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Löw darf beim Thema Führung noch mal üben

Oliver Fritsch | Donnerstag, 29. Mai 2008 Kommentare deaktiviert für Löw darf beim Thema Führung noch mal üben

Einhellige und harte Kritik an der Kaderauswahl des Bundestrainers: Mutlosigkeit und reine symbolische Politik lauten die Vorwürfe / Große Zweifel an Jens Lehmann und Christoph Metzelder nach dem 2:2 gegen Weißrussland

Ralf Köttker (Welt) kritisiert Löws Wahl in der Summe: „Es gibt nach Auswertung aller Trainingseinheiten, Saisonbilanzen, medizinischen Werte und taktischen Überlegungen sicher für jede der drei Personalien einen guten Grund. Jermaine Jones mangelt es an taktischem Verständnis, Patrick Helmes hat nur in der Zweiten Liga gestürmt und Marko Marin muss an seiner Physis arbeiten. Aber am Ende wird bei der EM ein Kader antreten, dem bei aller Erfahrung das Überraschungsmoment, etwas Ungewöhnliches, Exotisches, ein Schuss Risikobereitschaft fehlt.“

Klaus Hoeltzenbein (SZ) beanstandet ein Übermaß an symbolischer Politik: „Dabei war auf der Zugspitze eine Revolution versprochen worden. 26 statt 23 – das wurde als Impuls für einen offenen Konkurrenzkampf verstanden. Wenn dies aber nun das Ergebnis der Revolution ist, so erscheint die Inszenierung am Berg im Nachhinein als Aktionismus. Jene, die seit Jahren dabei sind, hatten einen Bonus, derjenige, der auf Mallorca für Fleiß und Phantasie gelobt wurde, hatte keine Chance. Löw wird die negativen Reaktionen einkalkuliert haben, aber er hat sich einiges aufgeladen damit, diese Personalie mit Bumerang-Effekt zu moderieren: Er hat Marin geholt, gehätschelt, und nun darf er sich nicht wundern, dass die Absage des Naturschauspiels im Fanvolk als Stimmungstöter wirkt. (…) Und so ist der Kader gefühlt weit stärker geschrumpft als nur auf 23, denn Marin, wie auch die ebenfalls ausgemusterten Helmes und Jones, verkörperten in ihm das wenige Neue, das Unbekannte, das Noch-zu-Entdeckende.“

Michael Horeni (FAZ), man muss schon sagen ehemals ein großer Befürworter Löws, hat den Glauben an dessen Mut verloren: „Wer glaubt, mit jungen Spielern ließe sich so leichter und für das Team folgenlos verfahren, darf beim Thema Führung noch mal üben. Löws Trost, dass die Zeit der jungen Spieler noch kommen werde, nährt nur den Eindruck, dass es bei der ‚Millimeter-Entscheidung’ eben nicht allein um Qualitätsfragen ging, sondern auch darum, wem Löw diese harte Entscheidung am leichtesten glaubte zumuten zu können. Seine Auswahl zeigt eben auch, dass der Bundestrainer unbequeme Entscheidungen – wie sie sich bei seinem Vorgänger Klinsmann mit den Namen Kahn, Kuranyi und Wörns verbinden – immer noch scheut. Alte Verdienste zählen viel, riskante Varianten haben im Ernstfall keinen Platz.“

Ein Casting der Chancenlosen

Johannes Aumüller (sueddeutsche.de) stimmt ein: „Zwar ging es nur um die Kaderplätze 21 bis 23 und der Erfolg bei der EM dürfte nicht von dieser Entscheidung abhängen. Dennoch geht Löw mit dieser Nominierung ein gewisses Risiko ein. ‚Erfahrung vor Jugend’ als Rekrutierungsprinzip führt zwangsläufig zu Erinnerungen an die Rumpelfußballergeneration unter Erich Ribbeck und Rudi Völler. Auch wenn dieser Vergleich sonst hinkt, rein psychologisch wirkt er schon. Damit nimmt Löw nach außen hin Dynamik aus der Mannschaft.“

Vor allem die Nichtnominierung Marko Marins stößt auf Kritik. Aumüller mäkelt: „Einen gerade mal 19-Jährigen erst hochzujubeln, um ihn dann doch zu enttäuschen, zeugt nicht eben von pädagogischem Fingerspitzengefühl – und kommt auch beim Fußballvolk nicht gut an. Zum enttäuschenden Ergebnis gegen Weißrussland gesellt sich nun also mancher Zweifel an der Nominierung. Zwei unmittelbar aufeinander folgende Ereignisse der deutschen Nationalmannschaft, an denen der Fan herummäkeln kann – das gab es schon lange nicht mehr. Zehn Tage vor dem ersten EM-Spiel könnte die Stimmung besser sein.“ Christian Gödecke (Spiegel Online) verzieht das Gesicht: „Es ist ein Casting der Chancenlosen gewesen. Eine Show.“

