Willensstärke zu sein. Was unter Klinsmann begann, hat sich mit Löw an der Spitze eindrucksvoll fortgesetzt. Besser noch: Dieser Bundestrainer hat die Leidenschaft seines Teams mit den für dauerhaften Erfolg notwendigen Zugaben angereichert: Mit seiner neuen Reife gehört dieses Team, egal in welcher Formation, wieder zu den ersten Adressen in Europa. (…) Sie sind wieder wer – und das ohne Anzeichen von Überheblichkeit und Wichtigtuerei.“
Etwas vorsichtiger stimmt Wolfgang Hettfleisch (FR) ein: „Bei den deutschen Auswahlkickern wächst eine Generation heran, deren Rüstzeug sie zu Höherem befähigen könnte. Löw ist so frei, diese Entwicklung auch mit unorthodoxen Mitteln und Entscheidungen voranzutreiben. Dabei sollte er auch dann Rückendeckung bekommen, wenn ihm das Glück mal nicht mehr so hartnäckig an den Fersen klebt. (…) Wie macht er das nur, der Jogi Löw? Alles, was der Bundestrainer anpackt, scheint sich in Gold zu verwandeln.“
Was ist mit den Engländern los?
Hans-Jürgen Jakobs (sueddeutsche.de) hingegen wendet dem Spiel seinen Hintern zu: „Auch in Wembley ist grottenschlechter Kick möglich. Auch ein Klassiker schützt vor Irrtum nicht, und vor allem nicht vor Kreisklassenfehlern. Was die vielen englischen und deutschen Profis boten, war eines solchen Länderspiels einfach unwürdig. Selten hat man auf der internationalen Bühne ein Match mit mehr Fehlpässen gesehen. Gut, die Deutschen waren ersatzgeschwächt und haben immerhin Moral und Schussstärke bewiesen. Sie waren eine Reserve, die sich aus der Reserve locken ließ. Aber was ist mit den Engländern los?“
Philipp Selldorf (SZ) erwartet mit Spannung den Tag der Nominierung des deutschen Kaders für die EM in Österreich und der Schweiz: „Derzeit gibt es mindestens 40 Anwärter auf die 23 Plätze für die Alpenexpedition. Die Begegnung mit England in Wembley hat dabei bestätigt, dass auch aus den Reserven des Kaders große Versprechen hervorgehen: Spieler wie Hilbert oder Pander zum Beispiel, deren Möglichkeiten längst nicht erschöpft, nicht einmal ausreichend erforscht sind. Von verheißungsvollen Neulingen wie Helmes, Khedira und Tasci ganz zu schweigen. Hinter der Elf von Wembley stand eine beinahe komplette Schattenelf von Etablierten, die ihre Verletzungen kurieren. Es war zum Teil zwar mühsam, aber es ging auch ohne Ballack, Frings und Klose. Diese drei werden sich um ihre Plätze für die EM sicher nicht sorgen müssen. Aber mancher sogenannte WM-Held wird während der EM womöglich traurig seinen Sommerurlaub absitzen.“
Einzelkritik
Herausragender Beitrag von Christian Pander
Gewinner des Spiels ist, nach Löw, Philipp Lahm; die FAZ applaudiert: „Der Bundestrainer durfte sich nach dem letztlich auch ein wenig glücklichen Erfolg über die nimmermüden Kämpfer von der Insel in seinem Mut zum Systemwechsel und in seinen wichtigsten Personalentscheidungen bestätigt sehen. Er beorderte den Münchner Links-wie-rechts-Außenverteidiger Lahm erstmals vor die Abwehr und landete damit einen Volltreffer: Lahm war die Energie- und Inspirationsquelle für das deutsche Spiel. Löw ließ den Leverkusener Ballkünstler Bernd Schneider zentral als Brückenspieler zwischen Abwehr und Angriff pendeln. Auch dieser Plan ging auf. Da links neben Schneider der Stuttgarter Thomas Hitzlsperger von vornherein mit hohem taktischem Geschick ein Auge für Freiräume und Nebenspieler hatte, war Löws primäres Ziel erreicht – obwohl die übrigen Mittelfeldrollen von Trochowski nur mäßig und rechts draußen von Odonkor unzureichend besetzt waren. Jens Lehmann steigerte sich nach ein, zwei Unsicherheiten zu einer starken Leistung nach der Pause und gab sich dann mit seinen 37 Jahren ganz abgeklärt.“
