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Schwarze Stunde im Hinterhof des europäischen Fußballs

Oliver Fritsch | Samstag, 3. Mai 2008 Kommentare deaktiviert für Schwarze Stunde im Hinterhof des europäischen Fußballs

Die 0:4-Niederlage der Bayern in St. Petersburg schockt Großteile der deutschen Fußballpresse, auch weil das Ergebnis ein trübes Licht auf die Bundesliga wirft / Glasgow Rangers igeln sich erfolgreich in Florenz ein

Schon wieder keine deutsche Mannschaft im Europapokalfinale, nicht mal Bayern im Uefa-Pokal – für Peter Heß (FAZ) ist es eine Frage des Geldes: „Was sich in St. Petersburg abspielte, lässt nur die fassungslos zurück, die sich vom Hochglanzprodukt Bundesliga blenden lassen und das beste Stück der nationalen Elite auf einer Höhe mit der Weltklasse sehen. Die Bundesliga mag noch die ausgeglichenste Liga der Welt sein, die beste ist sie schon lange nicht mehr. Stattliche Stadien, eine traditionell breite Verankerung in der Gesellschaft und eine Zentralvermarktung, die den Klubs eine gewisse Chancengleichheit bietet, bilden den Rahmen für glänzende kleine Geschäfte im Idyll. Wer jenseits dieses Auenlandes reüssieren will, muss sich aber europäischen Spitzenstandards anpassen. Und der Standard der Erfolgreichsten ist es, viele Millionen Euro im Jahr zu vernichten. Nur Investoren und Mäzene ermöglichen es Klubs wie Chelsea, Manchester United und Liverpool, auf Pump die besten Spieler der Welt zu verpflichten. So wie in Italien vor ein paar Jahren. Dort sitzt nach mehreren Finanzskandalen das Geld längst nicht mehr so locker.“

Roland Zorn (FAZ) mag sich mit dieser Erklärung nicht abfinden und fordert besseres Training: „Die manchmal von sich selbst geblendeten Bayern und die glänzend umrahmte, sportlich aber verbesserungsbedürftige Bundesliga müssen sich in Zukunft ohne Ausflüchte der Wirklichkeit im internationalen Vergleich stellen, wollen sie nicht überrannt werden von immer mehr Teams, die im Kollektiv auf Tempo, Antizipation, Mitarbeit ohne Ball und Zielstrebigkeit setzen. Nur mit mehr Pep, mehr Power, mehr Dynamik kann der Rückstand zu den europäischen Rivalen aufgearbeitet werden. Eine ebenso reizvolle wie dankbare Aufgabe für den reformbeseelten Jürgen Klinsmann. Holen die Münchner ihre Defizite nicht auf, brauchte Uli Hoeneß schon wieder ein Fernglas – diesmal mit Fernblick auf Europas Fußball-Elite. Zu der gehören die Bayern derzeit nur dem Namen nach.“

Bundesliga ist international wettbewerbsunfähig

Jörg Schallenberg (Spiegel Online) diagnostiziert Stagnation und Stückwerk: „Wie ganz oben in Europa gespielt wird, demonstrierten etwa der FC Chelsea und der FC Liverpool, obwohl beide nicht einmal ihre Bestform erreichten. Vergleicht man die Schnelligkeit, Ballfertigkeit, Kombinationssicherheit, aber auch die Aggressivität, mit der schon tief im Mittelfeld der Gegner attackiert wird, dann wirkte das Spiel der Bayern in St. Petersburg dagegen wie eine Partie aus den späten achtziger Jahren. Weniger die fehlende Kondition ist der Grund fürs Scheitern der Bayern, sondern die Tatsache, dass sich die Mannschaft nach der Rückkehr von Ottmar Hitzfeld nicht entscheidend weiter entwickelt hat. Das zeigen schon die Resultate: Unter Felix Magath schaffte man zweimal das Double und flog in der Champions League einmal im Viertel- und einmal im Achtelfinale raus. Mit Hitzfeld gewinnt Bayern nun erneut das Double und fliegt im Halbfinale des Uefa-Cups hochkant raus. Statt Systemfußball gibt es oft nur Einzelaktionen der brillanten Neueinkäufe Franck Ribéry und Luca Toni zu bestaunen.“

