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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Viel besser, als man erwarten durfte

Oliver Fritsch | Montag, 13. Oktober 2008 Kommentare deaktiviert für Viel besser, als man erwarten durfte

Die Presse ist gepackt von dem Spiel Deutschland gegen Russland (2:1), von den Deutschen vor der Pause, von den Russen danach / Kevin Kuranyi wird Fahnenflucht vorgeworfen, Torhüter René Adler ist der neue Held

In der Spielanalyse sind sich die Redaktionen einig, dass es eine spannende Partie zweier sehr gut aufgelegter Teams war mit einem Rollentausch nach der Pause: In der ersten Halbzeit gaben die Deutschen den Russen den Tarif bekannt, in der zweiten war es umgekehrt. Die euphorischen Kommentare in den heutigen Sportteilen zeugen von Erleichterung; nach der durchwachsenen Leistung der deutschen Elf während der Europameisterschaft waren die Ansprüche zwischenzeitlich gesunken. Auch die Russen erhalten große Anerkennung von der deutschen Presse.

Jan Christian Müller (FR) erlebt eine klare Steigerung im Vergleich zum Juni 2008: „Es war ein großes Spiel gegen nimmermüde Russen, ein Spiel auf allerhöchstem Tempo, mit verblüffender Präzision im Passspiel, voller rassiger Zweikämpfe mit einem ebenso hauchzart verdienten wie glücklichen deutschen Sieg. Kein einziger deutscher Spieler fiel deutlich ab. Deutschland spielte so stark wie zuletzt im März 2007 beim 2:1 in Tschechien.“

Christof Kneer (SZ) schildert Kontraste: „In der ersten Hälfte traf ein wuchtiges, präzises Deutschland auf körperlose, mäßig interessierte Russen; in der zweiten Hälfte lief ein verhuschtes, unpräzises Deutschland auf und staunte nicht schlecht, als ihm ein fintenreiches, druckvolles Russland gegenüberstand.“ Peter Heß (FAZ) pflichtet ihm bei: „Löws Mannschaft übertraf in den ersten 45 Minuten alle Hoffnungen, in den zweiten 45 Minuten musste sie zittern wie befürchtet. Die Leistung war viel besser, als man erwarten durfte. Die Begegnung taugt als gesunde Basis für eine gelungene WM-Qualifikation.“

Michael Horeni (FAZ) umarmt alle echten Mitglieder und Anhänger der DFB-Auswahl: „Es war ein einziger Genuss, die Mannschaft in der ersten Halbzeit zu erleben, und es gab im Stadion und auch vermutlich vor dem Fernseher keinen einzigen deutschen Fan, der nicht seine helle Freude an diesem mitreißenden Auftritt gehabt hätte.“ Damit spielt Horeni natürlich auf den „Heimschläfer“ (FR) Kevin Kuranyi an, der sich vernachlässigt fühlt und sich während des Spiels aus dem Staub machte – bezeichnenderweise bei einer 2:0-Führung für seine Mannschaftskameraden.

Keinen Zweifel lassen die Redaktionen daran, wie der Fall zu bewerten ist. Ralf Köttker (Welt) bezichtigt ihn der Fahnenflucht: „Wie ein beleidigter Junge schlich er sich aus dem Stadion. Kein Abschied, keine Erklärung, kein Stil. So darf sich ein deutscher Fußball-Nationalspieler nicht verhalten, egal wie enttäuscht er über seine sportliche Situation ist. Was Kuranyi gemacht hat, ist nicht zu entschuldigen. Es ist im besten Fall menschlich zu erklären.“

Pseudostar

Frank Hellmann (FR), der im DSF-Stammtisch am Sonntag von Kuranyis Berater Roger Wittmann herablassend angegangen worden ist, rächt sich mit schlechten Kopfnoten: „Der in diesem Fall sehr unprofessionelle Profi hat mit seinem Abgang durchs Hintertor Nachsicht verspielt. Kuranyi bedient vielmehr den Prototyp jener Minderzahl entrückter Pseudostars, mit deren Realitätsbezug es nicht zum Besten bestellt ist. Sein Verhalten zeugt von einer geradezu grotesken Selbstüberschätzung und Respektlosigkeit gegenüber dem DFB-Trainerstab und auch den Teamkollegen.“

Ich habe gelernt, nie aufzugeben

Daniel Theweleit (Financial Times Deutschland) versucht sich als Kuranyi-Versteher: „Wahrscheinlich war es eine fatale Mischung aus Gefühlen und Ahnungen, die Kuranyi ergriff und die die Konsequenzen in den Hintergrund drängte. Die Mannschaft bestätigte in der ersten Halbzeit Löws Einschätzung, dass Kuranyi nicht besonders dringend benötigt wird, er wird schon in der Woche gespürt haben, dass Lukas Podolski, Miro Klose, Patrick Helmes und Mario Gomez derzeit einfach die besseren Stürmer sind. Und in Leistungsgemeinschaften fühlt man sich bekanntlich schnell isoliert, wenn man das Gefühl hat, dass man nicht gebraucht wird. Es war absehbar, dass Kuranyi auch mittelfristig kein Stammspieler mehr in der Nationalmannschaft geworden wäre.“

Die SZ will mit dem „nicht-üblen Kerl“ nicht zu hart in Gericht gehen, die FAZ blickt auf die bisherige Karriere des „umstrittensten Stürmer in Fußball-Deutschland“ zurück und konfrontiert ihn mit seinen Worten: „Ich habe gelernt, nie aufzugeben und immer an mich zu glauben.“

Neue Sicherheitsinstitution

Von 0 auf 1 ist Torhüter René Adler eingestiegen, dessen Händen die Experten nun, am liebsten auf Jahre hinaus, vertrauen. Kneer erkennt in ihm den Helden, auf den die Fußballnation gewartet hat: „Adler ist ein kolossal begabter Torwart, der die Geschmeidigkeit der neuen Generation mit der Robustheit der alten Garde mischt, aber darüber hinaus strahlt er offenbar etwas aus, wofür dieses Torwartland besonders empfänglich ist: Es herrscht eine große Sehnsucht nach diesem jungen Siegfried, den auch Menschen hochleben lassen, die nie ein Spiel von ihm gesehen haben.“ Heß fühlt sich geborgen in Anwesenheit der „Sicherheitsinstitution“ Adler: „Kein Zaudern, kein Zögern, kein Nachfassen, kein unkontrollierter Abschlag oder Abwurf ließen irgendwelche Zweifel an Adlers Souveränität aufkommen.“

Lob dürfen sich auch Piotr Trochowski und Michael Ballack für ihre Leistung abholen, selbstverständlich auch Lukas Podolski. Und Müller gereicht seinem Status als feiner Beobachter zur Ehre, indem er die spektakulärste Szene des Spiels protokolliert: „Für den Höhepunkt der hingebungsvollen Defensivarbeit sorgte Philipp Lahm eine Minute vor der Pause, als er den kaum in seinem Tatendrang zu stoppenden Andrej Arschawin mit einer atemberaubenden Grätsche in der Nähe der Mittellinie vom Ball trennte.“

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