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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Bewusstsein für die Komplexität des Spiels

Frank Baade | Freitag, 9. Oktober 2009 6 Kommentare

Die Nationalmannschaft vor Moskau: Kunstrasen als Dolchstoßlegende? – Löws Personalpolitik als eine seiner wenigen Schwächen, und warum der Bundestrainer nicht aussehen will wie Rudi Völler

Das Thema „Kunstrasen“ ist in der Presse allgegenwärtig, gleichwohl man sich vielerorts wundert, dass Jogi Löw den Untergrund zum einen nie als Alibi gelten lassen wollte, ihn zum anderen aber selbst häufig anspricht. Wer vom Unwort der Woche noch nicht genug hat, bekommt hier noch mal ausführliche Rückmeldung zu seinen Eigenschaften durch unsere Nationalmannschaftsrecken – wenn auch nur in Vertretung.

Planvolles Handeln beim Fokussieren bestimmter Medien auf dieses Thema wittert Peter Körte auch in der zweiten Hälfte seines bereits gestern zitierten Beitrags im FAZ-Blog: „Da wird der Moskauer Kunstrasen wie ein Kaffeesatz studiert, wobei offenbar außer ein paar Bloggern niemand aufgefallen ist, dass fünf russische Stammspieler regelmäßig auf Rasenplätzen im Ausland kicken und zum Beispiel in St. Petersburg auch kein Kunstrasen liegt, die meisten russischen Spieler also deutlich weniger Erfahrung mit dem Belag haben als jeder deutsche E-Jugend-Spieler.“ Ganz so, „als werde da schon im Vorfeld eine Art Dolchstoßlegende für den Fall konstruiert, dass es nichts wird mit der direkten Qualifikation, weil ja der Boulevard nicht wissen kann, ob man auch wirklich einen vermeintlichen Sündenbock serviert bekommt wie bei der Hertha, den man dann ohne Rücksicht auf jeden Sachverstand an den Pranger stellen kann, einen abstürzenden Adler oder auch einen Joachim Löw, den man, ähnlich wie Favre, nicht für den Übertrainer halten muss, der jedoch ein Maß an Fußballintelligenz und ein Bewusstsein für die Komplexität des Spiels verkörpert, welche dem Boulevard schon immer unerträglich war. Vielleicht sollte sich dort mal lieber jemand näher mit dem russischen Team beschäftigen, an dem es letztlich gelegen haben wird, wenn vorerst kein Südafrika-Ticket gelöst werden kann. Aber die haben leider lauter Namen, die schwer zu schreiben und noch schwerer auszusprechen sind.“

Gottvater der Positivrhetorik

Bei Spiegel Online bejaht Christoph Ruf grundsätzlich Löws Fähigkeiten wie auch Personalauswahl. Ruf sieht Kießling zwar als fähiger an als Cacau. Ersterer sei ein wertvoller Mannschaftsspieler mit Torriecher. „Löw wird wissen, warum er an seiner Stelle Cacau nominiert hat. Öffentlich erklärt hat er es nicht.“ Doch relativiert Ruf auch: „Man muss keine Skandalgeschichte aus der Löwschen Nominierungspraxis machen. Die meisten Kritiker, die heute die Ausbootung von Gomez oder Klose fordern, würden wohl einen zu 95 Prozent deckungsgleichen Kader nominieren.“ Das unnötige Auslegen einer Zeitbombe durch Löws seltsame Kommunikationsformen mahnt dann aber auch Ruf ab: „Im Falle eines Misserfolges dürfte Löw dennoch in die Kritik geraten. Seine Vorgehensweise, alle Spieler, die nur halbwegs in die Nähe einer Nominierung kommen könnten, in doch ziemlich hohen Tönen zu loben, ist riskant. Löw behauptet zwar, er sage es den Spielern deutlich, wenn er nicht auf sie zähle.“ Dabei könne man fast sicher sein, dass sich an den Einsatzplänen für die Gelobten nichts mehr ändern werde. „Es könnte dann das passieren, was auch anno 2006 unter Klinsmann, dem Gottvater der Positivrhetorik, passierte: Oliver Kahns Wut nach seiner Degradierung zum Ersatztorhüter konnte man damals nachvollziehen. Nicht, weil er besser als Lehmann gewesen wäre. Sondern weil er von vorneherein nur in der Klinsmannschen Rhetorik eine Chance hatte und das zu recht als unwürdig empfand. Löw kann vielleicht alles, was Klinsmann kann, er vermeidet jedoch die meisten von dessen Fehlern. Vielleicht sollte er sich noch deutlicher von dessen Rhetorik absetzen.“

Stefan Hermanns (Tagesspiegel) stützt Jogi Löws Nomierungen mit Argumenten: „Vor einem Monat sah es ähnlich aus: Das Volk rief nach Kießling, Löw ignorierte das Geschrei, und dann traf Gomez gegen Südafrika, Podolski gegen Aserbaidschan und Miroslav Klose gegen denselben Gegner in nur einer Halbzeit gleich zweimal. Von den acht Länderspieltoren dieser Saison haben die Stürmer fünf erzielt. Eine mehr als anständige Quote. (…) Gerade in seiner schwachen Phase hat Mario Gomez die Segnungen der Löwschen Personalpolitik genießen dürfen. Gomez wurde wieder und wieder eingeladen. Der Bundestrainer vertraue den Stürmern, sagt Gomez. Auch deshalb kann er der aktuellen Situation mit einer gewissen Leichtigkeit begegnen.“