Ludger Schulze (SZ) pflichtet bei: „Beinahe schwerelos, weil ohne jede körperliche Gewalt, stahl Lahm dem Gegner die Bälle, stellte Passwege zu und inszenierte eigene Angriffe. Alles ist bei ihm eine fließende Bewegung, geboren aus geistiger Wendigkeit und perfekter Ballbeherrschung. Doch das überaus gelungene Experiment wird kaum eine Fortsetzung finden.“ Dem Siegtorschützen rechnet Schulze hoch an, erst durch ein Tal geschritten zu sein, bevor er den Gipfel erstürmte: „Selten hat ein Profi bei seiner Premiere im Nationaltrikot ein peinlicheres Luftloch getreten, als Christian Pander bei seinem missratenen Versuch, Richards‘ Solo zu stoppen, und selten hat einer betretener dreingeblickt als Pander in dem Moment, in dem er feststellen musste, dass er mit seinem Luftloch einen herausragenden Beitrag zum 0:1 geleistet hatte. Na und? Christian Pander lieferte ja noch einen weiteren herausragenden Beitrag, und der verschafft ihm nun einen vorderen Platz unter den Hauptdarstellern der deutsch-englischen Fußballgeschichte. Sein Siegtreffer zum 2:1 war zwar historisch nicht so wertvoll wie der von Dietmar Hamann vor sieben Jahren, aber er sah besser aus, und er hat ebenfalls seinen mythologischen Wert. Dieses Tor, das im Comic von Lautworten wie wusch, krach, bumm begleitet worden wäre, wird noch in vielen Programmheften zu deutsch-englischen Spitzenbegegnungen Erwähnung finden: 25 Meter Entfernung zum Ziel, kein Meter Anlauf, und trotzdem hatte der Ball das Tempo eines hochbeschleunigten Ferraris.“
Wusch, krach, bumm
Heul, jaul, stöhn
sueddeutsche.de widmet sich einem Innenverteidiger und dem Torwart: „In der Nationalmannschaft ist Christoph Metzelder meistens in bester Form, sogar jenseits von WM-Turnieren. In Wembley unternahm er viel nach vorn und hatte starke Szenen in der Deckung. Sehr gute Partie. Jens Lehmann, der die Debatten um seine Stellung beim FC Arsenal kennt und durchaus fürchtet, machte einen angespannten Eindruck, beim 0:1 trug er aber keine Schuld. Klärte stark gegen Lampard und Owen. Wurde zunehmend gefordert und verdiente sich mehr und mehr mit guten Szenen die Schmähungen der englischen Fans.“
Party wieder von den Deutschen vermasselt
Englands Boulevardpresse schießt sich auf Englands Torwart Robinson ein und versucht sich an den obligatorischen Wortspielen (Sun: „What a load of Robbish”; The Express: „It’s Misses Robinson”). In Anspielung auf den Elvis-Presley-Song „Devil in disguise” und die zwei jüngsten groben Fehler des deutschen Torhüters in der Premier League fragt sich der Mirror, ob Robinson „Lehmann in disguise” ist.
Sam Wallace (Independet) spricht von einer „Horrornacht für McClaren” und kommentiert sarkastisch: „Das neue Wembleystadion beginnt, langsam sich wie ein richtiges Zuhause für die englische Nationalmannschaft anzufühlen. Es sind gerade zwei Spiele gespielt und schon ließ man eine der ältesten Traditionen im englischen Fußball wieder aufleben: eine lähmende Niederlage gegen den alten Feind Deutschland. (…) Erneut wurde uns die Party von einer deutschen Mannschaft vermasselt, in der enormes Selbstvertrauen, ein genaues Passspiel und die Fähigkeit, ein Spiel zu beherrschen, anscheinend genetisch an neue Generationen weitervererbt werden.”
Rob Smyth (Guardian) erkennt in dem 1:2 gegen den Erzrivalen ein böses Omen für Coach McClaren: „Die Probleme auf der Torhüterposition haben dafür gesorgt, dass England, obwohl sie das bessere Team waren und eine Vielzahl von Chancen herausspielten, erneut unter McClaren verloren haben. Dieses mal sogar gegen Deutschlands B-Elf. Eine Niederlage in Wembley gegen Deutschland wird langsam zum Symbol der gescheiterten englischen Teammanager: Graham Taylor begann seine Amtszeit mit einer Niederlage gegen die Deutschen. Kevin Keegan gab nach der Heimpleite im Jahr 2000 seinen Rücktritt direkt nach Spielende unter der Dusche bekannt. Ähnliches ist von McClaren nicht zu erwarten. Doch die Schlinge zieht sich um ihn zusammen. Und die Frage ist nicht ob, sondern lediglich wann, sie ihn erdrückt.”
Englische Presse bearbeitet und übersetzt von Alexander Neumann (London)
Die Highlights von der Gegenseite
SZ: Im Kampf für seine Vorstellungen vom schönen Spiel stellt sich Löw seinen Gegnern: dem deutschen Fußball und der Bundesliga
SZ-Interview mit Didi Hamann über die Akzeptanz der Deutschen im englischen Fußball
NZZ: Cannavaros Katastrophenabend – missratene Hauptprobe Italiens beim 1:3 in Ungarn