Deutsche Elf
Die Mannschaft und ihr Trainer haben ihre Möglichkeiten erweitert
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| Samstag, 28. Juni 2008Vor dem Spiel gegen Spanien: Den Finaleinzug wertet die Presse als großen Erfolg Joachim Löws und seiner Spieler, auch wenn deren Leistungen durchwachsen sind / Leichte Außenseiterrolle / Bayern profitiert von der Nationalmannschaft – nicht umgekehrt
Michael Horeni (FAZ) betont vor dem Finale im Leitartikel auf Seite 1 die schwierige Ausgangslage, die Joachim Löw und Jürgen Klinsmann vor vier Jahren vorgefunden haben: „Dass es die Mannschaft wieder einmal bis zum großen Ziel geschafft hat, wird jenseits der Grenzen als kontinuierliche Erfolgsgeschichte des deutschen Fußballs wahrgenommen. Deutschland im Finale – das ist ein Fußball-Naturgesetz. Die deutsche Innensicht auf den Fußball ist eine andere. Sie ist weniger selbstsicher, und sie kreist seit vier Jahren im Kern um die Frage, welche Antwort der deutsche Fußball auf die Globalisierung findet. Jürgen Klinsmann startete nach der letzten missglückten Europameisterschaft 2004 ein packendes Reformprojekt, das Deutschland ein Sommermärchen und ungeahnte Aufbruchstimmung bescherte. Sein Helfer Löw führte als Bundestrainer die Arbeit auf seine Weise fort. Dies ist unter anderem deshalb so bemerkenswert, weil ihr in weiten Teilen die Grundlage fehlt. Der Nationalmannschaft ist es zwar beim zweiten Turnier nacheinander gelungen, beste Ergebnisse zu erzielen. Für die deutschen Vereine im Europapokal heißt es dagegen schon seit Jahren spätestens im Viertelfinale: Endstation. So gibt es in Deutschland nun schon im vierten Jahr einen Fußball der zwei Geschwindigkeiten: den der erfolgreichen, reformorientierten Nationalmannschaft und den der international abgehängten und sich selbst genügenden Bundesliga. Die Champions League ist der Spielplatz des globalisierten Klubfußballs. Die Deutschen sind dort nicht zu Hause.“
Über den Verdienst Löws und dessen Lernfortschritte während der EM schreibt er anerkennend: „Da der Bundestrainer nicht wie ein Klub-Manager einkaufen kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Mannschaft mit anderen Methoden zu stärken. Löw setzt wie schon sein Vorgänger auf systematische Arbeit, auf Taktik, auf Schnelligkeit, auf Psychologie, auf Fitnessfachleute. Das alles ist nicht neu, wohl aber die Konsequenz, mit der es betrieben wird. Der Bundestrainer verbindet mit der Fußball-Ingenieurskunst den Anspruch, den Zufall im Fußball zu minimieren und die Spieler zu optimieren, um am Ende anspruchsvollen, modernen und konkurrenzfähigen Fußball zu produzieren. Löw hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er damit auch stilbildend im deutschen Fußball wirken will. Die Mannschaft und ihr Trainer haben sich bei diesem Turnier verändert. Die Paradoxien, die in der Nationalelf seitdem Platz gefunden haben, erweitern ihre Möglichkeiten: Planungsstärke und Spontaneität, taktisches Kalkül und Emotion – und nicht zuletzt Mut. Eine Garantie für den Sieg ist das nicht. Aber ein schöner Gewinn.“
Klaus Hoeltzenbein (SZ) sieht die Mannschaft in einer Übergangsphase: „Bei den Deutschen mag das komisch klingen, aber sie folgen einer Linie: Ihre physische Präsenz hat es ihnen sogar erlaubt, gegen die Türkei auf dem Platz ungewollt ein Chaos anzurichten, aus dem nur sie selbst einen Ausweg fanden. Das Spiel war grottig, aber die Tore waren klar, geradlinig und deshalb schön anzusehen: Selbst das 2:1, begünstigt durch einen Torwartfehler, hatte durch den hohen Luftstand des Kopfballspielers Klose eine besondere athletische Note. Dieser Kontrast – schlechtes Spiel, schöne Tore – macht diese deutsche Elf so gefährlich. Sie hat noch keine neue Identität, sie