Im Ergebnis offensiv

Carlos Ubina erinnert in der Stuttgarter Zeitung an einen in der Form überraschenden Sieg der deutschen Mannschaft: „Es muss schnell gehen. Im modernen Hochgeschwindigkeitsfußball dauert es immer häufiger nur fünf, sechs Sekunden von der Balleroberung am eigenen Strafraum bis zum Tor auf der anderen Seite. Und genau um diese kurze Zeitspanne, die bleibt, ehe sich der Gegner wieder formiert hat, kreisen Joachim Löws Gedanken. Seit Monaten schon. Einerseits, weil Löw den Gegner als eine der ‚besten Umschaltmannschaften überhaupt‘ bezeichnet – und Gegenmaßnahmen finden muss. Andererseits, weil er seinem Team genau dieses Umspringen von Abwehr auf Angriff eintrichtern will, das immer mehr zum Qualitätsmerkmal wird. (…) Seit der Begegnung mit Südafrika versucht sich die DFB-Formation am 4-3-3-System. Gegen den WM-Gastgeber erfolgreich und mit einem glänzenden Mesut Özil. Doch schon wenig später sah es beim Sieg gegen Aserbaidschan nur noch nach einem Stürmer aus. Vieles deutet darauf hin, dass Löw wieder die Sicherheitsvariante wählt.“ Man brauche eine starke Defensive, wolle aber auch auf den Flügeln selbst aktiv werden. Am wichtigsten sei jedoch die Umsetzung alles Geplanten, wie bei der EM 2008 gegen Portugal: „Da überraschte der Bundestrainer mit einer defensiv ausgerichteten Strategie – die im Ergebnis zum einem offensiven 3:2 führte.“

Vier Wochen in der Geisterbahn

In der Berliner Zeitung legt Matti Lieske dar, warum wenigstens ein Remis erreicht werden muss: „Noch nie ist eine deutsche Nationalmannschaft in einer WM-Qualifikation gescheitert. Der Druck ist dadurch nicht geringer geworden. Man denke nur an Teamchef Rudi Völler. Als der im Jahre 2001 in die Relegation gegen die Ukraine musste, sah er aus, als hätte er vier Wochen lang in einer Geisterbahn gehaust. Joachim Löw wirkt dagegen fast normal, als er in Mainz die Vorbereitung in Angriff nimmt.“ Seltsamerweise bringe Löw immer wieder selbst das Thema auf den Kunstrasen, obwohl er doch forderte, sich von diesem Aspekt zu lösen. „Wie sein Vorgänger Klinsmann ist Löw ein Perfektionist, für den jedes Detail, jede Kleinigkeit von ungeheurer Bedeutung ist. (…) Es ist vor allem das 2:1 aus dem Hinspiel, das die Hoffnungen des Bundestrainers nährt. Dessen Mannschaft hat zwar auch alle anderen Gruppenspiele, abgesehen vom 3:3 in Finnland, gewonnen, doch Löw weiß, dass diese nicht viel mehr als Pflichtaufgaben waren. 22 von 24 Punkten hat Löws Mannschaft in der Qualifikation geholt, dass dennoch der Gang in die Relegation droht, liegt an einer Dominanz zweier Teams, wie sie selten geworden ist im Zeitalter der Siebenergruppen. Die Unwägbarkeiten der Entscheidungsspiele gegen andere Gruppenzweite, bei denen es sich zum Beispiel um unangenehme alte Bekannte wie Portugal, Tschechien oder die Türkei handeln könnte, will Joachim Löw um jeden Preis vermeiden, schon, weil er nicht aussehen mag wie Rudi Völler. Mindestens ein Punkt in Moskau muss also her, und die Zuversicht, dass dieser tatsächlich ergattert werden kann, speist sich auch bei einem Erneuerer wie Joachim Löw aus der Vergangenheit.“ Man habe gezeigt, dass man zu hundert Prozent Qualität liefere, wenn es drauf ankommt, zitiert Lieske Bundestrainer Löw.

Kommentare

6 Kommentare zu “Bewusstsein für die Komplexität des Spiels”

  1. nedfuller
    Freitag, 9. Oktober 2009 um 18:45

    Klasse Zusammenstellung!

  2. Alex
    Freitag, 9. Oktober 2009 um 20:37

    Auch mir gefällt die Zusammenstellung, allerdings ist da ein Fehler: der Artikel auf SpOn wurde von Christoph Ruf, nicht von Daniel Ruf geschrieben.

  3. WM-Qualifikation Deutschland vs. Russland: Live-Blog am 10. Oktober 2009 beim Berlin-Pendler « Berlin-Pendler
    Freitag, 9. Oktober 2009 um 22:32

    […] fernen Russland Deutschrusse im Internet – Kaliningrad: Russlands Exklave in Fussball Ekstase indirekter freistoss – Bewusstsein für die Komplexität des Spiels WolKim.de – Fussball: Deutschland fiebert Russland entgegen TVsternchen – Fussball: […]

  4. Manfred
    Samstag, 10. Oktober 2009 um 06:10

    Hatte Matti Lieske möglicherweise das EM-Finale gegen Spanien vergessen, als er behauptete, ‚dass man zu hundert Prozent Qualität liefere, wenn es drauf ankommt‘?

  5. Frank Baade
    Samstag, 10. Oktober 2009 um 09:35

    Alex, Danke Ihnen für den Hinweis, natürlich Christoph Ruf und nicht Daniel Theweleit. Und auch nicht Christian Hoeneß.

    Manfred, die Aussage war immer noch ein Zitat von Löw, schlecht kenntlich gemacht von mir.

  6. Manfred
    Samstag, 10. Oktober 2009 um 14:36

    Was die ganze Sache nur noch schlimmer macht…

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