EM 2008
TV-Dackel Waldi macht sich zum Affen
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| Donnerstag, 12. Juni 2008Die EM-Vorrunde hat die entscheidende Phase erreicht, doch es gibt auch Geschichten neben dem Spielfeld: Die Sorgen der Wirte der Fan-Zonen wegen der ausbleibenden Gäste; in Klagenfurt flüchten sogar die Einwohner aus ihrer Stadt / Ein Wissenschaftler befasst sich mit dem Milieu beim Public Viewing / Waldemar Hartmann ist der Absteiger, Mehmet Scholl der Aufsteiger im TV-Sport
Ronny Blaschke (Berliner Zeitung) befasst sich mit den schlechten Besucherzahlen auf den Schweizer und österreichischen Fan-Zonen: „Viele Wirte sind wütend, weil ihr Umsatz bis zu neunzig Prozent unter den Erwartungen liegt. Einigen Gastronomen, die bis zu 40.000 Euro Standmiete ausgegeben haben, droht die Pleite, sie mussten zwei Drittel ihrer Mitarbeiter entlassen. Alle sind verpflichtet, morgens um 9 die Türen zu öffnen, bis zum späten Nachmittag stellt sich statt Volksfeststimmung Picknickatmosphäre ein. Viele haben geglaubt, das Schunkelprinzip des Sommers 2006 lasse sich einfrieren und zwei Jahre später auf Knopfdruck fortführen. Doch es scheint unmöglich zu sein, eine Brücke zwischen WM und EM zu schlagen. Das Massenphänomen Public Viewing hatte sich in Deutschland als eine Art Partytherapie bewährt. Zurzeit wird diese Errungenschaft auf die Spitze getrieben, Gäste auf den Fanmeilen beschweren sich über Wucherpreise, weil Organisatoren den Reibach ihres Lebens wittern. So leiden die Österreicher unter dem hohen Spaßniveau von 2006. Sie wissen, sie können es kaum übertreffen, aber weit dahinter liegen wollen sie auch nicht.“
Flucht vor deutschen, polnischen und kroatischen Fans
Nina Klöckner (Financial Times Deutschland) greift das Beispiel Klagenfurt heraus, die Heimat des Rechtspopulisten Jörg Haider, und wundert sich über die Fremdenangst der Gastgeber: „Kärntens Hauptstadt ist in diesen Tagen wie ausgestorben. Die Altstadt ist während der EM für den Verkehr gesperrt, hier reiht sich Bierbank an Bierbank. Liebevoll haben die einheimischen Wirte ihre Gaststätten geschmückt, mit den Fahnen aller teilnehmenden Nationen, Blumen und Fußbällen. Nur leider kommt keiner. Zumindest kein Klagenfurter. Seit Wochen geistern am Wörthersee Gerüchte, die deutschen, polnischen und kroatischen Fans würden aus der kleinen Stadt Kleinholz machen, Geschäfte plündern und Frauen vergewaltigen. Das ist inzwischen so schlimm, dass einige Läden gar nicht mehr aufmachen, zahlreiche Bürger die Stadt verlassen haben und weibliche Einwohner um psychologischen Beistand im Krankenhaus bitten.“
Bevölkert von Dilettanten
Der Medienwissenschaftler Mirko Marr analysiert in der NZZ das Milieu beim Public Viewing: „Die eingefleischten Fußballfans möchten das Geschehen auf dem Rasen möglichst genau mitverfolgen können. Da stört das Massenerlebnis, dessentwegen die meisten Gelegenheitsfans zum Public Viewing gehen, weil es vom Spiel ablenkt. Die Fußballverrückten schauen sich – wenn überhaupt – eher die für sie unwichtigen Spiele in der Masse an. In der Tendenz bevölkern viele Fußball-Dilettanten das Public Viewing.“
