Bundesliga
Zielführende Wut
| Montag, 21. September 2009Uli Hoeneß würdigt ein Gewaltopfer, in Bochum erreichen hasserfüllte Zuschauer ihr Ziel, van Gaal kennt keine Lieblinge, Markus Babbel schlingert in Stuttgart in die Krise
Thomas Kilchenstein würdigt in der FR Hoeneß‘ Vorgehensweise vor der Partie gegen Nürnberg: „Hoeneß hat es nicht dabei belassen, den mutigen Mann, der auf einer S-Bahn-Station totgeschlagen wurde, lediglich mit einer Gedenkminute zu würdigen. Er hat ein paar Sätze gesagt. Sätze, die jeder hätte sagen können, nichts Weltbewegendes, eher Selbstverständlichkeiten. Aber dass da einer wie Uli Hoeneß zu diesem Thema das Wort ergriff, ist bemerkenswert. Man kann eine Menge Dinge über Hoeneß sagen: dass er polarisiert, abgezockt und ungerecht ist, attackieren kann wie kaum ein Zweiter. Man muss aber auch festhalten: Hoeneß hat sich seine soziale Ader bewahrt. Er mag einer Millionentruppe vorstehen und zu den oberen Zehntausend gehören, aber er hat nie den Kontakt zum normalen Leben verloren. Hoeneß hat sich ein feines Gespür dafür bewahrt, was richtig und was falsch ist. Es war der starke Auftritt eines Ehrenmanns.“
Im Interview bei Spiegel Online kündigt Uli Hoeneß gar an, Werbung in Münchner S- und U-Bahnen zu schalten, um das Thema wach zu halten. Wichtiger noch als die Abkehr von der Gewalt sei ihm, sich gemeinsam gegen das Wegsehen zu solidarisieren.
Ein Geschenk Gottes
Andreas Morbach lässt nach der Entlassung Marcel Kollers den Bochumer Gegner zu Wort kommen (Financial Times Deutschland): „Die Fans haben ihr Ziel erreicht – mit einer Reihe hasserfüllter Aktionen, die am Ende von einem fragwürdigen Erfolg gekrönt wurden. Jetzt ist also Schluss. Komplett sprachlos war dagegen Christian Heidel. Fassungslos reagierte der Mainzer Manager auf die überzogenen Ansprüche der VfL-Fans. Für den VfL Bochum sei die Bundesligazugehörigkeit „ein Geschenk Gottes“ und sprach dem Anhang in Bochum jeglichen Realitätssinn ab.“
Vom wiederkehrenden, besonderen Verhalten der Bochumer Fans berichtet auch Ulrich Hartmann in der SZ. Es sei seit Kollers Wirken in Bochum in jedem Herbst dassselbe gewesen: immer stünde der VfL unten in der Tabelle und die Zuschauer forderten Kollers Entlassung. Diesmal sei etwas aber ein wenig anders gewesen: „Richtig Sorgen bereitet Fanwut einem Vorstand immer erst dann, wenn finanzielle Konsequenzen drohen. Gerade mal 16.225 Zuschauer waren am Samstag im Stadion – so wenige Besucher waren bei einem Bundesligaspiel in Bochum seit acht Jahren nicht mehr. Und auch die zahlenden Zuschauer haben beim VfL zurzeit einen destruktiven Einfluss. Dass diese emotionale Zerstörungswut den Leistungen der Spieler schadet, nehmen die Fans billigend in Kauf.“
Tatsächliche Chancengleichheit bei van Gaal
Thomas Becker vergleicht zunächst im Tagesspiegel Riberys und Gomez‘ Wirken: „Ribery musste mal wieder draußen bleiben, er war nicht hundertprozentig fit – und damit ist man bei Trainer Louis van Gaal ein Fall für die Bank. Erst nach der Pause durfte er mittun – was der Bayern-Offensive half, den mal wieder ausgewechselten 30-Millionen-Stürmer Mario Gomez jedoch ins Grübeln bringen dürfte. Mit Ribérys Dribblings am linken Flügel wurde die Bayern-Offensive deutlich besser, und es dauerte nur zehn Minuten, bis sich das auch im Ergebnis niederschlug. Doch statt weiter Druck gegen die braven Nürnberger zu machen, begnügten sich die Bayern mit blutleerem Ballgeschiebe ohne Zug zum Tor.“
