Bundesliga
Künstlicher Zustand der Ahnungslosigkeit
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| Montag, 1. Oktober 2007Pressestimmen zum 8. Spieltag: Ein Bayern-Tor wird fälschlicherweise nicht anerkannt, und schon diskutiert ganz Deutschland über den Videobeweis / Bayerns imponierend starker Auftritt bei sehr guten Leverkusenern / Dortmund ist auch Karlsruhe nicht gewachsen / Erneuter Stuttgarter Schiffbruch, diesmal in Rostock / Bremen 2007 wie Bremen 2006
Miroslav Klose hat ein Tor geschossen, das nicht gewertet worden ist – Jörg Hahn (FAZ) schließt sich Uli Hoeneßens Forderung nach Konsequenzen an: „Stammtischgespräche über das Wembley-Tor und ähnliche Vorkommnisse mögen ja unterhaltsam sein, doch die Frage Tor oder nicht Tor? ist zu wichtig, um sie folkloristisch zu betrachten. Die Fachmänner der Fifa sind gefragt – und sie sollten Entscheidungen nicht auf die lange Bank schieben. ‚Die Fifa verfolgt eine klare Mission: das Spiel entwickeln, die Welt berühren und eine bessere Zukunft gestalten‘, heißt es so schön in der Selbstdarstellung des Dachverbandes. Nichts berührt einen Fußballfan so wie ein einwandfreies Tor. Alles spricht deshalb für einen schärferen Blick auf die Torlinie.“
Auch Klaus Hoeltzenbein (SZ) befürwortet den Torrichter, ist sich aber am Ende in seinem Urteil wohl gar nicht mehr so sicher: „Die meisten im Stadion hatten es mit bloßem Auge erkennen können, aus vielen Kameraperspektiven wurde es umgehend bewiesen, nur Schieds- und Linienrichter hatten nichts gesehen. In einer bestens informierten Gesellschaft wurden sie künstlich in einem Zustand der Ahnungslosigkeit gehalten. Eine absurde Situation: Die Frage ‚Drin oder nicht drin?‘ ist die zentrale Frage des Spiels, und sie ist mit den überlieferten Regularien nicht mehr zufriedenstellend zu beantworten. (…) Den vierten Mann, den gibt es längst, warum nicht bald den fünften? Zwei fünfte Männer. Hinter beiden Netzen, auf Campingstühlchen und mit dem Auftrag, das Herz des Spiels zu retten.“
Der Nächste bitte
Nach dem 0:1 Leverkusens gegen Bayern München will Daniel Theweleit (Berliner Zeitung) Kapitulation bei den Bayern-Konkurrenten festgestellt haben: „Es hat sich ein Verdacht erhärtet, der schon länger über dem Kreis der 18 besten deutschen Fußballmannschaften liegt: Die Bundesliga besteht in dieser Saison aus 17 Teams, und jedes darf zwei Mal gegen den außer Konkurrenz mitspielenden Meister 2008 antreten: Bayern München. Weil Bayer Leverkusen beim phasenweise hinreißend schönen 0:1 nur in wenigen Momenten unterlegen war, betrachteten die Rheinländer den Tag ohne eigenes Tor und ohne Punkt brav als Anlass, sich zu feiern. Wäre es einem Team, das internationale Ambitionen hegt, nicht angemessener, dem FC Bayern einen Punkt abluchsen zu wollen? Offenbar ist der FC Bayern in der laufenden Saison ein Mythos, kein Gegner aus Fleisch und Blut. Die Ambitionen an Spiele gegen den Favoriten sind selbst bei hoch gehandelten Klubs wie Bayer derzeit bescheiden: Hauptsache nicht vorgeführt werden.“
Anno Hecker (FAZ) staunt über den Appetit der Bayern: „Samstag für Samstag bitten die Bayern selbstbewusst zur Prüfung und schicken noch jeden Herausforderer zurück ins Glied: nun Leverkusen mit dem in 45 Minuten hart erarbeiteten und dann 45 Minuten clever verwalteten Auswärtserfolg von Rang zwei auf vier. Aus München heißt es also weiter: der Nächste bitte.“ Philipp Selldorf (SZ) fügt an: „Diese universell erneuerten und deswegen nicht auf ein paar Schlüsselfiguren festlegbaren Bayern sind nur unter Aufbieten günstigster Eventualitäten zu stoppen.“
Ohne Sinn und Verstand zusammengewürfeltes Ensemble
