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Deutsche Elf

Kein Rumpelfußball, sondern Überrumpelungsfußball

Oliver Fritsch | Freitag, 20. Juni 2008 Kommentare deaktiviert für Kein Rumpelfußball, sondern Überrumpelungsfußball

Damit hat die Presse nicht gerechnet: Deutschland zeigt nach einem Systemwechsel sein bestes Spiel in diesem Turnier und schlägt den Favoriten Portugal mit 3:2 – Mannschaft und Trainer sind rehabilitiert / Bastian Schweinsteiger, Michael Ballack, Philipp Lahm und Jens Lehmann als beste Spieler auserkoren

Michael Horeni (FAZ) erkennt die deutsche Mannschaft nicht wieder und macht die Systemumstellung für den Umschwung verantwortlich: „Das deutsche Team lebt – und Deutschland bebt. Mit Herz, Verstand, Leidenschaft und enormem Trainermut hat die Nationalmannschaft das Halbfinale erreicht. Beim beeindruckenden 3:2-Triumph gegen Portugal vollzogen Joachim Löw und seine Mannschaft eine spektakuläre Wende, die von so vielen Fans erhofft, aber in dieser Weise kaum noch zu erwarten war. In Basel war dann aber tatsächlich eine von der Turnierdynamik entfachte Wiederbelebung aller zuletzt so tief verschütteten deutschen Stärken zu bestaunen, der am Ende nicht einmal die Extrakönner aus Portugal gewachsen waren – und die aus der deutschen Mannschaft wieder eine große Nummer bei der EM machte. Das war kein Rumpelfußball mehr wie zuletzt, sondern Überrumpelungsfußball. (…) Die Notoperation am offenen Herzen seines Teams entpuppte sich ganz schnell als eine goldrichtige Entscheidung des von der Uefa auseinander gerissenen Trainerteams Löw und Flick. Es war ihr Meisterstück, aus den enttäuschenden Auftritten diesmal genau die richtigen Konsequenzen gezogen zu haben.“

Markus Völker (taz) fügt hinzu: „Rasant, stark im Offensivspiel, ein Spiel, in dem die deutschen Spieler ihre Robustheit in den Zweikämpfen bewiesen. Die Deutschen zeigten in allen Mannschaftsteilen ihr bislang bestes Spiel im Turnier; sie agierten flexibel im Positionsspiel, es schien, als hätten sie in der Einöde von Tenero, in der sie derzeit aufeinander sitzen, nur darauf gewartet, endlich in dieser Formation zusammenzuspielen.“

Wieder zurück

Nico Stankewitz (stern.de) hat das zentrale Mittelfeld als Schlüsselstelle ausgekuckt: „Ein Schlüssel zum Sieg war damit schon gefunden, denn die supergefährlichen portugiesischen Flügelspieler bekamen dadurch wenig Bälle, über lange Zeit hatte das Dreieck die Nachschublinien der Außenspieler eindrucksvoll unterbrochen. Hinzu kam eine gelungene Besetzung der Offensive, mit Schweinsteiger und Podolski als überragenden Spieler auf den deutschen Außenbahnen, einem Ballack, der viel aus seinen neuen Freiheiten machte und den entscheidenden Treffer zum zwischenzeitlichen 3:1 erzielte. Schweinsteiger hat auf der rechten Seite vermutlich sein bestes Spiel auf dieser Position gemacht – ähnlich überraschend wie die veränderte Taktik, denn der Bayern-Spieler war in der Nationalelf wie im Verein eigentlich links immer stärker. Das Trainerteam Löw/Flick hat Portugal richtig ausgeguckt, hinzu kam eine große Leistungssteigerung in Punkto Disziplin und Laufbereitschaft, die die DFB-Elf sogar den Nachteil der kurzen Pause vergessen ließ. Deutschland ist wieder zurück – als Turniermannschaft.“

