Ball und Buchstabe
Falsches Jubiläum eines 0:9
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| Montag, 16. März 2009Udo Muras korrigiert die deutsche Länderspielgeschichte um drei Tage
Immer wenn die deutsche Nationalmannschaft ein Debakel erlebt, wird an den März-Tag 1909 von Oxford und das 0:9 gegen England erinnert. Weil das die Antwort auf die Frage, wann sie eigentlich ihre höchste Niederlage erlitten hat. Heute hat sich das 0:9 zum 100. Mal gejährt, allein niemand scheint es gewusst zu haben. In den wichtigsten Nachschlagewerken, auf die Fachleute und Fans zurückgreifen können, ist einhellig der 16. März 1909, ein Dienstag, vermerkt. So steht es seit Jahrzehnten schon im Kicker-Almanach, so steht es in Ludger Schulzes Länderspiel-Chronik „Die Mannschaft“ und so steht es auch bei Gerd Krämers Sachbuch „Im Dress der elf Besten“ von 1962.
Auch der DFB hat das falsche Datum sowohl auf seiner Internet-Seite als auch in seiner offiziellen Chronik „100 Jahre Leidenschaft“, die 2008 erschien, übernommen. Wer es in die Welt gesetzt hat, ist schwerlich zu verifizieren, schon im Kicker-Sonderband „Tor für Deutschland“ von 1941 ist er enthalten. Sporthistoriker hätten misstrauisch werden können, weil dienstags doch eher selten gespielt wurde. Doch Zeitungsberichte vom Sonntag, den 14. März 1909, widerlegen den falschen Fakt eindeutig. So schrieb die BZ am Mittag: „Während im Vorjahre in Berlin die Engländer mit 5:1 gewannen, blieben sie am Sonnabend in Oxford mit 9:0 siegreich.“ Auch andere Zeitungen berichteten an diesem Sonntag vom deutschen Debakel, wenngleich eher dürftig: So vergaß die Vossische Zeitung am 14. März doch tatsächlich das Ergebnis, wofür sie sich am 15. März bei ihren Lesern entschuldigte. Auch mit der Mannschaft ging sie schonend um: „Wie nachträglich bekannt wurde, zeigten die Deutschen trotz dieses ungünstigen Ergebnisses ein recht gutes Spiel.“ Der Berliner Lokal-Anzeiger veröffentlichte am 15. März 1909 sogar ein „Privat-Telegramm“, denn Reporter wurden noch nicht mitgeschickt auf jede Reise der deutschen Nationalmannschaft.
Die musste damals noch das Schiff nehmen und die Spieler wurden angeblich alle seekrank zwischen Calais und Dover. Einige Kicker weigerten sich mit Rücksicht auf ihren Magen nach der Ankunft in ihrem Hotel in London, den Aufzug zu nehmen. „Unsere Seekrankheit wirkte so lange nach, dass ich es nicht ertragen konnte, in unserem vornehmen Londoner First-Avenue-Hotel in der Oxford Street den Aufzug zu nehmen“, berichtete der Freiburger Spieler Dr. Josef Glaser später.
Auch auf dem Platz will er noch unter den Nachwirkungen der stürmischen Überfahrt gelitten haben, „manchmal glaubte ich, der Rasen schwebe schwindelerregend auf und ab wie das Deck des stampfenden Schiffes.“ So standen sie auf völlig verlorenem Posten gegen die englische Amateur-Auswahl, ein Lattenschuss von Adolf Jäger war die einzige Ausbeute. Nur Torwart Adolf „Adsch“ Werner aus Kiel machte ein großes Spiel und wurde anschließend mit dem Ball beschenkt und von den rund 6000 Zuschauern vom Platz getragen. Solche Anekdoten bleiben den Lesern anno 1909 verborgen.
Die Berichterstattung und der Datumsfehler passen zum Wissensstand um dieses wohl unerforschteste deutsche A-Länderspiel. So fehlen sämtliche Minutenangaben zu den neun Toren auf der DFB-Homepage, in der Chronik von 2008 sind immerhin vier Treffer mit Minuten versehen. Sicher ist: zur Pause hieß es 5:0. Der Fußballsport steckte noch in den Kinderschuhen in Deutschland, es war erst das vierte DFB-Länderspiel. Kein Vergleich zur Situation im Mutterland des Fußballs. Neidisch erzählte Nationalspieler Dr. Josef Glaser Jahrzehnte später: „Am meisten überrascht hat uns die Schnelligkeit der englischen Sportpresse. Kaum sammelten wir uns draußen vor unseren Kabinen, da brachte man uns schon Zeitungen mit dem Spielbericht.“ Ein Extrablatt wird der DFB diese Woche wohl nicht verteilen, doch wenigstens klammheimlich sollte er seine Geschichte umschreiben.