An anderer Stelle im Tagesspiegel fährt Thomas Becker mit einem Loblied auf van Gaal fort: „Beim mühsamen 2:1 gegen erstaunlich unwillige Nürnberger traten die Auswirkungen von van Gaals Perfektionssinns klar zu Tage: Sie entschieden das Spiel. Wie schon zuletzt bei Borussia Dortmund und Maccabi Haifa retteten die von vielen vor der Saison als zweite Garde Abgestempelten die Punkte: Daniel van Buyten, Thomas Müller und Ivica Olic. Wie viele Trainer vor ihm hatte van Gaal bei Amtsantritt Chancengleichheit angekündigt, egal ob Weltstar oder Nachwuchsspieler. Und siehe da: Es waren keine Lippenbekenntnisse. (…) Um aus seinen 26 Spielern immer die gerade elf Besten zu wählen, spart sich van Gaal sogar die Festlegung auf ein System. Auch das hatte er angekündigt, als er vor dieser Saison zu den Bayern nach München kam: Das System richtet sich nach dem vorhandenen Spielermaterial. Und wer nicht fit ist, spielt nicht. Das ist das Gerechtigkeits-Prinzip des Louis van Gaal: Es scheint immer besser zu funktionieren.“
Zickzack-Kurs in die Krise
Die taz mahnt einen selbstgefälligen Kader des VfB ab: „Es ist ein Problem in Stuttgart, dass viele Spieler zu früh zu satt sind. Wenn sie etwas erreicht haben, schalten sie einen Gang runter. Oder auch zwei. Auch Teamchef Babbel ist nicht mehr unumstritten. Seine Kritiker werfen ihm einen Zickzackkurs vor. Erst führte er das Rotationsprinzip ein, um es vor dem Spiel gegen Köln dann wieder für beendet zu erklären. Er brauche nun eine eingespielte Stammelf, hatte Babbel gesagt. Umso überraschender kam dann, dass Kapitän Thomas Hitzlsperger gegen Köln nicht einmal im Kader stand. Babbels Begründung war, dass Hitzlsperger runterkommen und den Kopf freibekommen solle. Das muss wohl auch Jens Lehmann noch tun, denn der Torhüter machte gegen Köln den größten der zahlreichen individuellen Fehler des VfB.“
Oliver Trust (Tagesspiegel) listet die Ursachen für den fehlenden Erfolg in Stuttgart: „Es ist einiges in Schieflage geraten bei dem Klub, der sich noch vor Wochen gerne zu den heimlichen Titelfavoriten zählen ließ. Jetzt spricht auch Heldt offiziell von Krise und davon, die Gründe dafür zu kennen. Dazu zählt die nicht vollzogene Integration der neuen Spieler wie Alexander Hleb und Zdravko Kuzmanovic sowie die Gräben, die im Kader entstanden, weil sich die bisherigen Stammkräfte zurückgesetzt fühlten, als Teamchef Markus Babbel die Rotation einführte. Jetzt wird in Stuttgart zwar nicht mehr rotiert, die Ergebnisse stimmen aber trotzdem nicht.“ Nun solle Yildiray Bastürk eine Lösung für die Probleme werden.
Stuttgarter Hin- und Herspieler
Stephan Klemm attestiert dem Kölner Trainer Soldo einen gesunden Verstand, aber auch Glück durch einen Zufall (FR): „Soldos Realitätssinn zeigt, dass er auf den nächsten Rückschlag, das nächste verlorene Spiel, schon vorbereitet ist. In Stuttgart kam Soldo womöglich ein vordergründiges Pech zu Hilfe: Der Ausfall von Milivoje Novakovic, dem gesetzten Mittelstürmer. Die Leistenverletzung des Slowenen zwang Soldo zu einer großen Umstellung, mit der Stuttgart letztlich nicht zurecht kam. Im Daimler-Stadion ließ er zwei Viererblöcke arbeiten, grätschen, Kopfballduelle gewinnen. Sehr defensiv orientiert und deshalb vor allem auch sehr sicher, weil die Defensive einen guten Tag erwischt hatte. Oder andersrum: Weil es der Defensive leicht gemacht wurde von Stuttgarter Hin- und Herspielern, die das Kämpfen vergessen haben.“
Kontinuierlicher Verfall der Spielkultur
