EM 2008
Holländische Fußballrevolution nach deutschem Vorbild
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| Mittwoch, 11. Juni 2008Zwei traditionsreiche Länder rücken von ihrem Stil ab – Holland profitiert von seinem neuen Realismus, doch Italien degeneriert / Frankreich erstarrt unter Trainer Raymond Domenech
Christian Eichler (FAZ) befasst sich nach dem 3:0 gegen Italien mit der holländischen Fußballrevolution nach deutschem Vorbild: „Sie spielten taktisch so wie viele andere, mit dem elastischen 4-2-3-1, mit nur einem Stürmer statt dreien wie im ‚totalen Fußball’ Marke Cruyff – und doch gelang ihnen gerade damit etwas Besonderes. Es geht um Stilfragen, und die beste Stilregel ist Schopenhauers ‚Brauche gewöhnliche Wörter und sage ungewöhnliche Dinge’. Sie lässt sich von der Sprache auf den Fußball übertragen. Denn auch er gebiert aus dem Willen zum Besonderen oft das verkrampfte Mittelmaß, aus der Beschränkung auf das Einfache aber das Großartige. So war das oft mit den Holländern – stets bemüht, das Spiel in ein Schema zu pressen, ein schönes, offensives zwar, aber eines, aus dem sie nicht herauskamen, wenn es nicht funktionierte. Fußball liebt Veränderung. So wie es einen Klinsmann brauchte, um dem deutschen Fußball den Muff auszutreiben, so brauchte es in Holland einen van Basten. Egal wie weit die Holländer kommen werden, von ihnen geht schon jetzt eine Frische und Energie aus, die sich vom Team über das Spiel auf die Fans und wieder zurück überträgt. Fast wie Deutschland 2006. Hier wie dort galt, dass alte Erfolge nur hemmten, weil sie und die einflussreichen Veteranen, die sie erzielten, den Stil vorbestimmten.“
Auch Raphael Honigstein (Financial Times Deutschland) erkennt einen Epochenwandel: „Das Resultat kam selbst den Niederländern surreal vor, dabei spiegelte es nur die verdrehten Verhältnisse auf dem Platz detailgetreu wider. Eine Mannschaft griff mit Flügelzange, einer indisponierten Abwehr und miserabler Raumaufteilung an. Die andere verteidigte mit stoischem Gleichmut und konterte so clever wie präzise. Die Oranjes waren die besseren Azzurri. van Bastens Niederlande konnte sich von der Last der Ideale befreien und ließ sich allein von den Zwängen der Situation leiten. Dass sie also zu einer ganz normalen Spitzenmannschaft geworden war. Das war die eigentliche Sensation.“
Rasant, atemberaubend und verstörend hochklassig
Eichler fügt an anderer Stelle hinzu: „Siege schaffen Sieger. Und so ist Oranje 2008 eine Mischung, der nun viel zuzutrauen ist: ein Team mit all den traditionellen Vorzügen der niederländischen Fußballschule, aber auch mit einem Schuss Real Madrid, durch Regisseur Sneijder und Torjäger van Nistelrooy – und mit deutschen Tugenden, durch die aktuellen oder ehemaligen Bundesliga-Akteure van der Vaart, Matthijsen, de Jong, Bouhlarouz. Wie sie in der zweiten Halbzeit den Vorsprung kühl verteidigten und ausbauten, zeugte von einer fußballdeutschen Eigenschaft, die man in Holland früher eher abschätzig als ‚Realismus’ bezeichnete. Nun passt sie ins neue Bild. Die junge Künstlergruppe von Oranje, jahrelang gehemmt von der Pflicht, den Stil der alten holländischen Meister fortzusetzen, entdeckt die Moderne: den Neorealismus.“
