Deutsche Elf
Rückschritt zum langatmigen Breitwandfußball
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| Freitag, 8. Februar 2008Nach dem „Sieg“ (3:0) in Österreich: Die deutsche Presse befallen starke Zweifel an der Nationalmannschaft und ihrem Favoritenstatus für die Europameisterschaft / Harte Kritik an der Leistung, insbesondere an Jens Lehmann / Forderung nach Joachim Löws harter Hand
Michael Horeni (FAZ) stimmt allen Mahnungen und Warnungen zu: „Die deutsche Nationalmannschaft scheint, wenn man auf das Resultat schaut, auf dem besten Weg, nach dem dritten Platz bei der Weltmeisterschaft nun die Europameisterschaft gewinnen zu können. Schade nur, dass das 3:0 von Wien zu den wenigen Fußballbegegnungen zählt, nach denen es sich vollständig verbietet, ergebnisorientiert zu urteilen. Die statistische Betrachtung führt in diesem besonders schweren Fall von sportlicher Täuschung nur in die Irre. Als Maßstab weit besser geeignet war diesmal der eigene Anspruch bei einem deutschen Erfolg mit vielen Grauschleiern. Oliver Bierhoff hatte ihn zuletzt nachdrücklich formuliert. Der Manager appellierte an das gesamte Team, sich endlich wieder stärker ins Zeug zu legen. Bierhoffs Weckruf aber ist ungehört verhallt. Das können auch drei Tore nicht aufwiegen. Das Team von Joachim Löw ist vier Monate vor der EM in der Phase des Rückschritts angekommen.“
Ralf Köttker (Welt) könnte aus der Haut fahren: „Die Geschichte grausamer Fußballspiele zwischen Deutschland und Österreich ist um ein trostloses Kapitel reicher. Was die Mannschaft von Joachim Löw gezeigt hat, war eine Zumutung für jeden Zuschauer und der Beweis dafür, dass es intern die Tendenz zu einer gefährlichen Gleichgültigkeit gibt. Einige Spieler haben offenbar immer noch nicht realisiert, dass in 120 Tagen eine Europameisterschaft beginnt.“
Selbstgefällig statt selbstbewusst
Matti Lieske (Berliner Zeitung) ergänzt: „Es scheint verloren gegangen zu sein, was die Mannschaft lange Zeit auszeichnete: die Fähigkeit, dank guter Organisation, hoher Konzentration und großer Laufbereitschaft jeden Gegner zu dominieren. In Wien war plötzlich wieder das alte Kraut-und-Rüben-Spiel der Vor-WM-Ära zu sehen.“
Die erste Halbzeit schenken wir uns
In einem anderen Artikel verfeinert Horeni seine Kritik: „Nach der im Oktober frühzeitig geglückten Qualifikation wirkt die Mannschaft wie von ihrem guten Geist verlassen. Die erste Halbzeit geriet dabei zum größten Tiefpunkt seit dem 1:4 vor zwei Jahren gegen Italien. Löw beschönigte nichts. ‚In der ersten Halbzeit haben wir keinen Fußball gespielt, weder defensiv noch offensiv’, sagte der Bundestrainer, dem es fast schon körperliches Unbehagen bereitete, wie seine Mannschaft in den langatmigen Breitwandfußball scheinbar längst vergangener Zeiten zurückfiel. Selbstgefällig statt selbstbewusst, überheblich statt überlegen präsentierte sich sein Team.“
Großer Verlierer
Moritz Müller-Wirth (zeit.de) erwartet nun eine harte Hand: „Der charmante Herr Löw muss vor dem Länderspiel gegen die Schweiz Ende März ein wirklich unmissverständliches Zeichen setzen und durch Nichtberücksichtigung einige Spieler aus der Komfortzone holen. Kandidaten hat er in Wien genug gesehen.“
Michael Ashelm (FAZ) zieht den deutschen Tormann am Ohr: „Vorerst ist kaum vorstellbar, dass Jens Lehmann bei anhaltender Unterbeschäftigung in London auch in der Nationalelf ernsthaft zur Disposition stünde und seine in ihren Vereinen vollbeschäftigten Hintermänner Hildebrand und Enke an ihm im Dreikampf um den Platz im Tor bei der Europameisterschaft vorbeizögen. Doch Lehmanns Pfund, aufgrund vergangener Taten wie selbstverständlich gesetzt zu sein, hat seit dem Auftritt in Wien an Gewicht verloren. Lehmann muss sich zu den großen Verlierern einer kaum überzeugenden Mannschaft zählen.“
Herablassend-gönnerhaftes Zweikampfverhalten
Lieske fällt ein hartes Urteil: „Wenn es nicht Nerven oder fehlende Spielpraxis waren, die ihm einen Streich spielten, handelt es sich möglicherweise um ganz normale Alterserscheinungen eines mittlerweile 38-jährigen Torwarts.“
Entgegen seinen Beteuerungen war Lehmann die fehlende Spielpraxis anzumerken
Ludger Schulze (SZ) packt alle Spieler und Mannschaftsteile bei der Ehre: „Chaos in der Abwehr, die von grotesken Fehlleistungen des Torwarts Lehmann zusätzlich in Verlegenheit gestürzt wurde, Gedankenleere im Mittelfeld, in der die alten Chefs Ballack und Schneider vergeblich ihr Ego suchten, und ausgeprägte Tarnkappenmentalität im Angriff, das ergab das blanke Nichts. Kaum ein Pass kam an, kein Dribbling gelang, das Zweikampfverhalten herablassend-gönnerhaft, die Laufbereitschaft aufs Nötigste beschränkt, um nicht im Rasen zu wurzeln. Fatale Folgen kann eine solche der Arbeitsverweigerung nahekommende Haltung haben, wenn der Gegner anders heißt als Österreich.“
Beeindruckend und begeisternd
Stefan Osterhaus (Neue Zürcher Zeitung) freut sich und leidet mit Österreichs Trainer Josef Hickersberger: „Wie mutig hatten seine Männer den Ball in die Hälfte des Gegners gespielt, wie sehr hatten sie den Kontrahenten beeindruckt und das eigene Publikum eine Halbzeit lang derart begeistert, dass es den eigenen Sinnen nicht zu trauen glaubte! War das tatsächlich Österreichs Nationalmannschaft? Das einzige Problem war, dass sie vergaßen, den Ball ins Tor zu kicken, weswegen die gar nicht einmal so gute Mannschaft aus Deutschland am Ende 3:0 gewann und abermals bekräftigte, dass Fußball gegen die Deutschen eine ziemlich grausame Sache sein kann.“