Deutsche Elf
Psycho-Vorspiel mit Retro-Elementen
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| Montag, 16. Juni 2008Nicht auszuschließen, dass heute gegen Österreich nicht nur die Viertelfinalqualifikation Deutschlands auf dem Spiel steht, sondern auch Joachim Löws Posten / Das Spiel steht auch unter den Vorzeichen der gemeinsamen Fußballgeschichte; in Österreich versucht man, die Geister von Córdoba zu rufen
Andreas Lesch (Berliner Zeitung) fährt mit der Hand über die glatte Oberfläche der Nationalmannschaft: „Bierhoff und Löw haben aus dem Fußball eine Wissenschaft gemacht. Sie haben eine gigantische Maschinerie kreiert, die permanente Perfektion suggeriert. Sie inszenieren die Nationalmannschaft als Hightech-Unternehmen, in dem jedes Detail durchgestylt ist. Sie logieren während der EM in einem Fünf-Sterne-Hotel, aber sie haben dieses Hotel natürlich noch optimiert. ‚Wir haben versucht, kleine Inseln zu schaffen und die Räume noch loungiger zu machen’, hat Bierhoff erzählt. Das Problem ist nur, dass das Leben nicht immer eine Lounge ist. Es ist auch mal ein Abstellraum. (…) Alles bei der deutschen Mannschaft ist wichtig und geheim: die Aufstellung, das Training. Die Trainer vermitteln ihrer Mannschaft, dass sie nur das DFB-Trikot anziehen und ihren Stil durchsetzen muss, dann wird alles gut. Doch was, wenn diese Theorie sich als falsch erweist und Löws Team in der Praxis scheitert?“
Michael Ashelm (FAS) mutmaßt, für den Fall des Ausscheidens, über einen Trainerwechsel: „Es steht viel auf dem Spiel. Die vierte Niederlage im 25. Spiel könnte durchaus das Ende für Löw bedeuten. Das wird derzeit zwar von den Führungskräften des DFB bestritten, auch vom Präsidenten Theo Zwanziger. Die Gewalt des Augenblicks hat aber schon in der Vergangenheit einige Trainer nach einem überraschenden Aus bei einer EM zur Aufgabe gezwungen (Derwall, Ribbeck, Völler). Ginge Löw, könnte auch das einst von Klinsmann unter größten Widerständen eingeführte System zur Disposition stehen – personell wie inhaltlich. Und gibt es da nicht noch Matthias Sammer? Von dem wird behauptet, dass er ganz gerne mal Nationaltrainer werden würde. Seine Stelle des Sportdirektors wurde auch geschaffen, um im Fall eines Trainerwechsels eine schnelle Übergangslösung präsentieren zu können. Als enger Freund von Löw und Bierhoff gilt Sammer jedenfalls nicht.“
Den Erwartungen nicht gewachsen?
Christof Kneer (SZ) moniert die Personalstrategie des Bundestrainers: „Im Moment erweckt Löws Kader den Anschein, als wäre er nicht wirklich betriebssicher – was wohl weniger an jenen Kandidaten liegt, die Löw zu Hause gelassen hat (Marin, Helmes, Hilbert). Viel eher fällt ins Gewicht, dass die Mittelfeldformation bisher so streng aufs Flügelspiel ausgerichtet war, dass sich für strategischere Kräfte wie Hitzlsperger, Borowski oder auch Rolfes keine Verwendung fand. Wenn die Halbpositionen gestrichen werden und alle Strategen ausschließlich als Backups für Ballack und Frings taugen, dann fallen weitere Optionen weg – so ist aus einem 23er-Kader ein gefühlter 16er-Kader geworden. Deutschland spielt bisher in Unterzahl.“
Marc Heinrich (FAZ) richtet den Scheinwerfer auf den Kapitän: „Aus dem Zwerg Österreich, der Nummer 92 (!) der Weltrangliste, ist nach zwei Turnierauftritten ohne Sieg und nur einem Tor durch einen unberechtigten Elfmeter ein Alpenriese von der Größe des Großglockner geworden, während die ‚Piefkes’, immerhin dreimal Weltmeister, zu einem Pimpfen geschrumpft scheinen. Gerade Ballack ist gefordert, dass dieser Spuk schleunigst ein Ende hat. Ein Vorrunden-Aus wäre fürs zuletzt blendende Image des erfahrenen Nationalspielers nicht unbedingt förderlich. Immer wieder musste sich Ballack im Verlauf seiner Karriere von seinen Kritikern den Vorwurf gefallen lassen, in entscheidenden Situationen den Erwartungen nicht gewachsen zu sein.“
