EM 2008
Holland in Ekstase
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| Montag, 16. Juni 2008Ingo Durstewitz (FR) wirft sich den Holländern an den Hals: „Wenn die Holländer die Kugel am Fuß haben, beginnt eine rasante, faszinierende Reise durch die Lehrbücher des Fußballs. Die Elftal fährt atemberaubend schnelle Gegenangriffe, da wird der Ball in höchstem Tempo mit Härte und Präzision nach vorne getrieben. Die Niederländer schwärmen aus wie Hornissen – und stechen gnadenlos zu. an Basten soll die Ideale verkauft haben? Er hat genau das Gegenteil getan. Der holländische Hochgeschwindigkeitsfußball ist ein fast schon epochales Meisterwerk, er erinnert im Jahr 2008 stark an das legendäre 70er-Jahre-Modell namens Totaalvoetbal: verwirrende Kombinationen, überfallartige Konter. Jetzt lebt der Zauber der Vergangenheit neu auf.“
Boris Herrmann (Berliner Zeitung) fügt an: „Hollands Nationalteam hat in den ersten beiden Gruppenspielen insgesamt 7:1 gegen die WM-Finalisten von 2006 gewonnen. Sie haben Italien und Frankreich nicht besiegt, sie haben sie gedemütigt. Die Holländer stürmen, freuen und loben sich bereits wie Europameister. Trainer Marco van Basten steckt nun in einem Dilemma, um das ihn viele Kollegen beneiden. Er muss zusehen, dass seine Spieler Bodenkontakt bewahren, ohne dabei die Euphorie abzuwürgen. Vielleicht ist Euphorie nicht das richtige Wort. Vielleicht muss man Ekstase sagen. In Bern, einer Stadt mit 135.000 Einwohnern, begossen rund 110.000 holländische Fans den überzeugendsten EM-Start der Fußballgeschichte. (…) Alles ist in Bewegung, alles im Fluss. Der Ball wandert wie selbstverständlich durch die Reihen, kaum ein Spieler berührt ihn mehr als ein Mal. Der entscheidende Pass in die Tiefe wird mit Risiko gespielt und kommt trotzdem an.“
Kein Kollektiv, nur Ribéry
Über das Fragment Frankreich schreibt Herrmann: „Immerhin passt die dialektische Rhetorik des Trainers zu den widersprüchlichen Auftritten seiner Mannschaft. Im ersten Spiel schossen die Franzosen nur 1 Mal aufs Tor, die Abwehr stand sicher. Im zweiten Spiel gaben sie 25 Torschüsse ab, von denen 24 daneben gingen. Von einer Abwehr konnte nicht die Rede sein. Nach der Partie gegen Rumänien klagten sie darüber, der Gegner habe zu wenig mitgespielt. Gegen Holland merkten sie, dass es nicht hilft, wenn der Gegner zu viel mitspielt. Raymond Domenech hat es offenbar nicht geschafft, aus zweifellos herausragenden Einzelspielern ein funktionierendes Kollektiv zu formen. Zwanzig Minuten lang mussten sich die Holländer ernsthaft um ihre Punkte sorgen. Es waren keineswegs die zwanzig Minuten von Frankreich, sondern die von Franck Ribéry.“
Süße Gebäckteile und unlautere Geschäfte
Wird Holland absichtlich gegen Rumänien verlieren, um Italien und Frankreich kaltzustellen? Julius Müller-Meiningen (Berliner Zeitung) berichtet von der Angst der Italiener, Opfer des Modus zu werden: „Es steht das Spiel der Spiele bevor, der Weltmeister trifft auf seinen ärgsten Rivalen, den Gegner aus dem WM-Finale 2006. Und doch sprechen sie in Italien nur von Torten, Keksen und Biskuits. ‚Biscotti’, so nennen sich in Italien nicht nur süße Gebäckteile, sondern auch unlautere Geschäfte und unfaire Abmachungen. Anstatt sich also für den Gegner im entscheidenden Gruppenspiel zu interessieren, sind Italiens Tifosi fast ausschließlich damit beschäftigt, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, Opfer eines Komplotts zu werden. (…) Bei der EM 2004 war Italien in derselben Lage, die Mannschaft des damaligen Trainers Giovanni Trapattoni hatte das Weiterkommen vor dem letzten Gruppenspiel nicht mehr in der eigenen Hand. Schweden und Dänemark spielten 2:2, es war das Ergebnis, das beiden Mannschaften die Qualifikation für das Viertelfinale bescherte. Italien besiegte Bulgarien mit 2:1, aber das half nichts mehr.“