indirekter freistoss

Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Champions League

Berserker in Badeschlappen

Frank Baade | Freitag, 8. Mai 2009 10 Kommentare

Barcelona lässt Ballacks Griff nach einem großen Titel zum x-ten Male scheitern, der Schiedsrichter des Halbfinals ist überfordert

Raphael Honigstein (Tagesspiegel) erinnert daran, dass Fußball kein Spiel der Konjunktive sei, nachdem er betont hat, dass nicht der Schiedsrichter das Weiterkommen vergeben habe: „Didier Drogba rannte auf den Mann zu, den er als Schuldigen ausgemacht hatte. Wie ein Berserker in Badeschlappen attackierte der zuvor ausgewechselte Drogba Schiedsrichter Tom Henning Övrebö. (…) Die geballte Diskussion um den Norweger ließ Ballack nicht vergessen, dass Chelsea gegen die knapp 30 Minuten in Unterzahl spielenden Katalanen gar nicht erst in die Verlegenheit hätte kommen müssen, auf den Schiedsrichter zu vertrauen. Bereits in der ersten Hälfte, als Chelsea die Ballzirkulation der Gäste mit brutalem Positionsspiel gekonnt unterband, hätten die Hausherren die Partie entscheiden können. Dabei war Barça trotz wahnwitzigen Ballbesitzprozentzahlen und dem unerschütterlichen Glauben an die Spielphilosophie nicht einen Zentimeter hinter die Abwehr der Engländer gekommen. Wenn Michael Essien, nicht im entscheidenden Moment am Ball vorbei schlägt, wenn Ballack etwas näher an Iniesta steht, wenn der alte Hase Hiddink nicht vergisst, dass man in der Schlussphase wechseln sollte – dann müsste man an dieser Stelle über Barcelonas naiv-inflexible Strategie und körperliche Unterlegenheit diskutieren.“

Als unfähig, mit dem hohen Tempo der Spiele auf diesem Niveau Schritt zu halten, erachtet Christian Eichler (FAZ) den norwegischen Schiedsrichter Övrebö und verweist auf einen Faktor, der sonst häufig zum großen Erfolg der Champions League beiträgt: die guten Leistungen der Schiedsrichter, darunter Deutsche wie Merk und Fandel. Auch wenn er wie die Chelsea-Spieler selbst eine Verschwörung für unrealistisch hält, mahnt er den Uefa-Chef Michel Platini zu mehr Neutralität. Dieser hatte beim Hinspiel die Hymne Barcelonas mitgesungen, außerdem sei bekannt, dass er kein Freund der englischen Premier League sei. Eichler sieht in Barcelona den richtigen Sieger, wenn auch auf die falsche Art. Die Spielweise Barcelonas sei ein guter Impuls zur rechten Zeit, da so die kreativen unter den Fußballteams gestärkt würden. Mit Blick auf die sich stetig abwechselnden Phasen offensiver und defensiver Herangehensweise an das Spiel hebt er heraus, dass der „offensive Fußball sich stets neu erfinden“ müsse. Das Glück, das dem FC Barcelona zur Seite gestanden habe, müsse sich das Team dennoch nun im Finale verdienen.

Kühlschränke auf zwei Beinen

In der Welt freut sich Udo Muras, wie er glaubt, mit Millionen anderen und sieht Außerirdische das Interesse an der Champions League retten: „Wohl selten zuvor haben so viele Menschen bei einem Treffer für einen Klub gejubelt, der nicht unbedingt der ihres Herzens ist. Der finale Schuss von Iniesta war ein Tor für das Gute im Fußball. Der FC Barcelona steht für Technik, Raffinesse, Inspiration und vollendete Ballkunst, er zelebriert dieses Spiel. Die Spieler tragen den Ball förmlich ins Tor nach einer Endlosstafette von Kombinationen, nicht nur gegen Christian Lell & Co. Diesen Feinschmeckerfußball will jeder sehen. Der FC Chelsea dagegen steht seit Jahren für Gefrierschrankfußball, 1:0-Siege, Athletik und für Geld, das der Klub nicht mehr hat und doch mit vollen Händen ausgibt. Die elf blauen Kühlschränke auf zwei Beinen haben Barcelonas Spielfreude fast bis zur Schockstarre eingefroren, was international bisher niemandem gelungen ist. Barcelonas Triumph rettet die Champions League, der nichts schlechter täte als Langeweile.“

