EM 2008
Mit dem Rücken zur Wand am stärksten
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| Dienstag, 17. Juni 2008Italien gelingt erster Sieg im letzten Vorrundenspiel und damit die Viertelfinalqualifikation – auch dank Hollands „selbstlosem“ Sieg
Bahnwärter Flurin Clalüna (Neue Zürcher Zeitung) schließt nach dem 2:0-Sieg gegen Frankreich hinter den Italienern die Türen: „Irgendwann rauschte er vorbei, der letzte Euro-Zug und die italienischen Fußballer vermochten gerade noch auf den hintersten Wagen mit der roten Laterne aufzuspringen. Er fährt sie nach Wien zum Viertelfinal. Den Italienern gelang der gewünschte Leistungssprung im richtigen Moment, im entscheidenden Spiel, als sie nicht mehr weiter nach hinten ausweichen konnten, weil der Rücken an der Wand anstieß. In diesen Momenten war ihnen wieder eingefallen, wie man italienisch verteidigt und dem Gegner fast gar nichts zugesteht. Diese Abdichtung war wichtiger als die gelungenen Spielzüge, denn die hatten die Italiener auch gegen Rumänien schon gezeigt. Diesmal funktionierte vieles. Sie spielten mit einem Masterplan im Hinterkopf. So wie man es sich eigentlich vom Weltmeister gewohnt ist. In einigen Szenen war Pirlo, den die Zeitungen aus der Mannschaft schreiben wollten, wie unsichtbar verkabelt mit dem Stürmer Toni. (…) Die Franzosen der Gegenwart waren satt und uninspiriert. Es gelang ihnen überhaupt nicht, wenigstens in einem EM-Spiel die Ehre einer älter werdenden Spielergeneration zu retten.“
Christoph Biermann (Spiegel Online) kommt das alles bekannt vor: „Irgendwie erinnern die Italiener mit ihrer Mischung aus Qualität und Gerumpel an deutsche Mannschaften der Vergangenheit, die plötzlich in Endspielen auftauchten und niemand wusste, wie sie da eigentlich hingekommen waren.“ Hendrik Ternieden (Spiegel Online) zählt Luca Tonis Fahrkarten: „Was ist mit Tormaschine Toni geschehen? Der Angreifer spielt stark, er ist immer in Bewegung, erarbeitet sich eine Chance nach der anderen – und trifft das Tor nicht. Hätte er bei der EM die gleiche Trefferquote wie im Verein bei Bayern München – er würde die Torjägerliste mit geschätzten elf Treffern anführen.“
Stephan Ramming (Neue Zürcher Zeitung) sagt Adieu: „Am Ende trotteten die Franzosen traurig vom Rasen. Patrick Vieira, der wegen seiner Verletzung nie spielen konnte, Thuram, der nicht mehr im Aufgebot war, und auch Henry, ihnen allen war es nicht vergönnt, ein letztes Mal Ehre einzulegen für die Equipe Tricolore und die glorreiche Generation von Zinedine Zidane. Irgendwo draußen, schon weit weg vom Stadion, lag wohl Franck Ribéry in einem Spitalbett. Ob er geweint hat?“
Kluger Schachzug
Andere Spieler, anderes Spiel, ähnliches Resultat – Peter B. Birrer (Neue Zürcher Zeitung) über Hollands Sieg gegen Rumänien: „Es ist schon erstaunlich, wie leichten Herzens und noch leichteren Schwunges die Niederländer dreimal ihre Ernte einfuhren. 3:0 und 4:1 gegen die WM-Finalisten 2006, 2:0 mit dem Team B gegen Rumänien – das ist eine orange Verheißung für das Turnier. Doch während den ersten beiden Erfolgen die Etikette ‚zu hoch’ anhaftet, gilt für den Dritten (etwas überspitzt formuliert): kein Widerstand. Auch das gibt’s an Endrunden.“
Daniel Theweleit (Berliner Zeitung) beobachtet Marco van Basten bei einer gelungenen Gratwanderung, bei der mehr auf dem Spiel stand als drei Punkte, nämlich sein Ansehen: „Natürlich ist es eine verführerische Gelegenheit gewesen, mit einer Niederlage zwei Titelaspiranten und potenzielle Halbfinalgegner mit großem Namen aus dem Turnier zu befördern. Doch das hätte eine Lawine der Kritik ausgelöst. Schon im Stadion, vor allem aber in den Medien. So etwas verdirbt schnell die Stimmung. Außerdem ist es kaum vorstellbar, dass die holländische Stammformation über ein ganzes Turnier so überzeugend spielt wie in den ersten beiden Partien. Solch einen Sturmlauf bis ins Finale ohne schwächere Momente hat es seit Peles Zeiten nicht gegeben. Deshalb war diese Lösung mit einer engagierten B-Elf ein kluger Schachzug. Gegen die Rumänen reichte auch eine mittelmäßige Leistung, um das Gesicht zu wahren. Denn die Osteuropäer agierten viel zu vorsichtig, wirkten irgendwie gehemmt von ihrer enormen Chance, die Sensation zu schaffen.“
Die NZZ versetzt sich in das Gemüt der Italiener: „Allein schon die Abhängigkeit hatte etwas Demütigendes, dieses Schielen auf holländische Hilfe ein paar Kilometer weiter westlich. Es war schlicht erniedrigend, schließlich ist man ja nicht irgendwer. Doch nach dem Auftritt wissen die Gegner: Italien ist wieder da. Und vielleicht gefährlicher als zuvor.“