EM 2008
Mit neuen, offensiven Ideen ist Frankreichs Kontrollfußball überholt worden
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| Donnerstag, 19. Juni 2008Frankreichs Verfall unter dem wirren Raymond Domenech / Daniele De Rossi, das neue Zentrum in Italiens Teams / Rumänien in der entscheidenden Stunde zu passiv
Boris Herrmann (Berliner Zeitung) gibt sich irritiert über den französischen Trainer: „Raymond Domenech erinnert in seiner öffentlich zur Schau gestellten Verblendung stark an jenen Gerhard Schröder aus der Nacht seiner Abwahl 2005. Er will nicht einsehen, dass er gescheitert ist, er klammert sich mit letzter Kraft an seinem Job fest. Und wenn er danach gefragt wird, warum er nicht einfach aufgibt, verliert er die Selbstkontrolle. Man kann diese Selbstkontrolle auf verschiedene Arten verlieren. Schröder giftete damals seine unausweichliche Nachfolgerin Angela Merkel an. Domenech trat unmittelbar nach der Niederlage vor die TV-Kameras und machte seiner Freundin Estelle Denis einen Heiratsantrag. Die Grande Nation hatte wenige Minuten nach dem Vorrunden-Aus ganz andere Sorgen: Wie geht es Franck Ribéry? Warum spielte die französische Mannschaft in allen drei Turnierspielen währen der EM so gehemmt, so uninspiriert?“
Christian Eichler (FAZ) schildert die Degeneration Frankreichs: „Domenech setzte ganz auf die Vergangenheit. Sein größter Coup war, Zinedine Zidane vor der WM 2006 zur Rückkehr zu bewegen. Doch bei anderen hat das Modell ‚Zurück in die Zukunft’ nicht funktioniert. Es sind starke junge Spieler da, Domenech behandelte sie wie Spielbälle. Stürmer Karim Benzema brachte er im ersten Spiel, wechselte ihn dann im zweiten nicht mal beim 1:3-Rückstand ein, brachte ihn wieder gegen Italien – so schafft man bei einem Zwanzigjährigen weder Rhythmus noch Selbstvertrauen. Das andere Supertalent, Samir Nasri: rein nach zehn Minuten für Ribéry, raus eine Viertelstunde später, als nach Abidals Rausschmiss ein neuer Verteidiger gebraucht wurde. Domenech hatte die Jugend, aber er traute ihr nicht. Die Reformen, die den Fußball der Nationalteams in den letzten Jahren auf die Spuren der Champions League gebracht haben – Tempo, Beweglichkeit, flexible taktische Muster, absolute Fitness –, sind an den Franzosen vorbeigegangen und an ihrer Selbsteinschätzung als Maßstab des europäischen Fußballs, der sie einmal waren. Sie definierten den Sicherheitsfußball der späten neunziger Jahre, mit der vielleicht besten Viererkette, die es je gab und die nie auch nur ein Spiel verlor: Lizarazu, Blanc, Desailly, Thuram; und mit dem unübertroffenen defensiven Mittelfeld Vieira und Makelele. Doch mit neuen, offensiven Ideen ist der Kontrollfußball überholt worden. Das zeigt diese EM. Große Fußballnationen brauchen Totalschäden, um Neuanfänge zu wagen – so wie Deutschland nach der letzten EM.“
Arbeitsbiene und Schwulenikone
Birgit Schönau (SZ) stellt Daniele De Rossi als wichtigsten und repräsentativen Spieler Italiens heraus: „Er war überall, er war der unumschränkte Herrscher des Mittelfeldes, und in seinem Reich ging die Sonne nicht unter. Er ließ sich tief nach hinten fallen, beruhigte die immer noch etwas hektische Abwehr der Azzurri, an ihm kam keiner vorbei. Mit beiläufiger Selbstverständlichkeit klaubte er dem Gegner den Ball vom Fuß und zog seine Mannschaft nach vorn. De Rossi besiegelte dann den Untergang der Équipe Tricolore – mit einem kraftvoll geschossenen Freistoß, den Thierry Henry ins Tor abfälschte. Wie De Rossi dann zur Bank lief, um mit seinem Trainer zu feiern, das machte für einige Augenblicke deutlich, was er für die Squadra Azzurra ist: nicht Überflieger, sondern Pflichterfüller, working class hero statt Universalgenie. Hochmotiviert, schnörkellos und pragmatisch, ein Spieler, der das verkörpert, was Roberto Donadoni von seiner Mannschaft will. (…) Das Italien der Arbeitsbienen summt weiter. Mittendrin die Nummer 10, keine Königin – eher Baubiene, Wehrbiene, Trachtbiene in Personalunion. Eine 10, die die anderen nicht unbedingt überstrahlt. Die aber jederzeit zustechen kann.“