Ästhetischer und mutiger

Für Michael Ballack schämt sich Paul Ingendaay in seinem Blog-Beitrag auf faz.net und kommt nicht umhin, an dessen notorische Erfolglosigkeit zu erinnern: „Ballack hat sich zum Affen gemacht hat, als er in der 96. Minute seinen Elfmeter nicht bekam und wie ein Besessener wild gestikulierend hinter dem Schiedsrichter hergerannt ist. Ein unschöner Anblick für uns Deutsche – und Ballacks längste, auffälligste Szene im ganzen Spiel. Jetzt mal ehrlich: Hätten Sie sich wirklich gewünscht, dass dieser Mann im Finale von Rom steht (das er dann sowieso verloren hätte)?“

Erleichtert ist Ingendaay nicht nur aus diesem Grund über den späten Sieg Barcelonas, der in Wahrheit ja ein Remis war: „Nicht nur der ästhetischere, auch der mutigere Fußball hat am Ende gewonnen, was ja nicht immer der Fall ist, denn Gerechtigkeit ist im sportlichen Wettkampf keine Kategorie. Man kann sie sich wünschen, aber dabei bleibt es dann auch. Hätte Holland 1974 im WM-Finale gegen Deutschland den Sieg verdient gehabt? Die Frage wollen wir lieber nicht zulassen. Für die Geschichtsbücher zählt nur, dass Gerd Müller das Siegtor erzielt hat. (…) Ich bleibe dabei: Es ist gut so, wie es gekommen ist, gut für uns alle, nur in London wissen sie es noch nicht.“

Fragile Gerechtigkeit

Gedanken über Gerechtigkeit im Fußball macht sich auch Peter Körte in seinem Blog-Beitrag für faz.net: „Was soll das überhaupt sein im Fußball? Gibt es das überhaupt – und wenn ja: Wo ist die Instanz, die darüber entschiede, und nach welchen Kriterien? Sind Unentschieden nicht der beste Beweis für eine ausgleichende Gerechtigkeit? Ist es nicht gerecht, wenn die bessere Mannschaft gewinnt – welche Chelsea war, weil die Blues taktisch diszipliniert waren und mit einer unglaublichen Laufbereitschaft die Barca-Techniker nicht bloß doppelten, sondern immer wieder mit drei, vier Spielern einkesselten. Wenn man jedoch das Hinspiel zum Maßstab oder aber die Frage nach dem schöneren, eleganteren, komplexeren Fußball zum Kriterium nimmt, hat das Fußballschicksal für Gerechtigkeit gesorgt, indem es Barca ins Finale beförderte, obwohl es ausgerechnet gestern diesen faszinierenden Fußball nicht spielte.“

Körte prophezeit dennoch einen Sieg des Finalgegners des FC Barcelona: „Weil Gerechtigkeit nun mal eine fragile Sache ist, wird man in drei Wochen in Rom vermutlich erleben, wie die derzeit kompletteste Mannschaft Europas ihre Lehren aus dem Spiel an der Stamford Bridge zieht und Barcelona den Cup wegnimmt, weil ManUtd im Gegensatz zu Chelsea nicht nur tief stehen, sondern auch in die Tiefe spielen kann.“

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Kommentare

10 Kommentare zu “Berserker in Badeschlappen”

  1. Oliver Fritsch
    Freitag, 8. Mai 2009 um 11:16

    Twitter hat mir einen anderen Eindruck vermittelt: Die meisten haben sich nicht über Barcas Ausgleich gefreut, sondern über den Schiedsrichter geärgert – und Chelseas Ausscheiden als Ungerechtigkeit empfunden.

    Ich werde Udo mal fragen.