Sebastian Krass (Berliner Zeitung) sieht Bayern verlieren – und denkt an deren deutsche Konkurrenz: „Das Versagen der Münchner strahlt über die Grenzen des eigenen Vereins hinaus. Es ist auch ein Tiefschlag für die gesamte Bundesliga. Nach einem kurzzeitigen Stimmungshoch, weil vier deutsche Mannschaften im Achtelfinale des Uefa-Pokals standen, ist diese Saison doch noch ein weiterer Beweis für die verloren gegangene internationale Wettbewerbsfähigkeit der Liga geworden: Nicht einmal der mit 75 Millionen Euro Ablösesummen aufgemöbelte Rekordmeister, der mit zwölf Punkten Vorsprung die heimische Tabelle anführt, ist in der Lage, in diesem zweitklassigen Wettbewerb zu reüssieren.“

Schwärzeste Stunde seit Jahren

Klaus Bellstedt (stern.de) kennt kein Pardon: „Im Hinterhof des europäischen Fußballs erlebte der große FC Bayern die schwärzeste Stunde seit Jahren. Eine brutale Bauchlandung, die die Schwächen des Rekordmeisters schonungslos offenbarten. 0:4 lautete das erschütternde Ergebnis. Auch wenn die Mannschaft von Ottmar Hitzfeld an diesem Wochenende wahrscheinlich das Double perfekt machen wird – diese Saison dürfte an der Isar vor allem wegen der Art und Weise, wie diese schreckliche Pleite gegen Zenit zustande kam, alles andere als optimal gewertet werden.“

Sahnehäubchen

Jürgen Schmieder (sueddeutsche.de) blickt mit scheinbar lobenden Worten kritisch auf einen Bayern-Star: „Franck Ribéry ist kein Spielmacher, wie es Stefan Effenberg war oder auch Michael Ballack. Er ist auch kein dominierender Mann hinter den Spitzen wie Diego. Ribéry ist das Sahnehäubchen auf Fußballspiele. Er zaubert gegen den VfL Bochum, er trifft gegen den VfB Stuttgart doppelt, er ist sogar in der Lage, die Nachspielzeit gegen Getafe zu erzwingen. Aber er ist kein Mensch, der bei einem 0:2 seine Mannschaft anfeuert und sie nach vorne treibt. Im Gegenteil: In Petersburg winkte er mehrfach genervt ab und motzte gegen seine Mitspieler. Die anarchische Spielweise, die nach vorne so effektiv ist, sorgt in der Defensive für zahlreiche Lücken.“

Schallenberg hat noch einen: „Ob Michael Ballack eine SMS an Owen Hargreaves geschrieben hat? Man kann sich nur allzu gut vorstellen, wie die beiden einstigen Bayern-Stars nach ihren Auftritten in der Champions League entspannt vor dem Fernseher gesessen und den Untergang ihres früheren Arbeitgebers verfolgt haben – um danach vielleicht ein paar Zeilen ins Handy zu tippen: ‚Da sind wir gerade noch mal davongekommen, was, Owen?’ Und als Antwort aus Manchester: ‚Was haben wir Schwein gehabt, Michael! Wir sehen uns in Moskau. ;-)’“

Triumph sturen Defensivfußballs

Birgit Schönau (SZ) erlebt in den anderen Halbfinale die Verkehrung aller Klischees: „AC Florenz gegen Glasgow Rangers war ein Lehrstück für Fußballtrainer – und eine schier unendliche Qual für die Zuschauer. Eine Mannschaft, die unentwegt angriff: Florenz. Und die andere, die unbeirrt mauerte: Glasgow. Am Ende gewannen die Schotten 4:2 im Elfmeterschießen, das war logisch und absurd zugleich, ein Triumph sturen Defensivfußballs über verzweifelt attackierende Italiener. Früher einmal hatte man genau das den Italienern nachgesagt: gewinnen, ohne zu spielen. Früher, ganz früher spielten die Schotten nach einem System, das sie dem Rest der Fußballwelt zwar nicht beängstigend, aber doch sympathisch erscheinen ließ. Hinten der Torwart und genau ein Verteidiger, die übrigen neun stürmen nach vorn. Heute machen es die Glasgow Rangers genau umgekehrt.“

BLZ: Die Glasgow Rangers erreichen mit großer Disziplin erstmals seit 36 Jahren wieder ein Europacup-Finale

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