hat sich noch nicht komplett herausgeschält aus der bitteren Ära des Rumpelfußballs. Aber sie hat aus der Euphorie der WM 2006 heraus eine Haltung entwickelt. Einerseits beruft sie sich auf die deutschen Tugenden, andererseits ist sie nicht uneitel, sie will auch etwas bieten, sie will der Welt gefallen. Siege sollen auch, aber nicht nur ihren Nutzwert haben. In diesem Bemühen kommt sie bisweilen durcheinander. Dann rettet sie wie aus dem Nichts eine messerscharfe Kombination (Podolski auf Schweinsteiger), ein zentimetergenauer Doppelpass (Hitzlsperger auf Lahm), oder Ballack per Freistoß und Kopfball. Soll man ihr das vorwerfen? Mitnichten. Die Deutschen boten Lösungen an, andere hatten nur ein Konzept.“
Stefan Osterhaus (Neue Zürcher Zeitung) wägt die Chancen gegen Spanien: „Vielleicht setzt Löw auch darauf, dass die Lektion, die die Türken den Deutschen in Sachen Kurzpassspiel während einer Halbzeit im Semifinal erteilten, eine heilsame Wirkung auf seinen Mittelfeldverbund ausübt. Dass die Umstellung in der zweiten Halbzeit gelang und kaum noch Chancen der zuvor so agilen Türken zugelassen wurden, dürfte insgeheim zuversichtlicher stimmen als ein müheloser Sieg über die personell schwer angeschlagene Mannschaft. Löws Equipe hat die Fähigkeit bewiesen, Probleme während eines Matches auch spielerisch zu lösen. Das große Plus dieses Teams liegt vorderhand in der Effizienz, in der Verwertung gar nicht einmal so großer Möglichkeiten, worin die Deutschen den Spaniern mindestens ebenbürtig sind.“
Umkehrung: Kapitaloptimierung durch die Nationalelf
Christof Kneer (SZ) ruft den Verantwortlichen Bayern Münchens entgegen: „Der torgefährliche Außenflitzer Schweinsteiger hat nichts gemein mit jenem verhinderten Künstler, der beim FC Bayern immer zum falschen Zeitpunkt die falschen Kringel dreht. Der torgefährliche Außenflitzer Podolski hat nichts gemein mit jenem verhinderten Draufgänger, der beim FC Bayern meist auf der Bank herumsitzt und sonst als zentraler Stürmer genau das nicht kann, was Luca Toni kann. Und Miroslav Klose ist bei dieser EM zwar noch nicht der Klose, der er schon mal war – aber er ist definitiv auch nicht jener Klose, der sich bei Bayern hinter dem Rücken von Toni wegduckt. Auch Philipp Lahm, der als weitgehend krisenresistent gilt, spielt wieder auf einem Niveau, das für die internationale Spitze taugt und nicht vergleichbar ist mit dem Niveau jenes Philipp Lahm, der sich unauffällig durch die Bundesliga-Saison gehangelt hat. Es gehört in Deutschland zur Turnierfolklore, dass die DFB-Elf immer nur dann gut sein kann, wenn auch der FC Bayern gut ist. Die WM-Siegerelf von 1974 war um sechs Bayern-Profis herum erbaut (Maier, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner, Hoeneß, Müller), und auch 1990 zählten sechs Münchner zum Kader (u.a. Augenthaler, Kohler, Reuter), plus die bayernsozialisierten Matthäus und Brehme. In München leben sie gerne und gut mit dem Selbstverständnis, viel für den deutschen Fußball getan zu haben – nun aber, da die EM 2008 ihr Finale erreicht, lässt sich bilanzieren, dass dieses Turnier die Verhältnisse erstmals umdreht. Es sind die Bayern, die dank dieses Turniers eine unglaubliche Kapitaloptimierung erfahren haben – die DFB-Turniertore wurden fast nur von Bayern-Profis erzielt (Podolski 3, Schweinsteiger/Klose je 2, Lahm 1, sowie der bayernsozialisierte Ballack 2), aber diesmal wird eben niemand behaupten können, dass die Bayern-Spieler das Mir-san-mir einfach ins Nationalteam hinübergerettet hätten. Das Gegenteil ist der Fall – im Nationalteam finden die Münchner Sorgenkinder jene Identität und jenen Schwung, den sie für ihr Spiel brauchen.“
FAZ-Portrait Löw
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