Beim 1:3 in Karlsruhe prüft Tobias Schächter (SZ) Borussia Dortmund auf Herz und Nieren und muss dem Patienten schlechte Nachrichten mitteilen: „Die Krise hat viele Gründe: Am nachhaltigsten wirken wohl die Fehleinschätzungen von Trainer Doll und Manager Zorc, was das Leistungsvermögen einzelner Spieler angeht. Selbst das Fehlen von Kringe, Frei, Petric und Degen darf für einen Klub mit internationalen Ambitionen keine Ausrede sein. Aber diese Zielsetzung ist wohl auch nur ein Ausdruck von Selbstüberschätzung. In Karlsruhe bot Doll erstmals seit dem zweiten Spieltag wieder die Veteranen Kovac und Wörns in der Innenverteidigung auf. Es war ein Desaster, was die zusammen 68 Jahre alten Abwehrspieler boten. Wörns wurde mehrfach mit einfachen Drehungen schwindelig gespielt, Kovac wurde in jedem Sprintduell überlaufen. In gegnerischen Mannschaftssitzungen ist die lahme und technisch klägliche Dortmunder Hintermannschaft längst als Schlüssel zum Erfolg erkannt. Die Dortmunder Mannschaft wirkte wie ein ohne Sinn und Verstand zusammengewürfeltes Ensemble. Allem Anschein nach beweist auch Giovanni Federico, dass er nur in Karlsruhe funktioniert, Diego Klimovic erscheint als ewiges Rätsel, und Nelson Valdez erregt inzwischen nur noch Mitleid. Die Dortmunder könnten vom Karlsruher SC lernen, wie man eine Mannschaft wachsen lässt und durch gezielte Zukäufe verbessert – trotz geringer finanzieller Mittel. (…) Eigentlich hatten sie in Dortmund ja gedacht, das 0:3 gegen den HSV wäre der Tiefpunkt gewesen, aber in Karlsruhe war alles nur noch schlimmer. Doll sprach davon, dass man sich so nicht mehr präsentieren könne, dass die Leistung beim Aufsteiger ein komplettes Versagen und dass dies alles ‚viel, viel zu wenig‘ gewesen sei. Es gibt Journalisten in Hamburg, die diese Sätze bereits auswendig kennen. Beim HSV konnte Doll der Mannschaft nicht den Weg aus einer tiefen Krise weisen.“
In Southampton an der Kaimauer zerschellt
Claudio Catuogno (SZ) haut nach dem 1:2 in Rostock das Stuttgarter Scheitern in Stein: „Eine der vielen Überraschungen war der Wolkenbruch in der 70. Minute. Er kam aus dem Nichts, wie Fußballer sagen. Wie in einer dieser alten Komödien, in denen man der Hauptfigur einen Eimer Wasser über den Kopf leert, und dann sollen alle lachen. Armin Veh saß reglos auf seinem Stuhl am Spielfeldrand, als das Wasser kam, die Beine übereinandergeschlagen, die Vereinsjacke über dem Knie gefaltet, den Mund zu einem freudlosen Strich gezogen. Eine Viertelstunde saß er schon so da. Nun schüttelte er sich, strich verärgert die Tropfen von seinem Sakko und schlüpfte unter das Dach der Auswechselbank. Niemand lachte. Trotzdem hatte die Szene auch ihr Gutes: Man musste nun nicht mehr befürchten, dass Veh womöglich auf diesem Stuhl festgewachsen und durch einen beschleunigten Fossilisationsprozess zu seinem eigenen Denkmal versteinert war: Armin Veh, Plastik aus Gips und Stahl. Meistertrainer 2006, von rätselhafter Erfolglosigkeit 2007. (…) 18 Minuten dauerte es nur, bis engagierte Rostocker ihre Gäste zerlegt und fachgerecht entsorgt hatten. Es ist schon peinlich genug, wenn der Meister bei einem Aufsteiger untergeht. Aber so früh, nach 18 Minuten? In Rostock, wo man gerne von der Hansa-Kogge spricht, die nach stürmischer Fahrt und gewaltiger Schieflage nun wieder ruhigeres Gewässer erreicht habe, darf man wohl sagen: Es war sogar so peinlich für den VfB, als wäre die Titanic schon in Southampton an der Kaimauer zerschellt. (…) Frank Pagelsdorf hat in Rostock mittlerweile eine Truppe zusammengestellt, die, mit gutem Auge für Lauf- und Passwege, ihr Spiel entwickeln kann. Sie braucht dafür Zeit und Platz, aber beides ließen die Stuttgarter irritierenderweise zu.“
Entfesselungskünstler
Sebastian Stiekel (FAZ) betont Kraft und Schönheit der Bremer Stoiker, 8:1-Sieger gegen Bielefeld: „Werder gelang ein schöner Brückenschlag: zwischen dem vergangenen Herbst, als Bremer Kantersiege die Regel waren, und diesem Herbst, in dem Werder viele Verletzte beklagt. In ihrer Dominanz und Leichtigkeit erinnerten die Bremer an 2006. Das eigentlich Bemerkenswerte an Werder Bremen im Herbst 2007 ist, dass sich die Bremer trotz des Ausfalls von bis zu elf Spielern wieder an die Spitze der Liga herangearbeitet haben. In der Mannschaft steckt noch viel Steigerungspotential, denn im Oktober sollen Frings, Borowski, Andreasen und Baumann wieder dazustoßen. Auch ein gesunder Realitätssinn ist dem Team zu eigen, Werder ließ sich genauso wenig von einem 0:3 in Dortmund aus dem Konzept bringen, wie es jetzt nach einem 8:1 gegen Bielefeld die Bodenhaftung zu verlieren droht. Dafür wirkt diese dezimierte Mannschaft zu gefestigt. (…) Bielefeld war der richtige Gegner, um ihr Zusammenspiel weiter reifen zu lassen.“