TV-Kritik – Ralf Wiegand (SZ) beschreibt den Abstieg Waldemar Hartmanns: „Früher war Hartmann ein durchaus ernstzunehmender Sportreporter im Fernsehen, auf seine Art. Wenn der Bayerische Rundfunk seine Duzmaschine anwarf, dann plauderten die Großen dieses Sports frei von der Leber weg und manchmal sogar etwas aus. Hartmann ertrug, unter seinem Schnauzbart listig lächelnd, alle Kritik an seiner plumpen Fragetechnik. Er kam gut voran und nah an all die Bundestrainer. Der Schnauzbart ist längst ab, die List verdampft, und im EM-Club sitzt kein Großer. Natürlich, Rudi Völler hat Waldemar Hartmann auf dem Gewissen. Die Käse-Scheißdreck-Mist-Tirade des früheren Teamchefs auf den deutschen Sportjournalismus hat Hartmann aus dem Sportfach hinaus in die Welt der Unterhaltung gespült. In Waldis EM-Club kurz vor Mitternacht lümmeln Fußballfans mit Weißbier an der Bar, und als Gast kommt nicht der österreichische Bundeskanzler, nicht mal ein Bundestrainer, sondern Urban Priol. Das ist ein Kabarettist. Am Ende der Sendung steht fest: Holländer verstopfen die Straßen mit Wohnwagen, Rumänen sind Betrüger, Polen klauen, und Italiener zerkratzen gerne grundlos Autos. Solche TV-Dackel wie Waldi, die sich zum Affen machen, um im Geschäft zu bleiben, sind die Botschafter der zunehmenden Verblöd(el)ung des Fernsehfußballs.“
Mit dem Zweiten grölt man flacher!
Wolfgang Hettfleisch (FR) ärgert sich über „nachgetreten“, die EM-Comedy des ZDF: „Mit Zoten auf unterstem Stammtisch-Niveau kalauerte sich die Runde durch die quälend lange Sendezeit. Zwischen ‚13 Minuten Vorspiel’ und ‚Brigitte Nielsens Flatterbällen’ schaffte es der Fernseh-Ballermann für Gebührenzahler im Fußballkoma nicht mal sporadisch über die Gürtellinie. Tiefpunkt: eine primitive deutsche Verballhornung der tschechischen Hymne, die den Zuschauern die Erkenntnis näher brachte, dass Männer aus dem Nachbarland stinken. Saukomisch. Merke: Mit dem Zweiten grölt man flacher!“
Sicherheitsprosa, Mittelfelddeutsch
Benjamin Henrichs (SZ) rehabilitiert Günter Netzer: „Er ist der Letzte, der sich mit allem sittlichen Ernst der Verwandlung des Fußballs in Party, Show und Event widersetzt. Unser Held. Unser altblonder Schutzengel. Der Anti-Entertainer. Vor der EM sind wir treuen Fans über Netzer und Delling erschrocken – so müde, so lustlos gingen sie ans Werk. Welch ein großes Paar, so dachte man erschüttert, doch jetzt ist alles aus! Aber nun, bei der EM, haben sich die beiden Herren sichtbar erholt, und auch ihre alte, verhalten romantische Männerkomödie funktioniert schon wieder aufs Beste. Wenn also der lange Delling spöttisch auf seinen Netzer herabblickt und dabei innerlich doch zu ihm aufblickt, ist das immer eine schöne Szene. Auch wenn die Dialoge in diesem Zweipersonenstück doch sehr unter Netzers rhetorischer Ermattung leiden. Ausgerechnet Netzer, vormals der Inbegriff des phantasievollen Risikospielers, redet heute oft so mechanisch, wie ein Wörns, ein Ramelow spielt. Sicherheitsprosa. Mittelfelddeutsch.“
Profunde Einsichten