Ingo Durstewitz (FR) verliebt sich in Holland: „Es gibt nicht viele dieser Spiele, die sich ins Gedächtnis einbrennen, die hängen bleiben von einem Turnier, weil sie so rasant, atemberaubend und verstörend hochklassig sind, dass man sich auf ewig an sie erinnern will. Die Begegnung von Bern zählt dazu. Die Elftal zelebrierte Fußball mit der Schärfe eines Skalpells und der Wucht eines Dampfhammers. Wenn die Europameisterschaft abgepfiffen wird, sollte es nicht verwundern, wenn das sechste Turnierspiel jenes mit dem höchsten Unterhaltungswert gewesen ist. Und der Titelträger Holland heißt?“
Mischung aus Hybris und Ignoranz
Birgit Schönau (SZ) stellt Trainer Roberto Donadoni wegen der Abkehr von italienischen Tugenden in den Senkel: „Die weltberühmte Schule des calcio italiano fußt entgegen weitverbreiteter Meinung nicht auf betonharten Abwehrtheorien. Sondern auf dem genauen, sorgfältigen, aufmerksamen Studium des Gegners und aus der daraus resultierenden, minutiösen taktischen Vorbereitung. Unter dieser Prämisse müsste es jetzt heißen: Donadoni, setzen. 6! In die Partie gegen Holland waren die Azzurri mit einer Mischung aus Hybris und Ignoranz gegangen, mit weltmeisterlich geschwellter Brust und Nebel im Kopf. Donadoni inszenierte ein Phlegma, das erklärtermaßen sogar den italienischen Staatspräsidenten Napolitano beeindruckte. Wenn man sich aber nicht einmal durch einen 0:2-Rückstand aus der Ruhe bringen lässt und stoisch an der beschämend konfusen Anfangsformation festhält, wirkt das weniger gelassen als besorgniserregend stur. So stur wie seine Mannschaft, der alles fehlte, was Italien zum Weltmeister gemacht hat: innerer Zusammenhalt, hohe Motivation, starkes Selbstbewusstsein.“
Momente echter, ohnmächtiger Verzweiflung
In Einzelteile zerlegt Schönau Italiens Elf: „Materazzi wurde von dem respektlosen Ruud van Nistelrooy weiträumig und nicht ohne eine gewisse Verachtung umspielt wie ein überflüssiges Stück Kulisse, das der Regisseur auf der Bühne vergessen hatte. Doch nicht nur Materazzi riskierte bei diesem denkwürdigen Abend seinen weltmeisterlichen Ruf. Nicht wieder zu erkennen war Wolfsburgs Zugang Andrea Barzagli, als unauffindbar gar erwies sich beim zweiten Tor der sonst so unermüdliche Gianluca Zambrotta. Der erfahrene Christian Panucci hatte seine denkwürdigste Szene, als er sich neben Buffons Tor auf dem Rasen fläzte und so dem kongenialen Schiedsrichter Fröjdfeldt ermöglichte, ein Tor der Holländer, das eigentlich abseits war, zu legitimieren. Ins Mittelfeld hatte Donadoni Milan-Spieler berufen, die eine beklagenswerte Saison hinter sich haben: Andrea Pirlo bot denn auch einen wehmütigen Abklatsch seiner WM-Genieblitze, Massimo Ambrosini ließ ahnen, warum Lippi ihn seinerzeit zu Hause gelassen hatte, und Rino Gattuso zeigte sehr anschaulich, warum er sich selbst in letzter Zeit als hölzern und langsam empfindet. Wesley Sneijder spielte ihn schwindlig – Gattuso, der Tapfere, durchlitt Momente echter, ohnmächtiger Verzweiflung. Noch schlechter war die Vorstellung von Mauro Camoranesi. Für Camoranesi, der an guten Tagen mitreißend sein kann wie kaum ein zweiter, geriet das Match zu einem Albtraum. Viel zu spät wechselte Donadoni ihn aus. Lange hatte der Trainer gezögert, seine völlig aus den Fugen geratene Formation zu ändern, als wüsste er nicht, wo anfangen: In der nach Cannavaros Ausfall so hilflos erscheinenden Abwehr, im stolpernden Mittelfeld oder weiter vorn, wo sich Luca Toni und Antonio Di Natale gestenreich missverstanden? Toni, der vermeintliche Über-Spieler, war eine weitere Riesenenttäuschung. Er verschenkte Bälle, die er in der Bundesliga niemals verfehlt, verbrachte die meiste Zeit damit, passiv auf eine Schicksalswende zu warten.“