Panoptikum der Torwartprobleme

Stefan Hermanns (Tagesspiegel) lenkt den Blick auf wesentlicheres, Schwäche einiger Stammspieler: „Der Wettbewerb um die Plätze 21, 22, 23 in seinem Aufgebot hat von den sehr viel gravierenderen Problemen abgelenkt, die der Bundestrainer auf den Positionen 1 bis 11 noch zu lösen hat. In seinem Kader stecken ein bisschen zu viel Glaube und Hoffnung – vor allem auf neuralgischen Positionen. Für das Gelingen des Projekts Europameisterschaft ist es vermutlich unerheblich, ob Oliver Neuville als fünfter Stürmer nicht eingewechselt wird oder Patrick Helmes; aber es ist essenziell, ob Löw die Abläufe im Spiel seiner Mannschaft noch zu automatisieren vermag und ob er bis zum Start des Turniers eine funktionierende Defensive hinbekommt. Dass der Bundestrainer dabei auf einen Torhüter setzen muss, der keine Spielpraxis hat, vor dem ein zentraler Verteidiger spielt, der keine Spielpraxis hat, ist nicht unbedingt ermutigend. Mehr noch als bei Jens Lehmann hat sich Löw bei Christoph Metzelder der Autosuggestion hingegeben: Das wird schon.“

Beim 2:2 gegen Weißrussland erschrickt Philipp Selldorf (SZ) über die deutsche Abwehrschwäche: „Hätte Löw nach dem Eindruck dieses Abends seine Kaderauswahl getroffen, dann hätte er wohl Jens Lehmann, Christoph Metzelder und Thomas Hitzlsperger in die Ferien geschickt. Während Lehmann fast ein Panoptikum der Torwartprobleme aufführte – von stolperigen Abspielen, unterlaufenen Flanken bis zum verpassten Aufsetzer beim Tor zum 2:2 –, bestätigte Metzelder mit seinem schwerfälligen, steifen und oft auch desorientierten Auftritt alle Befürchtungen, die seine langen Krankengeschichte hervorruft. Hitzlsperger, der dritte Mann in der porösen Fraktion, kann immerhin darauf verweisen, dass er – wahrscheinlich mit Waffengewalt – auf den Posten des Linksverteidigers gezwungen wurde, auf dem er nach schlechten Erfahrungen nie wieder spielen wollte. Sein Pech bestand darin, dass der erste Anwärter Marcell Jansen ein medizinisch relevantes Zwicken verspürte, Philipp Lahm auf rechts aushelfen musste, und der allzweckdienliche Heiko Westermann plötzlich zur schwangeren Frau abberufen wurde. Letzteres lässt Hitzlsperger hoffen: Frau Westermann wird in den nächsten Wochen wohl kein weiteres Baby bekommen.“

Die Mannschaft und Löw müssen sich erst noch finden

Auch Michael Ashelm (FAZ) befasst sich mit dem Formtief Lehmanns und Metzelders: „Überstrapazierte Fußballstars hin oder her – aber Unterbeschäftigung ist auch nicht der Weg zur großen Form, wie im Fall von Metzelder und Lehmann deutlich wird. Meist träge reagierte Metzelder auf die flinken Vorstöße der jugendlichen Weißrussen, bei beiden Gegentreffern wirkte er vom Tempo der jungen Geschwindigkeitsfußballer aus Osteuropa überrollt, auch wenn ihn natürlich nicht alleine die Schuld trifft für die Tore. (…) Eigentlich waren es gar nicht die Gegentreffer, die Lehmann in die Problemzone brachten. Hier litt er vor allem an der mangelnden Abwehrbereitschaft seiner Vorderleute, zudem zeigte er zwischendurch zwei starke Paraden. Aber auch gefährliche Unsicherheiten taten sich bei der erfahrenen Nummer 1 der Deutschen auf, die schon gegen Österreich für Diskussionsstoff gesorgt hatten. Mal verschätzte sich Lehmann bei einer hohen Hereingabe, mal im Zusammenspiel am Boden mit seinen Abwehrkollegen.“

Horeni führt die schwache Leistung darauf zurück, dass Löw das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt habe: „Dass bei diesem Testspiel ohne positiven Erkenntniswert ausgerechnet auch noch Lehmann und Metzelder bedenklich abfielen, warf ein Licht auf die andere Seite des loyalen Löw-Systems. Der Bundestrainer hatte sowohl einem Torwart mit geringer Spielpraxis als auch einem Abwehrchef nach langer Verletzungspause den Weg bis zur EM schon vorab geebnet. Ausreichend Praxis und Fitness waren von Löw für Lehmann und Metzelder als persönliche Qualifikationsnorm nicht gefordert. All diese Personalentscheidungen machen bisher nur eines deutlich: Die deutsche Mannschaft und Löw müssen sich erst noch finden.“

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