  2. Fränck von Schleck
    Freitag, 8. Mai 2009 um 12:38

    Stimme R. Honigstein voll und ganz zu! Es steht einem Team vom Format des FC Chelsea nicht gut zu Gesicht, sich im Nachhinein so auf den Schiri einzuschießen. Wer in Minute 70 den einzigen Stürmer in Überzahl (!) aus dem Spiel nimmt und nur noch mauert, hat es dann eben unter Umständen auch nicht besser verdient. Und Drogba hat mit seiner Fallsucht zur Verunsicherung des Schiris schon früh beigetragen. Auf der Insel wird sowas normalerweise nicht geduldet…

  3. gses
    Freitag, 8. Mai 2009 um 12:59

    Dass die Twitterer sich über den späten Ausgleich geärgert haben, ist verständlich. Im gesamten Halbfinale war Chelsea eindeutig die bessere Mannschaft, daher wäre der Finaleinzug hochverdient gewesen.
    Die Aussage von einigen Journalisten:
    „Es ist gerecht dass Barcelona im Finale steht, weil sie normalerweise schöner spielen“ ist, mit Verlaub, Käse.

  4. probek
    Freitag, 8. Mai 2009 um 15:17

    Körte schreibt im Original übrigens „ManU“ und nicht „ManUtd“. Wird hier vermeindliche fußballpolitische Correctness schon in wörtliche Zitate eingepflegt?

    Ansonsten kann man angesichts des geballten Unsinns, der heute über das Spiel in der Presse zu lesen ist (DIE WELT: „Jeder Fußballfan freut sich, dass Barça das Endspiel erreichte“; SZ: Iniestas Tor ist ein „Akt von befreiender und übergeordneter Gerechtigkeit“ der einer „gerechten Sache zum Erfolg“ verhilft) froh darüber sein, dass – Internet sei Dank – sowas nicht mehr unkommentiert bleibt. Chelsea war, nach Hin- und Rückspiel, schlicht besser als Barça und hätte den Einzug ins Finale verdient gehabt. Das wäre gerecht gewesen, nicht das mehr als glückliche Weiterkommen Barcelonas dank einer unterirdischen Schiedsrichterleistung und der Abschlussschwäche Drogbas.

  5. Oliver Fritsch
    Freitag, 8. Mai 2009 um 16:54

    Jou, meine Entscheidung. #ManUtd

    - Ich achte auf eine einheitliche Schreibweise. Kann man im Einzelfall drüber diskutieren.

    - Wenn jemand Arsenal London schreibt, streiche ich das London.

    - Tippfehler übernehme ich auch nicht (die, die man hier findet, sind meine eigenen)

    Hier noch drei Tweets:

    http://twitter.com/RealityCheckKH/status/1720542568

    http://twitter.com/probek/status/1720321929

    http://twitter.com/freistoss/status/1720490545

  6. Sebastian
    Freitag, 8. Mai 2009 um 17:02

    Im Fußball über Gerechtigkeit zu schwadronieren ist, mit Verlaub, Unsinn. Die ganze Welt ist ungerecht, warum sollte es dann der Fußball sein? Das hätten die Herren von Welt/SZ und Co. gern so. Iniesta als verlängerter Arm des Allmächtigen. Naja.

    Fakt ist: Chelsea war taktisch reifer und hat m. E. auch den SCHÖNEREN Fußball gespielt. Aber was soll das überhaupt sein: schöner Fußball? Ich für meinen Teil empfinde es als „schön“, wenn Anelka im Herbst seiner Karriere doch noch mannschaftsdienlich spielt. Und ich finde es auch „schön“, wenn ein Ballack genau so ausrastet, wie ich es getan hätte, wenn der Schiri den 3.-4. Elfer verweigert.

    Gerechtigkeit und Schönheit? Subjektivität!
    (Die ich mir als dezidierter Nicht-Journalist auch erlauben darf…)

  7. Lena
    Freitag, 8. Mai 2009 um 17:39

    Ich habe mich für Barcelona gefreut. Weil die haben in dem Spiel doch wie die Underdogs gewirkt. So kleine wuselige Typen gegen echte stämmige und sauschnell kantige Kerle.

    Kommt eigentlich keinem in den Sinn, mal die super Zufälligkeit von Chelseas einzigem Tor anzusprechen? Wenn Essien das hundertmal probiert, klappt das doch nicht einmal. Kommt der so harscharf am Abwehrspieler vorbei und bringt seinen Fuß noch rechtzeitig an den Ball, um ihn schleuderschußartig unter die Latte zu knallen. Echt, da muss alles passen, auf den Millimeter.