Eichler pflichtet bei: „Die Innenverteidigung, seit jeher ein Markenbegriff italienischer Qualität, wirkte hölzern wie Pinocchio und wirr wie eine Regierungskrise in Rom. Dennoch war der Unterschied nicht so deutlich, wie es das Ergebnis, die Stimmung, die Schlagzeilen aussagten. An zwei, drei Stellen hätte die Partie zugunsten der Italiener kippen können.“
Gründliches Halbwissen
Arnd Festerling (FR) gesteht in Anbetracht des umstritten-unumstrittenen holländischen Treffers eine Regellücke ein: „Fußballerisch befanden Sie sich vermutlich in bester Gesellschaft. Bundestrainer Jogi Löw, Wunderfußballer Günter Netzer, Torjäger Ruud van Nistelrooy, eine komplette italienische Nationalelf, meine Kumpels und ich – keiner hatte je von der Regel gehört, ein Spieler außerhalb des Spielfelds beeinflusse die Abseitsregel. Das tut er aber. Wer das wusste: DFB-Schiedsrichterlehrwart Eugen Strigel etwa, oder der schwedische Fifa-Referee Peter Fröjdfeldt, der das erste Tor gegeben hat – und ARD-Kommentator Steffen Simon, vermutlich der einzige Nicht-Schiri in dieser Runde. Das ist, trotz der illustren Umgebung, ein harter Schlag für uns Ersatz-Bundestrainer und Sowieso-Besserwisser. Daraus lernen wir – und unsere bekannteren Brüder in Unwissenheit –, dass sich unglaublich viele Menschen mit dem ach so einfachen Fußballsport in unterschiedlichster Intensität beschäftigen und alle eint ein gründliches Halbwissen in Regelkunde.“
Nur der Fritsch musste es wieder mal wissen. So gut wie zumindest. Ist mir wirklich peinlich.
Aus viel wenig gemacht
Nach dem 0:0 gegen Rumänien hat Raymond Domenech gesagt: „Alles an diesem Abend erinnert mich an das 0:0 gegen die Schweiz 2006, sogar die rote Bahn war dieselbe. Man sollte überhaupt nur noch Stadien mit roten Bahnen bauen.“ Claudio Catuogno (SZ) entlarvt die Worte des französischen Trainers: „Es war wie immer. Zunächst hatte Domenech noch eingestanden, das Resultat bereite ihm Sorgen. Doch kaum waren ein paar Minuten vergangen, verfiel der bekennende Zyniker wieder in seinen Privatdadaismus. Rote, blaue, keine Bahnen, das ist nun wirklich das kleinste Problem der. Damals, bei der WM, würgten sie sich nach ihrem Auftakt-0:0 zu einem 1:1 gegen Südkorea, überstanden dank eines 2:0 gegen Togo die Gruppenphase – und kamen bis ins Finale. Aber was sagen uns diese faszinierenden Parallelitäten? ‚Sie sagen uns viel über die Vergangenheit und nichts über die Zukunft’, philosophierte Domenech nun. Die Zukunft heißt diesmal nicht Korea und Togo, sondern Holland und Italien, die kann man kaum mit Dadaismus besiegen. Vom Finaleinzug 2006 zehrt Raymond Domenech bis heute. Der französischen Presse, mit der er sich immer wieder lustvoll verkracht, fehlen die Argumente gegen den Cheftrainer. Doch sollten Les Bleus ihre Form vom Montagabend konservieren können, dürfte sich dieses Problem bald erledigt haben. In der Tat muss man eine Mannschaft erstmal so weit kriegen, aus so viel individuellem Potential so wenig zu machen.“
Christian Kamp (FAZ): „Eine derart phantasielose Vorstellung hat man von den Franzosen selten gesehen, seit sie vor zehn Jahren ihren Stammplatz in der Weltspitze eingenommen haben. Zuschauen, was Franck Ribéry so macht – das war der kümmerliche Beitrag zum bisher langweiligsten Spiel.“