Daniel Theweleit (FR) befürchtet Auswirkungen der Gladbacher Niederlage auf die Psyche: „Rangnick war auch eine Stunde nach dem Abpfiff noch wütend über den ersten Teil der Partie, in der die Borussia richtig guten Fußball spielte. Eine Halbzeit lang lief der Ball strukturiert und kontrolliert durchs Mittelfeld, vorne wirkten die Gladbacher Spitzen permanent gefährlich. ‚Ziemlich gut‘ fand Michael Frontzeck die Leistung seiner homogen wirkenden Mannschaft in der ersten Hälfte, doch nach der Pause begann ein kontinuierlicher Verfall der Spielkultur. Ab der 70. Minuten waren die Gladbacher nicht mehr in der Lage, den Ball über drei, vier Stationen in den eigenen Reihen zu halten. (…) Auf die letzte Phase des Spiels waren die Gäste dann nach vollbrachter Arbeit richtig stolz. Ein beeindruckender Siegeswille kam hier zum Vorschein. Doch der Sieg in Gladbach soll mehr eingebracht haben als nur die drei Punkte. Dies seien Momente, in denen eine Mannschaft Moral aufbaue, sagte Manager Schindelmeiser. Der gegenteilige Effekt könnte sich hingegen bei der Borussia einstellen. Es war nicht die erste Partie in dieser Saison, in der die Gladbacher nach gutem Spiel tief deprimiert vom Platz schlichen. Auch wenn der Fußball viel besser aussieht als in den vergangenen Jahren, die Quote der individuellen Fehler ist immer noch ausgesprochen hoch.“
Hannover wie bei „Dr. House“
Frank Heike (FAZ) findet nur eine Ausnahme in einem ansonsten von Fehlern geprägten Spiel zwischen Hannover und Dortmund: Hannovers zweiten Torwart Florian Fromlowitz. Drei große Paraden seien dem Mann gelungen, der eines der vielen deutschen Torwarttalente darstelle. Was er aber nur selten beweisen könne, weil im Normalfall Robert Enke vor ihm stehe. Während sein sonstiges Auftreten Frisur, Kleidung und Gestus auf dem Feld vom Genuss des Rampenlichts zeugten, seien seine Worte nach der sehr guten Leistung bescheiden gewesen: Er sei lediglich Enkes Stellvertreter und sein Job sei es, zu Null zu spielen. Was ihm nicht gelungen sei.
Matti Lieske spottet mit den Hannoveraner Fans über die neue Zusammenarbeit von Hannover 96 mit den örtlichen Krankenhäusern (Berliner Zeitung): „Neugeborene erhalten ein Info-Paket für eine Mitgliedschaft sowie ein ‚Begrüßungspaket‘, das einen Bodysuit mit Emblem enthält. Motto: ‚Ich bin 96′ – für ein Baby eine ziemlich forsche Behauptung. Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit einer frühkindlichen Bindung an einen Fußballverein, der langfristig gesehen eher unglücklich macht, sorgt die Wahl des Kooperationspartners auch sonst für Spott in der Stadt. Wäre es nicht sinnvoller, mit einer Reha-Einrichtung oder einer Orthopädieklinik zusammenzuarbeiten, wird gefragt, vielleicht unter dem Motto ‚Alte Knochen in jungen Körpern‘? Schließlich scheint Hannover 96, was Vielfalt und Mysteriösität der Erkrankungen seiner Profis angeht, der Fernsehserie ‚Dr. House‘ Konkurrenz machen zu wollen und ernsthaften Bedarf an einem vereinseigenen Viren-Profiler zu besitzen. Beim 1:1 gegen Dortmund fehlten acht Spieler wegen diverser Leiden, und dann erlitt auch noch Kapitän Arnold Bruggink einen Schwächeanfall am Mittelkreis und musste ausgewechselt werden.“
Kommentare
1 Kommentar zu “Zielführende Wut”
Dienstag, 22. September 2009 um 07:13
Zum Thema Koller:
Ich glaub gar nicht daran, dass die Fanaktion, die dann endgültig zur Entlassung führte, wirklich vom Großteil der Bochumer Fans mitgetragen wurde. Ich bin zwar nur VFL-Symphatisant und daher nur 3-4-Mal im Jahr auf der Ostkurve im (ehem.) Ruhrstadion, aber was mir jedesmal auffällt ist, wie groß der Unterschied ist zwischen Durchschnittsbesucher und den pickligen Vorbrüllern mit Megaphon, die gerne auf den Zaun klettern. Ich konnte Kollers Aufstellungen auch oft nicht nachvollziehen, aber es erschien mir doch, dass die „normalen“ Bochum-Fans an diese Themen mit wesentlich mehr Gelassenheit gehen als gerade in den Medien überall verbreitet.