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Presseschau für den kritischen Fußballfreund

Deutsche Elf

Ein kreativer Geist

Frank Baade | Dienstag, 13. Oktober 2009 9 Kommentare

Nur wenige Positionen scheinen noch offen für die WM, Andreas Beck strebt ins Team, Oliver Bierhoff bucht und baut vor, Mesut Özil verhindert Trochowski und entlastet Ballack

Christian Kamp (FAZ) weist auf die trotz der überzeugenden Qualifikation verbliebenen Schwachstellen: „So stabil und taktisch reif sich die deutsche Elf in Russland präsentiert hatte: Ohne Sorgen geht Löw nicht in die Vorbereitung auf den Ernstfall Südafrika. Vor allem in der Abwehr gibt es in den kommenden Monaten noch einiges zu tun. Nur vier Gegentreffer in der bisherigen Qualifikation mögen zwar ein gutes Zwischenzeugnis sein – in Südafrika aber wird einiges mehr auf die deutsche Defensive zukommen. Dabei geht es vor allem um die Position rechts in der Viererkette, auf der Löws jüngster Einfall, Jerome Boateng, gleich bei seinem ersten Auftritt die schmerzliche Erfahrung von Überforderung – inklusive Platzverweis – machen musste. Gegen Finnland darf nun also der Hoffenheimer Beck versuchen, sich für 2010 in Position zu bringen.“

Özil hält, was Trochowski versprach

Sven Goldmann ergänzt im Tagesspiegel zu dieser Personalfrage: „Friedrichs Stärken liegen in der Defensive, die von Beck im Spiel nach vorn. Da von den Finnen kein bedingungsloser Sturmlauf zu erwarten steht, ist Beck eine logische Besetzung für diese strategisch wichtige Position, sie ist so schwer umkämpft wie keine andere in der deutschen Mannschaft. Dabei ist es eigentlich nur ein Stellvertreterkampf, was auch daran liegt, dass es in der Bundesliga keinen Linksverteidiger von internationalem Niveau gibt. Also muss der vielseitig zu verwendende Münchner Philipp Lahm im Nationalteam auf links wechseln. Das kommt Beck natürlich entgegen, denn an Lahm könnte er kaum vorbeiziehen, an Boateng und Friedrich schon. Wahrscheinlich ist Boateng der Einzige aus der Startelf, dessen Platz in den kommenden Wochen ernsthaft zur Disposition steht.“ René Adler müsse sich kaum um seinen Platz sorgen, vorne habe Miroslav Klose die besten Karten. „Der eigentliche Gewinner der vergangenen Monate aber ist Mesut Özil. Ein kreativer Geist, der nicht nur schön spielt, sondern auch Tore schießen kann oder vorbereiten, zum Beispiel das am Samstag in Moskau. Özil hält das, was Piotr Trochowski einmal versprochen hat. Der zählte vor gut einem Jahr im ersten Qualifikationsspiel zu den besten Deutschen, aber da ging es auch nicht gegen Russland, sondern nur gegen Liechtenstein. Am Mittwoch darf Trochowski mal wieder von Anfang an spielen, aber er wird wissen, dass das auch eine Verbeugung vor dem Hamburger Publikum ist.“

Grabplatte für die beerdigten Konflikte

Matti Lieske erinnert an die Zerwürfnisse, die es um Oliver Bierhoff gab, welche nun endgültig erledigt zu sein scheinen (Berliner Zeitung): „Es war die Zeit, als die Führungscrew gern den Eindruck eines homogenen Kollektivs erweckte. Als dann die wacklige Vorrunde mit der Niederlage gegen Kroatien eisigen Wind blies, erwies sich, dass ein Politbüro als Leitungsgremium nicht funktioniert. Die Konstruktion beschädigte die Autorität von Löw und rückte Bierhoff mehr in den Vordergrund, als ihm gut tat. Die Folgen waren herbe Kritik wegen der Art des Quartiers im Stile einer Wellness-Oase, ein andauernder Streit Bierhoffs mit Michael Ballack und ein giftiger Rüffel von Matthias Sammer wegen der Triumphfeier in Berlin. Bierhoff stand als Teammanager auf der Kippe. Gut ein Jahr später ist die Harmonie zurückgekehrt. Löw gibt wieder den unumschränkten Herrscher, Bierhoff hält sich bedeckt und kümmert sich um seine ureigenen Aufgaben als Manager. Die am Sonnabend gegen Russland perfekt gemachte WM-Teilnahme war die Grabplatte für alle schon vorher beerdigten Konflikte, und jeder, der seinen Anteil an einer schon vor dem Finnland-Match beeindruckenden Performance in der Qualifikation hatte, ist derzeit über jede Kritik erhaben. Spieler wie Ballack, Miroslav Klose, René Adler oder der fabelhafte Newcomer Mesut Özil, aber auch Löw und Bierhoff.“