Willensleistung

Jan Christian Müller (FR) hält die Autokorsos diesmal für angebracht: „In den Straßen der großen Städte ist inzwischen wieder der Anflug jenes Ausnahmezustands zu erleben, der den Sommer 2006 zu einem unvergesslichen gemacht hat. Aber, das sei an dieser Stelle nicht unterschlagen: Auch 2002, als sich die deutsche Mannschaft mit drei nüchternen 1:0-Siegen über Paraguay, die USA und Südkorea ins WM-Finale schlich, feierten die Menschen das Team, als wäre es überirdisch. Der Eventcharakter, den Fußballs hierzulande inzwischen verströmt, hat Qualitätsansprüche ersetzt, auch wenn das deutsche Team nicht nur sein bestes Spiel sondern auch nach absoluten Maßstäben sehr gute Qualität gegen die starken Portugiesen lieferte. Fest steht aber, dass Löw ein Team zusammengestellt hat, das auch in der Krise, in der ersten ernsthaften gemeinsamen Krise, zu einer echten Willensleistung fähig ist. Dass der Trainer wegen eines Bagatelldelikts von der herrschsüchtigen Uefa auf die Tribüne verbannt wurde, mag am Ende sogar dazu beigetragen haben, dass die Deutschen zusätzliche Kräfte frei gemacht haben. Und ihrem alten Ruf gerecht wurde: eine echte Turniermannschaft zu sein.“

Naiv

Claudio Catuogno (SZ) entdeckt Nachlässigkeiten in Portugals Abwehr: „Selten hat ein Team erst so viel Hoffnung geweckt – und ist dann so naiv am defensiven Schlendrian gescheitert. Bosingwa und Pepe etwa hätten sich ein bisschen konsequenter in den Lauf von Lukas Podolski stellen sollen, sie verzichteten darauf – und bestaunten bloß dessen scharfe Hereingabe und Schweinsteigers 1:0. Miroslav Klose ließen gleich drei so genannte Defensive in ihrem Rücken zum Kopfball aufsteigen – 2:0. Aus Kloses Kopfballtor hatten sie wenig gelernt, sonst hätten sie Michael Ballack nicht die genaue Kopie dieses Treffers gestattet. So naiv hatte sich bisher noch kein deutscher Gegner aufgestellt.“

Lehmann auf dem Weg zur alten Sicherheit

In der FR lesen wir: „Bastian Schweinsteiger: Spielt liebend gern gegen den portugiesischen Torhüter Ricardo. Gegen ihn schießt er immer Tore. Aktivposten, agil, viel unterwegs, gefährlich – und das auf der rechten Seite. Bester Deutscher. Michael Ballack: immer da, wo was los war. So muss ein Kapitän sein. Musste viel rackern und kämpfen. Setzte Podolski vor dessen Flankenlauf zum 1:0 prima ein. Sehr beherzter Auftritt. Und dann war er zu Stelle, als es wirklich eng wurde: Sein Kopfball-Tor zum 3:1 war eminent wichtig. Jens Lehmann: hat sich offenbar gefangen. Hielt, was es zu halten gab, das war einiges. Wirkte sicher und souverän. Parierte vor dem 1:2 klasse gegen Ronaldo, machtlos beim Gegentor. Guter Rückhalt der nicht immer sicheren deutschen Abwehr. Simon Rolfes: couragierte Partie, immerhin seine erster Einsatz in diesem Turnier. Sollte Frings vertreten, was ihm gut gelang. Stopfte viele Löcher, spulte viele, viele Kilometer ab. Agierte so, als hätte er immer im Team gestanden. lm Spiel nach vorne Defizite. Christoph Metzelder: Was soll man da noch sagen? Zweikämpfe sind nicht seine Sache. Allenfalls lässt er sich anschießen.“

Die SZ schreibt: „Jens Lehmann: scheint auf dem Weg zur alten Sicherheit. Griff einige Male beherzt zu, kennt sich auch innerhalb seines Strafraums wieder besser aus. Philipp Lahm: der ideale Mann für dieses Spielsystem sowie alle anderen Spielsysteme auf der Welt. Geschickter Pressingspieler, der gerne eine Fußspitze vor dem Gegenspieler an den Ball kommt, wobei diese Fußspitze den Ball meist auch konstruktiv weiterleitet. Zog häufig empörte portugiesische Blicke auf sich und Beschwerden wegen Balldiebstahls. Vom Schiedsrichter immer freigesprochen.“

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