Julius Müller-Meiningen (Berliner Zeitung) berichtet aus dem Hintergrund: „Im kommenden Jahrzehnt wird er einer derjenigen sein, die Italiens Fußball prägen. Trotz seiner offensichtlichen Stärken verzichtete Roberto Donadoni im ersten Spiel überraschend auf den Römer, der die Nichtnominierung fassungslos entgegennahm. Noch immer wird gemunkelt, Donadoni habe erst nach einem Anruf des Milan-Besitzers Silvio Berlusconi, im Nebenamt auch Ministerpräsident, den gesamten Mittelfeldblock des AC Mailand eingesetzt. (…) ‚Wir haben nun alle zum Schweigen gebracht, die uns Muttersöhne genannt haben’, protestierte De Rossi gegen die Anfeindungen der Presse, die den jämmerlichen EM-Start beklagt hatte. ‚Wir sind richtige Männer’, erinnerte auch das Kraftpaket Gattuso vor den Kameras. Diese Tatsache hatte die Heimat ernsthaft in Zweifel gezogen. Dass der verheiratete Vater De Rossi, (blond, blauäugig und in Italien deshalb weitgehend als omnipotent angesehen) als Schwulenikone gilt, ließ die oft beinharte Fußballpresse in der Debatte gnädigerweise außen vor.“
Ingo Durstewitz (FR) wird nicht schlau aus Italiens Spiel: „Bei den Italienern wirkt alles nicht durchdacht, da ist weit und breit kein Konzept, keine Idee zu erkennen. Im Grunde gibt diese konturlose Mannschaft Rätsel auf. Man fragt sich noch immer: Für was steht dieses italienische Ensemble eigentlich?“
Chancen der Gegenwart
Christian Kamp (FAZ) hält den Rumänen Passivität vor: „Ein wenig rätselhaft blieben diese Rumänen bis zum Schluss. Man musste sich schon wundern, wie mutlos sie ihre Chance auf das Viertelfinale verspielten. Und fast erstaunlicher war, dass sie nicht einmal sonderlich enttäuscht darüber schienen. schon von der ersten Minute an hatten sich die Rumänen in die Beobachterrolle gefügt – und kamen in dieser Partie auch nicht mehr heraus. 38 Prozent Ballbesitz, zwei Schüsse in Richtung Tor – das ist schon sehr wenig, wenn doch noch so viel möglich scheint. Sie hatten wohl einfach selbst nicht mehr an die finale Überraschung geglaubt nach den beiden hart erkämpften Unentschieden gegen Frankreich und Italien. Die Perspektiven für das relativ junge Team mögen gut sein, in Erinnerung aber bleibt vom Schweizer Gastspiel nicht allzu viel. Nur einmal, gegen Italien, deuteten die Rumänen an, dass sie besser und vor allem offensiver spielen können, als ihr Ruf das vermuten ließ – zu wenig.“
Daniel Theweleit (SZ) wirft den Rumänen vor, die Stunde nicht genutzt zu haben: „Rumäniens Spieler bleiben ein Rätsel. Da hatten sie sich eine Ausgangsposition erspielt, die ihnen vor dem Turnier keiner zugetraut hatte, hätten aus eigener Kraft das Viertelfinale erreichen können, doch statt mit Optimismus Fußball zu spielen, produzierten sie ein großes Nichts. Fast gleichgültig haben sie ihr entscheidendes Spiel gegen Holland verwaltet, und als sie diese Enttäuschung dann kommentieren sollten, zuckten die Herren aus den Karpaten allenthalben die Schultern. Es gab keinen Moment des Aufbäumens, keine Phase, in der sie ernsthaft auf ein Tor drängten, dieser rumänische Abschied war geprägt von einem tiefen Fatalismus. Offenbar waren die Rumänen in ihren Herzen damit zufrieden, in der starken Gruppe C nicht untergegangen zu sein. Die rumänische Nationalmannschaft erlag einem Reflex, der nicht selten ist im Fußball: Sie basteln an einer großen Zukunft und haben darüber die Chancen der Gegenwart vergessen. Dabei war die Gelegenheit günstig wie nie.“
Gelegenheitsholländer
Raphael Honigstein (Financial Times Deutschland) gibt zu bedenken: „In ganz Europa werden die Niederlande derzeit als Lieblingsteam der Neutralen wiederentdeckt, die Dunkelziffer der Gelegenheitsholländer wird täglich größer. Die meisten Teams würden alles für einen solchen positiven Moment tun. Die Niederländer aber wissen aus schmerzhafter Erfahrung bei früheren Turnieren, dass zuviel Anfangsschwung die Konzentration auch beeinträchtigen kann.“