Jürgen Roth (FR) empfindet den ARD-Experten Mehmet Scholl als Gewinn fürs Sportfernsehen: „Uprätentiös im Habitus, präzise in seinen Urteilen, gewandt in seinen Formulierungen. Er leuchtete Hintergründe aus, beschrieb plastisch die Vorzüge und Schwächen der Mannschaften, charakterisierte fußballkulturelle Eigentümlichkeiten und analysierte das Geschehen auf dem Rasen bündig und durch und durch phrasenfrei. Profunde Einsichten in die Dynamik des Spiels, Begeisterung für schönen Fußball, ohne in schmalziges Pathos zu verfallen einen großen Mann, dachte ich erleichtert, schafft nicht mal das Fernsehen. Noch nicht. Mehmet Scholl teilt in dreißig Sekunden mehr Erhellendes über den Fußball mit als G. Netzer in zehn Grimme-Preis-prämierten Jahren. Chapeau, Herr Scholl!“
Nah am Eisbärenbaby-TV
Benjamin Henrichs (SZ) stößt im Videotext auf sein persönliches Fußballunwort, diesmal in der Schweizer Version, und lässt sich alle Freude nehmen: „‚Schweiz träumt vom Sommermärli’, und da war es mit der Fußballvorfreude erst mal vorbei. Denn da war es schon wieder, das Zauber- und Schreckenswort der letzten Fußballjahre, ins Schweizerische übersetzt. Es soll ja arme, alte Fußballfreunde geben, die schon beim Wort Sommermärchen Kopfjucken und Magengrimmen bekommen, manchmal sogar beides zugleich. Weil das Wort Sommermärchen, seit der WM 2006 vieltausendfach benutzt und abgenutzt, das absolute Lieblingswort jener neuen Fußballfans ist, die mit aller Macht an der unaufhaltsamen Verkitschung und Verkuschelung der Fußballkunst arbeiten; für die Fußball im Fernsehen also näher beim Promi- und Eisbärenbaby-TV angesiedelt ist als beim Ressort Sport. Von der ‚wunderbaren Leichtigkeit’ bei der WM 2006 schwärmte jüngst auch wieder die Bundeskanzlerin, und wer wollte einer solchen Frau und Fußballkennerin widersprechen? Muss man allerdings, wie bei der WM 2006, mindestens einmal pro Stunde von dieser ‚wunderbaren Leichtigkeit’ lesen oder hören, kann dies auch zu Schwermut führen. Und man ist dann schon beinahe froh, wenn die Wahrheit und der wahre Schrecken das süßliche Bild korrigieren. Wenn Zidane, unser Lieblingsfußballkünstler, zum wilden Stier wird. Oder wenn Merkels Sommermärchenprinz, Trainer Klinsmann alias Klinsi, als aggressiv kreischender Kabinenprediger gezeigt wird. Dann ist das Märchen oder auch Märli endlich zu Ende. Und der Fußball fängt an.“
Sterile Uefa-Business-Welt
Im österreichischen Kurier lesen wir zum Tod des ehemaligen Tennis-Profis Horst Skoff: „Heute laufen unzählige Wichtigtuer in dunklen Anzügen und sonstigen Uniformen im Dusika-Stadion herum. Per Kopfhörer autistisch vertieft in irgendwelche Organisationstelefonate ohne Inhalt. Den Geist einer echten leidenschaftlichen Sportpersönlichkeit, wie Horst Skoff eine war, werden sie nie begreifen in dieser gespenstisch sterilen Uefa-Business-Welt. Kaum einer von denen wird mit dem Namen Horst Skoff noch etwas anfangen können. Horsti hat eine Welt verlassen, die nicht mehr die seine ist. Und vielleicht nie war.“
Im Blog empfiehlt freistoss-Leser Max Diderot den Schweizern, die Niederlage gegen die Türkei, das Ausscheiden aus dem Heimturnier und das Dasein mit Schiller hinzunehmen: „Ertragen muss man, was der Himmel sendet, Unbilliges erträgt kein edles Herz.” (Aus: Wilhelm Tell / Erster Aufzug, Zweite Szene)
Ein langes SZ-Interview mit Angela Merkel