Ralf Wiegand (SZ) bewundert Werder und sorgt sich um die Verlierer: „Dieser Kantersieg war nicht nur ein Stimmungsmacher vor dem Heimspiel gegen Piräus, sondern ein Akt wie von Harry Houdini. Der berühmteste Entfesselungskünstler der Welt (1874–1926) sprang geknebelt von Brücken und befreite sich unter Wasser, schlüpfte aus Zwangsjacken und entkam gläsernen Käfigen. Viele seiner Tricks wurden nie enttarnt und hinterließen stets ein staunendes Publikum, das Bielefelder Fußballern geähnelt haben dürfte. (…) Was in Bremen mit der Arminia passierte, kann ein Betriebsunfall gewesen sein. Falsche Zeit, falscher Ort, so etwas gibt es mal. Wahrscheinlich ist es schlimmer.“
Oskar Beck (Stuttgarter Zeitung) zahlt Bielefelds Trainer Ernst Middendorp sein großes Gehabe der letzten Wochen heim: „Mit Propheten, heißt es, unterhält man sich am besten drei Jahre später – im Fall Bielefeld haben drei Spiele und eine englische Woche genügt. In Form dieser drei Niederlagen beendet der Fußballgott jäh und offiziell seine launische Phase, mit der er zu Beginn jeder Saison Momentaufnahmen und Sinnestäuschungen schafft – gerade die Bielefelder kennen das. Vor Jahren sind sie mit ‚Tabellenführer‘-T-Shirts zu den Bayern gereist, ihr damaliger Kleinkünstler Ansgar Brinkmann hat vor einer Kamera auf dem Toto-Schein noch schnell eine ‚2′ eingetragen, doch dann haben sie sich sechs Stück eingefangen und, O-Ton Brinkmann, festgestellt: ‚Das ist eine andere Welt.‘ (…) Es hätte alles viel schlimmer kommen können: Wichniarek stand abseits vor seinem Ehrentreffer – und der kann noch wichtig werden, falls es im Kampf um den Uefa-Cup am Ende auf die Tordifferenz ankommt.“
Mensch oder Maschine?
Schalkes 1:0 gegen Hertha und seine zwei Protagonisten – Philipp Selldorf (SZ) imponiert der Fleiß von Jermaine Jones und verliebt sich in Manuel Neuers Torwartspiel: „Viele tausend Menschen waren ziemlich ratlos. Sie hatten etwas erlebt, wofür sie keine Erklärung wussten. Manche fragten sich sogar, ob sie Mensch oder Maschine gesehen hatten. Über Jermaine Jones rätselten aber nicht nur die Besucher, sondern auch dessen Mitspieler. Er rannte wie ein von Geistern Verfolgter. Kreuz und quer, ständig. Er eroberte in entlegenen Winkeln des Spielfelds Bälle, die ihm eigentlich nicht zugänglich waren, weil er doch eben noch an einer ganz anderen Stelle gesehen worden war. Über die kompletten 90 Minuten besehen, muss Jones als die Attraktion des Abends gelten, die spektakulärsten Momente der Partie blieben aber Schalkes famosem Regisseur vorbehalten, der mit seinen millimetergenauen Pässen das Offensivspiel antrieb. Seine Lieferung für Angreifer Lövenkrands leitete jene Szene ein, die zu Rafinhas Elfmetertor führte. Es war ein Pass über mindestens sechzig Meter, exakt mit Unterschnitt dosiert, so dass der auf dem feuchten Rasen aufspringende Ball nicht davon zischte, sondern in sanftem Tempo die Bahn hielt. Der Ball folgte nicht nur Lövenkrands‘ Weg auf dem rechten Flügel, sondern auch dessen Laufrhythmus. Ein brillantes Werk, auf das sie alle stolz gewesen wären: Overath, Netzer, Platini, Maradona. Aber fraglich ist, ob sie mit ihren Füßen geschafft hätten, was Schalkes Torwart Manuel Neuer mit seinen Händen als Passgeber für Lövenkrands geleistet hatte.“
Unterhaltung ohne Niveau
Richard Leipold (FAZ) stellt über das 3:3 zwischen Bochum und Nürnberg klar: „Eine merkwürdige Mischung aus Leichtsinn und Zielstrebigkeit, aus guter Moral und mangelnder Cleverness führten fast zwangsläufig zu einem ausgeglichenen Ergebnis. Beide Mannschaften wirkten zu unvollkommen, als dass herausragende Einzelspieler den Sieg im Alleingang hätten sichern können. (…) Der Unterhaltungswert, vor allem der zweiten Hälfte, darf nicht mit Niveau verwechselt werden.“