Tischtennis, Billard, Spielautomaten

Lieske weiß auch, wie es im Hotel in Südafrika zugehen wird: „Ob die Mannschaft Weltmeister wird, steht in den Sternen, doch vermutlich können die Spieler danach problemlos mit Timo Boll bei der Tischtennis-WM antreten. Die Spieler werden ihr Hotel wegen der Sicherheitslage kaum verlassen können, es wird früh dunkel im südafrikanischen Winter, und kalt, so dass Tage am Pool und Abende auf der Terrasse wie in Ascona ausfallen. Was bleibt, benannte Trochowski aus seiner EM-Erfahrung: ‚Tischtennis, Billard, Spielautomaten.‘ Bierhoff wird sich etwas einfallen lassen müssen, um zu verhindern, dass sich die Spieler nach zwei Wochen gegenseitig den Schädel einschlagen. Oder ihm.“

Mut, Selbstbewusstsein, Klinsmann

Anders als zunächst kokettiert hat Jogi Löw nun doch nicht direkt nach dem Sieg in Moskau an der Aufstellung fürs Finnland-Spiel herumgetüftelt. Im Interview mit Lars Gartenschläger und Andreas Laux gibt er in der Welt zu:

Welt Online: Nach dem Spiel waren Sie wenig euphorisch. Sie saßen auf der Ersatzbank und schrieben Notizen auf einen Zettel. Welche?
Löw: Es waren ein paar Worte, wie Mut, Selbstbewusstsein, Stärke. Das waren Dinge, die die Mannschaft gut umgesetzt hat. Dies wollte ich festhalten.“

Befragt zu den Bedingungen einer Weiterarbeit beim DFB antwortet Löw:

Löw: Das Allerwichtigste für mich ist eine Philosophie, die von jedem im DFB mitgetragen werden muss. Ein Trainingszentrum wäre wünschenswert und im Sinne des Verbandes ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die nächsten Jahrzehnte. Aber daran arbeiten wir ja bereits intensiv.“

Welche Philosophie das sein sollte, erfährt man leider nicht. Mesut Özils Stärke brächte mit sich, dass Ballack nun entlastet werde:

Welt Online: Vor allem Michael Ballack, der etwas zurückgezogener spielt, profitiert von Özil. Wie beurteilen Sie die Rolle Ihres Kapitäns?
Löw: Es kommt ihm gelegen, dass er mehr von hinten heraus agieren kann und das Spiel vor sich hat. Er kommt viel besser in die Zweikämpfe und wird so für den Gegner noch gefährlicher. Ich muss ganz klar sagen: Michael hat sich in den vergangenen Monaten noch einmal enorm gesteigert. Er ist ein wahrer Leader und Kapitän, weil er viel kommunikativer geworden ist und ständig versucht voranzugehen.“

Kombination zweier Vorteile

Bei Spiegel Online lobt Christoph Biermann sowohl die positive Entwicklung des Fußballnachwuchses als auch Jogi Löws Personalmischung: „Der deutsche Fußball erlebt gerade die Kombination eines gemachten mit einem gegebenen Vorteil. Angesichts einer Bevölkerungszahl von 80 Millionen Menschen gibt es automatisch Vorteile gegenüber kleineren Nationen, die zahlenmäßig geringere Chancen haben, überragende Fußballer zu finden.“ Die Niederlande hätten gezeigt, wie man dies ausgleicht: durch exquisite Talentförderung. „Wird ähnlich gute Arbeit in einem bevölkerungsreichen Land gemacht, ist diese Fußballnation zwar nicht auf Jahre unschlagbar, aber zumindest sind die Aussichten gut. Erfreulich ist aber nicht nur, dass man hierzulande nicht mehr auf irgendwelche goldenen Generationen hoffen muss. Die fußballerische Ausbildung in Deutschland geht längst über Kraft- und Willensschulung hinaus. Die Talente von heute sind auch taktisch gut ausgebildet, und Platz ist auch für leichtfüßige Ballkünstler wie Mesut Özil, die im extrem verdichteten Spiel von heute durch individuelle Klasse für echte Überraschungen sorgen können.“

Angesichts der Vielzahl der nachrückenden Talente schließt Biermann: „Die Rahmenbedingungen stimmen also und richtig wäre es deshalb auch, dass Joachim Löw über die WM 2010 hinaus als Nationaltrainer arbeitet. Am Ende aller Debatten über die Richtigkeit seiner Nominierungen oder Nicht-Nominierungen gibt es keinen Zweifel daran, dass er bei den Personalentscheidungen fast immer richtig lag. Löw hat dem Nachwuchs die nötigen Chancen gegeben, ohne einem Talentwahn zu verfallen.“

Kommentare

9 Kommentare zu “Ein kreativer Geist”

  1. heinzkamke
    Dienstag, 13. Oktober 2009 um 16:50

    Nur mal so am Rande: mir hat Trochowski definitiv nie irgendwas versprochen. Und ich frage mich seit Jahren, welches Versprechen der Bundestrainer ihm entlockt haben könnte.

