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Ball und Buchstabe

Es war kein Debakel, es war eine Demontage

Oliver Fritsch | Donnerstag, 12. März 2009 Kommentare deaktiviert für Es war kein Debakel, es war eine Demontage

Real Madrid wird von Liverpool verhauen und muss erkennen, einem englischen Klub auch in der Spielkultur weit unterlegen zu sein / Chelsea mit Essien wiedererstarkt / Die neue Bescheidenheit der Juve-Fans / Bayern-Schizophrenie: makellose Champions League, strukturlose Bundesliga // David Jarolim, fleißig und unfair

Nach dem 0:4 in Liverpool rät Raphael Honigstein (taz) Real Madrid zur Besinnung und Therapie: „Ein Spitzenklub ist nach so einem schweren, kurzen Schock gezwungen, lange in den Spiegel zu schauen. Madrid, das auf Grund der Setzliste Jahr für Jahr wenigstens die erste K.-o.-Runde erreicht, scheint weder zu wissen, wie es in diesen Sumpf des Durchschnitts geraten ist, noch, wie man da wieder herauskommen könnte. Es ist schrecklich modern geworden, von Vereinen eine Identität zu fordern. Real, laut Fifa der ‚beste Klub des 20. Jahrhunderts‘, braucht neben Demut, handwerklicher Sorgfalt und einem Hauch von Kontinuität vor allem: weniger Anspruch.“

Einen immenses sportliches Soll Reals bilanziert Markus Lotter (Berliner Zeitung): „Liverpool, ein extrem dehnbares Netz, das sich zu allen Spielfeldseiten hin in hohem Tempo ändern kann, war mit spanischem Trainer und spanischem Grundgerüst das bessere Madrid. Wenigstens hat das reale Madrid nun die Gewissheit, dass man wie so viele südeuropäische Großklubs schleunigst Spiel- und Klubphilosophie modifizieren muss, um künftig gegen die englischen Spitzenklubs bestehen zu können.“

Die Drittbesten Englands, die Besten Europas

Auch Christian Eichler (FAZ) stellt große Madrider Versäumnisse fest: „Es war keine Niederlage, es war kein Debakel, es war eine Demontage – die einer Institution des europäischen Fußballs. Der berühmteste Klub der Welt hat kein Konzept für die Zeit nach den ‚Galacticos‘ gefunden. Seit Zidanes Siegtor im Finale gegen Leverkusen 2002 ist der Zug im europäischen Top-Fußball links und rechts vorbeigerauscht.“

Pointiert bringt er die Zweigesichtigkeit Liverpools aufs Papier: „Das Paradox von Benitez und Liverpool lautet: Sie sind die drittbeste Mannschaft Englands und die beste Europas.“ Bitte, wie immer bei Eichler, den Text ganz lesen.

Bison zurück in der Herde

Boris Herrmann (Berliner Zeitung) macht das Wiedererstarken Chelseas an der Rückkehr des lange verletzten Michael Essien fest: „Es ist nicht so, dass die Blues nach seiner Rückkehr automatisch so auftreten würden, als hätten sie wieder fünf Mann mehr auf dem Rasen. Chelsea hat keine Angst verbreitet in Europa. Es wurde aber deutlich, dass dieses Team nun wieder widerstandsfähig und zäh ist, seine Energie zielgerichtet ausschüttet und kühl und leidenschaftslos zuschlägt. Noch vor einigen Wochen spielte Chelsea wie eine Herde eingeschüchterter Wollschafe, jetzt hat die Mannschaft wieder einen Bison.“

Einen lieben Gruß sendet Herrmann an einen Deutschen: „Ballack durfte sich auf das konzentrieren, was er am besten kann: Dreimeterpässe.“

Birgit Schönau (SZ) empfindet die neue Genügsamkeit des Turiner Zuschauer als wohltuend: „Es gab etwas ganz Neues für eine Mannschaft, die früher zum Siegen verdammt war und es dann bekanntlich mit dem Siegen-Müssen um jeden Preis so übertrieb, dass sie zur Strafe in die Zweite Liga geschickt wurde. Diesmal schied Juventus Turin im Achtelfinale mit einer achtbaren Leistung aus, hatte eine gute Figur gemacht und den Sieg anderen überlassen. Und das Publikum – applaudierte.“

Schizophrene Saison

Andreas Burkert (SZ) geht von einer Persönlichkeitsspaltung bei den Bayern aus: „Das Duell mit Sporting bildete den vorläufigen Höhepunkt einer schizophrenen Saison. In der Liga ringt die Mannschaft weiterhin um Souveränität und Struktur – in Europa gelingt eine makellose Bilanz: sechs Siege, zwei Remis, 24:5 Tore.“

Elisabeth Schlammerl (FAZ) will die Daily Soap „Muss Klinsmann gehen, wann muss Klinsmann gehen, ist Klinsmann schon gegangen?“ vom Programm nehmen: „Klinsmann hat sich in drei Tagen nicht nur Luft verschafft, sondern seine Position zumindest bis zum Saisonende gesichert. Es fehlen allerdings noch ein paar Nachweise, dass die Wende tatsächlich geschafft ist, denn Lissabon war ebenso wenig wie Hannover ein echter Gradmesser. Angesichts des Achtelfinalauftritts der Portugiesen muss man sich wundern, wie sie sich so souverän fürs Achtelfinale qualifizieren konnten.“


Einer der unfairsten Profis

Ein David-Jarolim-Portrait mit Schwarz und Weiß verdanken wir Rainer Schäfer (Berliner Zeitung), der dessen Fleiß lobt: „Jarolim ist ein Sportler, wie sie selten geworden sind. Er hat keinen Beruf erlernt, er ordnet Fußball alles unter. Freie Tage verderben ihm die Laune. Jarolim ist einer wie Emil Zatopek, die Lokomotive, immer unter Dampf, immer bereit, den nächsten Kilometer abzureißen und sich bis zur Erschöpfung zu verausgaben. Ein richtiger Spielführer ist aus ihm geworden, auch wenn er manchem als der unauffälligste Kapitän der Liga gilt.“

Und dessen Raffinesse milde tadelt: „Jarolim ist ein begnadeter Fußballer, mit einem Makel: einem ausgeprägten Image-Schaden, beinahe irreparabel. Jarolim gilt vielen als einer der unfairsten Profis der Liga, der gerne mal hinlangt und provoziert, aber bei der leichtesten Berührung fällt. Tatsache ist, dass Jarolim kaum vom Ball zu trennen ist. Wenn man es trotzdem versucht, stürzt er, als ob er ohne Ball nicht stehen könne. Nennen wir es, im Zweifel für den Angeklagten, der nur 68 Kilo leicht und 172 Zentimeter groß ist: Reflex.“

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