    Dagegen hatte Iniesta fast freie Schussbahn. Ballack war wie gegen Italien in der „Nachspielzeit“ bei der WM da, aber leider nicht nah genug. Und warum er sich da klein macht und wegduckt, das muss mir mal einer erklären. Nimmt man da nicht einen für die Mannschaft? Später hat er ja dann doch noch mal richtig Air-Time der übertragenden Anstalten bekommen. Das war spektakulär.

    Von daher finde ich schon, dass Barcelona verdient zufällig weiter gekommen ist, gewonnen haben sie ja nicht.

    Richtig schlimm war die Leistungsverweigerung des Schiedsrichters. Wäre es Handball gewesen, müsste man nicht weiter reden. Hier bleibt nur die Frage, wieso zwei der weltbesten Mannschaften sich von so einer Pfeife… unverständlich. Und dann lese ich, dass der schon mal sehr negativ aufgefallen ist… fast ein Skandal.

  8. Charly
    Freitag, 8. Mai 2009 um 18:09

    Natürlich kann man über Gerechtigkeit im Fußball philosophieren. Dazu eignet sich besonders ein Spiel wie Chelsea-Barcelona, wo 2 Teams mit unterschiedlicher Spielauffassung aufeinander treffen.

    Wenn allerdings der Schiedrichter für Ungerechtigkeit sorgt, ist die Frage obsolet. Kein Mensch hätte über die vielen vergebenen Chancen von Chelsea gesprochen, wenn die berechtigten Elfmeter zum Erfolg geführt hätten.

    Mir gefiel der Ausraster von Ballack auch. Es war toll anzusehen, wie er bei dieser schreienden Ungerechtigkeit damit kämpfen musste, den Schiedrichter nicht tätlich anzugehen.

  9. Bercovich
    Freitag, 8. Mai 2009 um 19:20

    Ich bin immer wieder verblüfft über die Behauptung, Barcelona spiele „schön“, Chelsea dagegen „zynisch“, „hässlich“ etc.. Ich fand das gesamte Spiel über Chelseas Reife, Kontrolle, Intelligenz atmeberaubend und sehr schön. Es zeugt, finde ich, von einem Mangel an Verständnis für den Reichtum des Spiels Fußball, diese Spielweise nicht anerkennen zu wollen. Hinzu kommt – wann bitte war in Barcelonas Spiel in London die Schönheit zu sehen, von der so häufig klischeehaft die Rede ist? Kann ich eine Mannschaft für ihre Spielphilosophe loben, wenn sie sie nicht gegen jede Mannschaft durchsetzen kann?

    Eine Anmerkung noch zum Schiedsrichter und der Menge an Fehlentscheidungen. Ich denke nicht, dass man es sich so leicht machen kann zu sagen, Chelsea hätte sich halt nicht auf den Schiedsrichter verlassen sollen. Dazu waren es einfach zu viele höchst strittige Entscheidungen. Zumal die Menge an heißen Situationen im Strafraum doch zeigt, dass Chelsea es gerade nicht auf Glück ankommen ließ, sondern so viel Druck aufbaute, dass Barca sich nur mit hoch riskanten (da regelwidrigen oder sich am Rande des Erlaubten bewegenden) Mitteln helfen konnte.

  10. Sebastian
    Samstag, 9. Mai 2009 um 17:02

    Klar KANN man über Gerechtigkeit philosophieren. Aber ich frag mich schon, wie sinnvoll das ist und welche Parameter da gelten sollen. Ist es ungerecht, wenn ein Team verliert, dass 70% Ballanteil hat, sich ein deutliches Chancenplus herausspielt, aber unfähig ist, die Buden zu machen? Das vermag doch niemand zu beantworten. Ist es ungerecht, wenn ein Team gewinnt, dass den vermeintlich hässlicheren Fußball spielt?
    Mir fallen echt keine Kriterien ein, nach denen man das bewerten können soll. Außer geballte Fehlentscheidungen des Schiedsrichters. Aber da sind wir uns ja einig.

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