  2. erz
    Dienstag, 13. Oktober 2009 um 18:46

    Özil in einem Atemzug mit Trochowski zu nennen, unglaublich.

    Sagen wir mal so, selbst Michi B. macht auf seine alten Tage den Wasserträger. Das macht er sicher nicht für ein dahergelaufenes Talent.

    Schaut euch doch einfach mal an, wie Özil sich auf dem Platz bewegt: Der spielt Fußball wie andere Leute Max Payne – mit dauernd aktivierter Bullet-Time.

  3. laberlaib
    Dienstag, 13. Oktober 2009 um 22:24

    [quote]
    Der spielt Fußball wie andere Leute Max Payne – mit dauernd aktivierter Bullet-Time.
    [/quote]
    @erz: Den Vergleich merk ich mir!

  4. Hans Wurscht
    Mittwoch, 14. Oktober 2009 um 02:02

    Sven Goldmanns (Tagesspiegel) Meinung zu Özil und Trochowski geht in Ordnung, aber Boateng als überfordert und Kandidaten für die Abschussliste auf Rechtsaußen zu bezeichnen ist ja wohl Unfug. Schon der geneigte spox.com-Leser stellt folgendes fest:

    1. Boateng spielt normal Innenverteidigung (oft mit Zweikampfquoten nahe der 100%).

    2. Seine Beorderung in die Außenverteidigung war seiner exzellenten Anlagen geschuldet, die er bestätigt hat. Nicht viele Spieler sind auf ihnen fremden Positionen sofort heimisch. Außer Lahm und Boateng vielleicht.

    3. Bei den zwei Situationen in denen er eine Gelbe kassiert hat musste er die Grätsche zücken, sonst wäre der Spieler durch gewesen. Das defensive Mittelfeld hätte früher foulen müssen. Das Luftloch im Mittelkreis geht als Außenverteidiger in Ordnung.

    4. Friedrich war deutlich überforderter als Boateng, siehe Elfer – Boateng kam ohne aus weil er einfach zur richtigen Zeit reagiert hat. Wenn Friedrich der defensiv stärkere sein soll grins‘ ich mir einen, schon weil ich das Spiel 1860 – Berlin live gesehen hab‘ (6:3 für ‚60 n.E., 2:2 nach 120 Minuten).

    Fazit: Boateng ist nicht nur ein Mann für die Zukunft, sondern sogar ein Spitzenkandidat für die Innenverteidigung, neben Mertesacker. Dann haben wir eine der besten IVs der Welt.

    Und ich sage das als Bayern- und 60-Fan, nicht als HSVler!

  5. schubbiaschwilli
    Mittwoch, 14. Oktober 2009 um 09:09

    Gude!

    Wobei man es in der Außenverteidigung da nicht unbedingt einfach hat – Ich möchte da nicht mit einem Poldi oder Schweini vor mir spielen, die teilweise blind und planlos nach vorne rennen (wenn nicht das Aufbauspiel durch ‚auf den Ball treten‘ sowieso boykottiert, nein sabotiert wird), nur um mit großen Gesten stehenzubleiben, nachdem sie dem Gegenspieler aus 5m den Ball in die Füße gekickt haben.
    Aber es ist schon richtig, dass Boateng hinging, und es zum Foul kam (er war halt gegen den Russen einen Schritt zu langsam, was aber kein Wunder ist, wenn mal die beiden vergleicht), Mertesacker hätte (als nächster) erst im 16er eingreifen können – Mit so einem Einsatz wäre Ballack im Finale 2002 nicht gesperrt gewesen, und auch nicht, wenn andere eingewechselte Rumpelfussballer den Ball im Angriff nicht verstolpert hätten – Aber auch das wurde ja letzens abschließend geklärt.

    Gruß Schubbiaschwilli

  6. Marvin Nash
    Donnerstag, 15. Oktober 2009 um 07:35

    Also, dass Podolski als gelernter Stürmer sich zwar reinhängt, aber defensiv nicht so viel leisten kann, ist klar. Dafür hat er mit Lahm einen der besten LVs der Welt hinter sich.