Roland Zorn (FAZ) dekliniert die Ausgangslage für beide Mannschaften: „Qualitativ sind die Deutschen den Österreichern in allen Mannschaftsteilen voraus, doch was heißt das schon in dieser Situation? Österreich gibt sich locker vor der Begegnung mit dem großen Bruder, der sich auf einen heißblütigen Empfang im Ernst-Happel-Stadion gefasst machen muss. Die Deutschen erlauben sich mit grimmig entschlossenen Mienen nicht den leisesten Zweifel daran, dass sie sowieso die Besseren seien. Das Psycho-Vorspiel mit Retro-Elementen ist schrill, laut und ideal geeignet, diesen Krimi unter Nachbarn atmosphärisch aufzuladen. Das Publikum zum Bersten gespannt, die Hauptdarsteller bis zum Äußersten gefordert: Mögen sie ihr Spiel machen, über welches die Fußballgeschichte danach urteilen wird. ‚Wunder von Wien’, das klingt wie Johann-Strauß-Musik in den Ohren der Österreicher; Favoritensieg, das klingt nur nach Normalität, wäre den Deutschen aber ganz recht auf dem Weg zu den eigentlichen Euro-Gipfeln, die vom Viertelfinale an auf sie warten.“
An Sindelar kommt niemand vorbei
Dirk Schümer (FAZ) danken wir, dass er nicht dreißig, sondern siebzig Jahre zurückblickt und dass er historische Einordnungen zurechtrückt: „Vor siebzig Jahren hat das eigentliche Jahrhundertduell Deutschland-Österreich stattgefunden: ein Spiel für die Geschichte. Am 3. April 1938 mussten auf Befehl der NSDAP-Sportführung die soeben eingemeindeten ‚Ostmärker’ gegen eine ‚reichsdeutsche’ Auswahl zum ‚Anschlussspiel’ auflaufen. Der legendäre Kapitän Mathias Sindelar, den sie wegen seiner körperkontaktlosen Spielweise ‚den Papierenen’ nannten, hatte bewusst rotweißrote Trikots besorgt. Der Mann aus dem Arbeiterviertel Favoriten vergab absichtlich Chancen gegen die tapsigen Deutschen im Dutzend, schob nach drückender Überlegenheit einen Abstauber lässig ins Tor und vollführte danach vor der NS-Ehrentribüne einen provokanten Freudentanz. Am Ende besorgte der Linksverteidiger Karl Sesta, der in der Halbzeitpause manchmal auch als Ringer auftrat und als erfolgreicher Sänger von Wiener Liedern glänzte, mit einem Treffer von der Mittellinie den Reichsdeutschen den Rest. Österreich gab es völkerrechtlich nicht mehr, aber sportlich hatte es sich noch einmal rotweißrot behauptet. Darum irrt Edi Finger 1978 mit seinen Schlussworten: Der letzte und wichtigste Sieg Österreichs gegen den mächtigen Nachbarn lag damals nicht 47 Jahre zurück, sondern hatte 1938 stattgefunden, in Wien und unter dem Missmut Hitlerdeutschlands. Was immer heute dort auch passiert – an Sindelar kommt niemand vorbei.“
Waffen- und Gesinnungsbrüder
Wolfgang Hettfleisch (FR) erinnert an ein weiteres Kapitel deutsch-österreichischer Fußballgeschichte: „Diese 1978 wiederentdeckte Gewissheit der Österreicher wurde lange von der ‚Schmach von Gijon’ überschattet – jenem fatalen Nichtangriffpakt zwischen den Auswahlteams beider Länder bei der WM 1982 in Spanien. Da waren sie wieder, die großdeutschen Vettern, als Komplizen eines üblen Wettbewerbsbetrugs zu Lasten der formidabel spielenden Algerier. Die alten Schicksals- und Bundesgenossen. Die Waffen- und Gesinnungsbrüder. Aber auch das Skandalspiel von Gijon ist mehr als ein Vierteljahrhundert her. Und zumindest das politische Österreich ist ja berühmt für sein selektives Erinnerungsvermögen. Die Fans der Gastgeber-Elf werden also frohgemut ‚Córdoba, Córdoba’ rufen. Sie werden hoffen, dass die Piefkes stolpern, und feixen, falls es so kommt. Auch wenn mancher Deutsche es vielleicht nicht gern hört: Das klingt nach einem durch und durch gesunden nachbarschaftlichen Verhältnis.“
Die FAZ hat einen Ausschnitt aus Ror Wolfs Radio—Cordoba-Collage veröffentlicht.