    Aber Schweinsteiger ist defensiv sehr stark, gewinnt viele wichtige Zweikämpfe und hat Boateng auch oft aus der Patsche geholfen. Bei Bayern war es doch letzte Saison und die davor ähnlich. Da wurde gesagt, Lahm wäre nicht mehr so gut drauf. In Wahrheit hatte er einfach nur Ribery vor sich, deshalb war die Seite anfällig. Weil Ribery nicht mannschaftsdienlich und taktisch eine Null ist.

    Über die rechte Seite war man viel weniger anfällig und da hat Schweini mit Lell „zusammengearebeitet“.

    Schweinsteiger geht auch nicht sinnlos nach vorne. Es gibt kaum Spieler, die so gut abschätzen können, wann risikoreiches Spiel und wann der Sicherheitspass gefragt ist. Was Spielintelligenz und taktisches Verständnis angeht, ist Schweinsteiger weltklasse.

  7. erz
    Freitag, 16. Oktober 2009 um 13:41

    „Schweinsteiger weltklasse“. Wer reinigt mir jetzt die Tastatur?

    Ich mag seine Spielweise nicht, er ist zu langsam. In der Antizipation von Situationen und im Sprint. Deswegen kann er trotzdem solide Sicherheitspässe spielen und wenn er diszipliniert die taktischen Vorgaben einhält, ist er ein solider Wasserträger, der Löcher zulaufen kann und Bälle weiterverteilen oder auch mal schießen.

    Man tut ihm keinen Gefallen, seine Langsamkeit auf der Außenbahn als entscheidendes Defizit zu entblößen – wenn er zentraler spielt, muss er nicht den dämlichen Schweini-Shuffle ansetzen, vor dem chinesische Kreisligaspieler sich nicht mehr fürchten, sondern kann sich von mehreren Passwegen einen aussuchen. Wenn er dafür Zeit bekommt, dann werden die Pässe sogar recht brauchbar.

    Weltklasse? Bei so einem Standard kann ich ja auch jede solide deutsche Torwartleistung gleich als Weltklasse bezeichnen. Oh…

  8. Marvin Nash
    Montag, 19. Oktober 2009 um 09:23

    „Was Spielintelligenz und taktisches Verständnis angeht, ist Schweinsteiger weltklasse.“
    So lautete mein Satz. Das bedeutet nicht, dass Schweinsteiger weltklasse ist. Es ging um diese beiden Punkte.

    Trotzdem ist er nahe dran an diesem Prädikat. Wenn alles normal läuft, wird er Rekordnationalspieler und er hat als Leistungsträger großen Anteil am Erfolg der Nationalmannschaft die letzten Jahre. Neben Lahm, Mertesacker, Klose und Ballack eigentlich der einzige unumstrittene Spieler. Aber der Prophet im eigenen Land zählt halt nicht. In wichtigen Spielen, wie jetzt gegen Russland zeigt sich dann, wer wirklich auf internationalem Topniveau spielt und seine Leistung abruft. Das sind genau die gerade genannten Spieler.

    Deine Äußerungen erinnern mich an den Fußball-Pöbel, der sein Wissen aus der Sportbild hat und Zusammenfassungen im TV sieht und geil auf Rib&Rob ist, weil die so schön spektakulär spielen.

    Was ein Schweinsteiger für einen Wert für die Mannschaft hat, sieht man bei Bayern immer, sobald er mal fehlt. Nicht umsonst hatte er bei verschiedenen Trainern die letzten Jahre letztlich immer seinen Stammplatz. Ein Fachmann wie van Gaal nennt ihn nicht einfach so einen unumstrittenen Stammspieler und Leistungsträger und gerade bei van Gaal sind wirklich nur sehr wenige Spieler gesetzt.

    Aber Du bist sicher auch so einer, der damals gedacht hat, dass Ballacks Weggang bei Bayern so einfach aufzufangen wäre, weil er ja nicht mehr ein Spektakel gezeigt hat wie bei Leverkusen. Was dann kam, hat man gesehen: „Verlierer-Cup“.

    Vielleicht willst Du auch einen Spieler wie Kießling in die Nationalmannschaft reden oder denkst, dass Gomez stärker als Klose ist. Sind nämlich oft die gleichen Leute, die diese Dinge denken. Die Leute, die keine Ahnung vom Fußball haben, weil sie nur Lesen, Lesen, Lesen. Und das am besten in Boulevard-Medien wie Kicker und Sportbild.

  9. erz
    Dienstag, 20. Oktober 2009 um 15:13

    Nur dass ich das richtig verstehe: Weil ich Schweinsteiger die Weltklasse (explizit übrigens auch im Spielverständnis) abspreche, gehöre ich zum Fußballpöbel?

    Ich lese übrigens wirklich recht viel. Da hast du aus meinen Äußerungen tatsächlich etwas über meine Person herausfinden können. Um mal ein lobendes Wort über deinen Sachverstand zu finden.

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